Veteranen in der Rush-hour: Paris um 1920

Dem Verfasser dieses Oldtimerblogs liegen Vorkriegswagen aller Marken am Herzen. Das nicht nur wegen der Fülle an Herstellern und Typen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – es sind auch die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umbrüche jener Zeit, die faszinieren.

Wer Ende des 19. Jahrhunderts in Europa geboren wurde und das Glück hatte, alt zu werden, erlebte Weltkriege, Revolutionen, Krisen und Wohlstandsgewinne, die in unserer angeblich schnellebigen Zeit ihresgleichen suchen.

Die Beschäftigung mit der Frühgeschichte des Automobils transportiert einen direkt in eine hektische, fortschrittshungrige und spannungsreiche Zeit, der wir trotz aller Katastrophen letztlich die Grundlage unseres bequemen Daseins verdanken.

Wer nun meint, es sei vor knapp 100 Jahren in den Städten im Vergleich zum heutigen mörderischen 40h-Büroalltag beschaulich zugegangen, wird folgende Ansichtskarte aus Paris um 1920 möglicherweise überraschend finden:

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© Ansichtskarte aus Paris der 1920er Jahre aus Sammlung Michael Schlenger

Da sind mitten in der Stadt auf vier Spuren zwischen sechs- bis zehnstöckigen Häusern zahllose PKW und Omnibusse in dichtem Verkehr unterwegs. 

Aufgenommen wurde diese Situation um 1920 auf dem Boulevard Poissonniere, einer der Verkehrsachsen auf der „Rive Droite“ nördlich der Seine, die unter König Ludwig XIV. entlang dem Verlauf der einstigen Stadtmauer angelegt wurden.

Wir wollen nicht jedes der zahllosen Fahrzeuge auf dieser Aufnahme identifizieren, doch einige Wagen schauen wir uns näher an.

Beginnen wir mit folgendem Bildausschnitt:

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In der Mitte der sich im Hintergrund verlierenden Fahrzeugkolonne fallen zwei versetzt hintereinander fahrende Wagen auf. Im Unterschied zum Flachkühlermodell vorne links tragen sie vorne und zur Seite schräg abfallende Motorhauben, ein Kühlergrill ist nicht zu sehen.

Dieses markante Detail fand sich in der Frühzeit des Automobils bei etlichen Fahrzeugen, vor allem französischer Hersteller. Nach dem 1. Weltkrieg hielt nur noch Renault an dieser eigentümlichen Lösung fest.  Dabei sitzt der Kühler hinter dem Motor und die Luftzufuhr erfolgt durch seitliche Schlitze in der Haube.

Wie erstaunlich lange die Wagen von Renault diese archaisch anmutende Frontpartie aufwiesen, wird sich bei der Besprechung diverser Modelle in nächster Zeit zeigen.

Werfen wir nun einen Blick auf ein anderes – weit interessanteres – Gefährt im Vordergrund dieser Ansichtskarte, die ihren Detailreichtum der Verwendung einer großformatigen Plattenkamera verdankt:

paris_ak_bellanger-freres_ausschnitt Der Wagen mit der bulligen Kühlermaske, der links vorne durch’s Bild huscht, ist eine veritable Rarität – ein Modell der Firma Bellanger Frères.

Ein ausführliches Porträt dieser nur Spezialisten bekannten, Mitte der 1920er Jahre untergegangenen Marke gibt es auf diesem Blog bereits (hier). Daher soll an dieser Stelle nicht näher auf die Fahrzeuge des Herstellers eingegangen werden.

Bellanger ist nur ein Beispiel dafür, dass die Markenwelt der Vorkriegszeit unerschöpflich ist. Allein in Frankreich sind über 1.000 eigenständige Autohersteller dokumentiert.

Auf die Abbildung eines Wagens dieser vielen Nischenhersteller nach fast 100 Jahren zu stoßen, stellt einen Glücksfall dar. Solche Funde machen die markenübergreifeden Beschäftigung mit raren Vorkriegsautos für den historisch Interessierten ungleich spannender als die Vertiefung in Varianten ab 1945 gebauter Großserienwagen.

Zum Schluss noch ein Blick auf einen anderen Ausschnitt dieser großartigen Aufnahme aus den frühen 1920er Jahren:

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Hier stehen nicht die Automobile im Vordergrund, sondern die mächtigen gusseisernen Gaslaternen, die in der Mitte des Boulevards aufgereiht sind.

Die gestalterische Opulenz und technische Qualität der Ausführung dieser an sich rein funktionellen Objekte machen nachdenklich. Kann es sein, dass sich der in unseren Tagen so oft betonte Wohlstand hierzulande auf messbare Größen wie Durchschnittseinkommen, Zahl der Urlaubstage und Hausarztdichte beschränkt?

Vermutlich wären Planer aus beispielsweise der deutschen Hauptstadt heute nicht imstande, auch nur annähernd die Infrastruktur von Paris in der Zwischenkriegszeit zu schaffen. Gleichzeitig vermag man nicht, unhaltbare soziale Mißstände in den Vorstädten zu beseitigen und geltendes Recht durchzusetzen.

Sicher, die Luft in den Innenstädten ist – unabhängig von der von interessierter Seite befeuerten Feinstaubhysterie – weit besser als einst. Auch haben es Fußgänger heute leichter, sicher die Straße zu überqueren.

Doch nicht zufällig zieht es die Besucher intakt gebliebener europäischer Großstädte wie Paris dorthin, wo die gestalterischen und organisatorischen Leistungen einer grandiosen Vergangenheit zu bewundern sind.

Die herrlichen Boulevards, großzügigen Plätze und majestätischen Gebäude sind noch alle da. Nur die Autos auf den Straßen sind arg prosaisch geworden…

3 Gedanken zu „Veteranen in der Rush-hour: Paris um 1920

  1. In Monaco in der Sammlung des Fürst ist mir so ein markantes Messing Gesicht vor Jahren schon aufgefallen … Toll ! LGR

    Rolf Ackermann Gartenstr. 19 35428 Langgöns 06447 6610 Von meinem iPhone gesendet

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