München vor 80 Jahren: Cabriotreffen im Regen

Die Beschäftigung mit Vorkriegsautos auf historischen Fotografien hat viele reizvolle Seiten. Dazu gehört, dass man die Fahrzeuge aus der Perspektive ihrer einstigen Nutzer im Alltagseinsatz sieht.

Während die überlebenden Fahrzeuge heute hingebungsvoll gepflegt und meist nur schonend eingesetzt werden, sah das einst ganz anders aus. Von wenigen Luxusmobilen abgesehen waren Autos in erster Linie Fortbewegungsmittel, die bei jedem Wetter zu funktionieren hatten.

Und so kommt es, dass man auf folgender Originalaufnahme gleich mehrere Gefährte bei Regenwetter entdeckt, die heute nur bei Sonnenschein gefahren würden:

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© Straßenszene in München um 1936; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ins Auge fällt als Erstes die markante Frontpartie eines DKW – von Ahnungslosen gern auch als Auto-Union oder noch besser als Audi oder Horch angesprochen.

So bescheiden die Motorisierung der frontgetriebenen Zweitakter aus Sachsen auch anmutet, waren diese Autos doch immer kleine Schmuckstücke. Dieser Blog deckt übrigens die gesamte Palette an Vorkriegs-DKW ab, darunter auch die weniger populären Hecktriebler (Bildergalerie).

Der Zufall will es, dass unser Foto sogar eine der schönsten Ausführungen der DKW-Frontantriebswagen zeigt. Darauf kommt man aber nur bei näherem Hinsehen:

dkw_f5_luxus-cabrio_und_opel_2_liter_munchen_ausschnitt1Die Form der Vorderschutzbleche und der Kühlermaske deuten auf einen DKW F4 oder 5 hin (Bauzeit: 1934-38). Der kantige Verlauf des oberen Frontscheibenrahmens verrät aber, dass dies ein Cabriolet des Typs F5 sein muss. Den F4 gab es nur als Cabrio-Limousine, die oberhalb der Scheibe einen stabilen Querholm aufwies.

Wer genau hinsieht, erkennt am hinteren Ende des Verdecks die cabriotypische Sturmstange. Wir können daher sicher sein, dass dieses Fahrzeug eines der begehrten DKW F5 Front Luxus-Cabriolets war, die bei Horch in Zwickau eine herrliche Ganzstahlkarosserie erhielten. Nicht zufällig wurde diese Variante im Volksmund als “Der kleine Horch” bezeichnet.

Der Wagen hinter dem DKW ist eine Cabrio-Limousine von Opel, wahrscheinlich ein 2-Liter-Typ mit 6 Zylindern, wie er ab 1934 gebaut wurde.

Liebhaber des Offenfahrens werden außerdem den Tourenwagen im Hintergrund rechts bemerken. Dieser Viertürer dürfte entweder ebenfalls ein Opel oder ein amerikanischer Wagen der 1920er sein. Die seitlichen Steckscheiben sind nicht montiert, was bei Regenwetter ein hübsches Frischlufterlebnis garantiert.

Den besten Kontakt mit der Luftfeuchtigkeit ermöglichte allerdings das Motorrad im Vordergrund. Wer aufgepasst hat, wird die Fahrerbrille in der Hand des jungen Manns links im Bild registriert haben.

Er wird also nicht in den schönen DKW einsteigen und auch nicht in den zweiten 6-Zylinder-Opel auf der gegenüberliegenden anderen Seite des Platzes, sondern muss sich mit dem Zweirad begnügen:

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Doch schon der Besitz eines Motorrads war in der Vorkriegszeit etwas Besonderes. Die meisten “Volksgenossen” hierzulande mussten sich mit Fahrrad oder (Straßen-)Bahn begnügen, wenn sie nicht ohnehin zu Fuß unterwegs waren.

Wenn nicht alles täuscht, handelt es sich bei dem Zweirad auf dem Foto um eine Zündapp des Typs K200 mit Kastenrahmen – im Unterschied zu den großen Zündapps heute ein immer noch recht günstiges Motorrad mit sehr markanter Optik.

Zum Schluss noch kurz zum Aufnahmeort: Das Bild entstand einst auf dem Rathausplatz in München, wobei man sich den eindrucksvollen Rathausbau linker Hand vorstellen muss. Trotz der weiträumigen Zerstörungen durch alliierte Bombenangriffe hat der Platz nur wenig von seinem ursprünglichen Reiz eingebüßt.

München war nach 1945 die einzige deutsche Großstadt, die ihr über Jahrhunderte gewachsenes Stadtbild weitgehend wiederhergestellt hat. Die Münchener sind dafür von “fortschrittlichen” Architekten, die ihr Handwerk meist unter dem NS-Regime gelernt haben, einst als rückständig verspottet worden.

Heute ist München die deutsche Großstadt mit dem intaktesten historischen Zentrum und einer beinahe südlich anmutenden Lebensqualität – nur die Autos sind dort leider ebenso langweilig wie überall…

Vor 90 Jahren: Ein 75 PS-Roadster von Buick

Beim Stichwort Vorkriegsautos werden hierzulande gern einige Vorurteile heruntergebetet: zu lahm, zuwenig Platz, zu schwache Bremsen, zu teuer usw…

Nun, wenn man mit heutigen Komfort”bedürfnissen” an historische Gefährte herangeht, ist ja schon der fehlende Internetanschluss ein Ausschlusskriterium. Für so veranlagte Zeitgenossen gibt es jede Menge moderne Autos.

Wer dagegen das Einparken ohne Servolenkung sportlich sieht und auch sonst nacherleben will, was unsere Altvorderen einst klaglos bewältigten, hat mit Vorkriegswagen ein Fahrvergnügen, das heutigen Autos nur noch angedichtet wird.

Man braucht keine 400 PS, um auf der Landstraße mit Sonntagsfahrern mitzuhalten, für die Tempo 70 eine magische Grenze darzustellen scheint. Auch innerorts genügen 40 PS, um dem unvermeidlichen Rentner-Benz auf die Pelle zu rücken.

So gesehen kann man schon mit den meist mäßig motorisierten Vorkriegsmobilen deutscher Hersteller glücklich werden.

Wer aber die auf dem Land erlaubte Geschwindigkeit auch einmal ausfahren und vielleicht an der Saalburg-Steigung bei Bad Homburg das Tempo halten möchte, der ist mit einem Vorkriegswagen aus US-Produktion wie diesem hier gut beraten:

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© Buick Master Six Roadster; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses schöne Foto, das einst bei tiefstehender Sonne entstanden ist, zeigt ein Gefährt der 1920er Jahre, das Leistung satt, großzügige Dimensionen und Vierradbremsen vereint – zum Gegenwert eines gut ausgestatteten VW Golf.

Obendrein gibt es reichlich Chrom, lackierte Speichenräder und Zweifarblackierung – das boten einst in bezahlbarer Form nur amerikanische Fabrikate. Die Rede ist hier keineswegs von gehobenen Marken wie Chrysler oder Packard. Der Wagen auf unserem Foto ist ein banaler Buick.

buick_master_six_1926_frontpartieDer markante Schwung der Kühlermaske, der sich in der Form der Scheinwerfer wiederholt, ist typisch für den Buick Master Six, wie er von 1926-28 gebaut wurde. 

Unter der Haube arbeitete ein 4,5 Liter großer Reihensechszylinder mit kopfgesteuerten Ventilen, der souveräne 75 PS (später 80 PS) leistete. Die Serienausstattung umfasste Details wie Heizung, Zeituhr und Zigarettenanzünder.

Die hier abgebildete Roadster-Version bot außerdem hinter der Sitzbank ein separates Fach für eine Golftasche oder ähnliche Sportutensilien, was den gehobenen Anspruch des Wagens unterstreicht.

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Der Besitzer schaut zwar etwas grimmig drein, scheint sich aber extra für diese Aufnahme in Positur gestellt zu haben. Der Strohhut und der Anzug aus leichtem Stoff verweisen auf einen warmen Tag – leider wissen wir nicht, wo das Foto entstanden ist.

Der Aufnahmeort könnte durchaus in Europa liegen, wo Buick in den 1920er Jahren ein Vertriebsnetz hatte. Von 1927 bis 1931 wurden Buicks sogar in Deutschland gebaut und verkauften sich ausgezeichnet (Beispiel).

Mit dem Master Six schaffte Buick übrigens einen Produktionsrekord: Knapp 267.000 Exemplare wurden 1926 gefertigt – erst 1940 wurde diese Marke übertroffen. Davon haben genügend überlebt, um heutigen Enthusiasten einen bezahlbaren Einstieg in die Welt leistungsfähiger Vorkriegswagen zu ermöglichen.

Während der Prestigewert eines Buick vor dem Krieg eher begrenzt war, kann man sich mit solch einem Roadster heute der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen sicher sein. Zweireiher und Fliege müssen dazu nicht mehr sein, aber unser Foto zeigt, dass auch ein moderner Buick-Fahrer mit einem Mindestmaß an Stil gut fährt…

London to Brighton 1946 – Rennen fällt leider aus…

Heute ist der 5. November 2016. Morgen bei Sonnenaufgang starten die ersten von rund 400 Veteranenautos bis Baujahr 1905 im Londoner Hyde-Park zur 120. Auflage der 60-Meilen-Fahrt von der britischen Hauptstadt ins Seebad Brighton.

Die älteste Autoausfahrt der Welt feiert die Aufhebung des “Red Flag Act” im Jahr 1896, der das Höchsttempo selbstfahrender Straßenfahrzeuge auf Schrittgeschwindigkeit begrenzt hatte.

Nur in Kriegszeiten fiel der London to “Brighton Veteran Car Run”aus. Doch halt, ganz stimmt das nicht. Denn nach dem 2. Weltkrieg lag die englische Wirtschaft derart am Boden, dass die Fahrt aus Treibstoffmangel bis 1947 ausfallen musste.

Man muss sich das vorstellen: England gehörte zu den Kriegsgewinnern – dank Eintritts der USA 1941 – litt aber bis Mitte der 1950er Jahre unter sozialistischer Plan- und Mangelwirtschaft. Im vom Krieg verheerten Deutschland fand das erste Motorsportrennen im Juli 1946 statt…

Eine Weile mussten die Briten also noch auf die Tradition der Veteranenfahrt von London nach Brighton verzichten. Doch den traditionellen “Seaside Trip” ließen sich die Herrschaften auf folgendem Foto von 1946 offenbar nicht nehmen:

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© Brighton 1946; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wir können davon ausgehen, dass die beiden schick gekleideten Ladies und der Nadelstreifenträger der “besseren Gesellschaft” aus London angehörten, die nicht auf Lebensmittelkarten und Benzinzuteilungen angewiesen waren.

Sie haben es sich in Liegestühlen an der “seafront” in Brighton bequem gemacht und genießen die Sonne. Zu welcher Jahreszeit die Aufnahme entstand, wissen wir nicht. Hier ist alles Mögliche denkbar, denn Engländerinnen frieren noch lange nicht, wenn junge Männer hierzulande sogenannte Funktionsjacken und Schal anlegen…

Übrigens ist im Hintergrund rechts eine 3-Fenster-Limousine des Herstellers Standard zu sehen. In so einem schlichten Vorkriegsgefährt sind unsere wohlsituierten Liegestuhlinsassen aber sicher nicht angereist.

Zu der Reisegruppe aus der britischen Metropole gehörten außerdem diese beiden Herrschaften:

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© Brighton 1946; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Im Zweireiher mit Fliege und Einstecktuch wird man heute niemanden mehr am Strand von Brighton antreffen. Der Pullunder unter dem Anzug ist “very british”. Die Regeln formaler Kleidung kennen und im Detail gezielt dagegen verstoßen, das hat Stil und wird in England nach wie vor beherrscht.

Heute setzen sich hierzulande Leute in kurzen Hosen und Baseballmütze in Vorkriegsautos und merken nicht, dass sie damit bloß amerikanische Unterschichtenkultur imitieren. Als ob es in Europa nichts Eigenes gäbe…

Anyway, wir erfreuen uns an den beiden historischen Aufnahmen, die einen sonnenbeschienenen, glücklichen Moment vor 70 Jahren bewahren.

Auf dem zweiten Foto sieht man übrigens im Hintergrund einen Vauxhall 10-4. Auch dieser einst populäre Wagen war für Londoner Banker und Anwälte klar unter Niveau. Doch beim Genuss der “seafront” in Brighton waren alle Besucher gleich.

Nur auf das Eintreffen der Veteranen aus London am “Madeira Drive” in Brighton musste man 1946 verzichten. Erst 1948 wurde die Fahrt wieder veranstaltet und seither jedes Jahr. Das ist Tradition, und da haben uns die Briten viel voraus.

Wanderer W10 mit rarem Cabrio-Aufbau

Wer sich einmal auf die Welt der Vorkriegsautos einlässt, stellt irgendwann fest, dass ein Menschenleben vermutlich kaum reicht, um die unglaubliche Vielfalt an Fahrzeugen zu erfassen, die es in der Frühzeit des Automobils einst gab.

Was davon heute in Museen und in privater Sammlerhand noch vorhanden ist, stellt nur einen Ausschnitt einer untergegangenen Welt dar. Eine bessere Vorstellung von der enormen Vielfalt an Fabrikaten und individuellen Aufbauten vermitteln historische Fotografien – genau das ist der Zweck dieses Blog.

Heute schauen wir uns zwei zusammengehörige Aufnahmen an, die auf einer Urlaubsreise vor 85 Jahren entstanden sind – im Juni 1931. Die erste lässt zunächst wenig Spektakuläres erkennen:

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© Wanderer W10/II Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Qualität des Fotos lässt zwar zu wünschen übrig – offenbar ist in die Kamera unbeabsichtigt Licht eingedrungen und hat zu einer unharmonischen Belichtung geführt. Das Motiv hat aber seinen Reiz, hier verstand jemand etwas von Bildaufbau.

Der Wagen lässt sich aus dieser Perspektive gut identifizieren – es ist ein Wanderer W10, wie er in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gebaut wurde. Vom Vorgänger W8 5/15 bzw. 5/20 PS, der hier bereits besprochen wurde, unterschied sich das Modell durch den stärkeren Motor (6/30 bzw. 8/40 PS) und die größeren Abmessungen.

Auf folgendem Bildausschnitt kann man zwei untrügliche Erkennungsmerkmale des Wanderer W10 erkennen:

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© Wanderer W10/II Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Im Unterschied zum Vorgänger besaß der Wanderer W10 Linkslenkung und eine Verbindungsstange zwischen den Scheinwerfern. Das markante Wanderer-Emblem auf der Kühlermaske war hier außerdem blau und nicht mehr rot unterlegt – hier natürlich nicht zu erkennen.

Ein weiterer Unterschied waren Form und Zahl der Luftschlitze in der Motorhaube. Da sie hier nicht zu sehen sind, ist auch unklar, ob es sich um die 30 oder 40 PS-Variante des Wanderer W 10 handelt.

Die Motorisierung dieses hochwertigen Mittelklassewagens soll an dieser Stelle auch gar nicht interessieren, weit spannender ist der Aufbau. Dazu wenden wir uns nun der Heckpartie des Wagens zu, die Überraschendes preisgibt:

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Der Wanderer hatte ganz offensichtlich einen Reifendefekt. Wie in den 1920er Jahren nicht selten, führte man zwei Reserveräder mit sich, das ersparte einem auf längeren Fahrten das aufwendige Flicken unterwegs.

Der gut gebräunte Herr im karierten Anzug scheint gerade die letzten Radbolzen am aufgebockten rechten Hinterrad einzudrehen, während die junge Dame neben ihm den Radschlüssel bereithält:

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Neben dem Hinterrad sieht man übrigens die Kurbel des Wagenhebers hervorschauen, davon liegt eine Handluftpumpe. Diese Utensilien scheint man im großen Kofferraum mitgeführt zu haben, auf dem das Verdeck aufliegt.

Schaut man näher hin, wird einem klar, dass man es mit einem zweitürigen Cabriolet zu tun hat, keinem Tourenwagen, wie er – neben der Limousine – ab Werk angeboten wurde. Eine solche sportlich wirkende Karosserie mit großzügigem Gepäckfach musste eine Sonderanfertigung sein!

Tatsächlich findet sich in der Literatur (Wanderer-Automobile von Thomas Erdmann/Gerd G. Westermann, Delius-Klasing 2011) eine Abbildung genau eines solchen Aufbaus, der von der Karosseriefirma Zschau in Leipzig hergestellt wurde.

Dieser spezielle Aufbau bot lediglich Platz für drei Insassen, weshalb wir annehmen müssen, dass das Foto vom Passagier eines Begleitfahrzeugs gemacht wurde. Dass die beiden Aufnahmen tatsächlich dasselbe Auto zeigen, beweist das Nummernschild, das auf eine Zulassung im Raum Dresden verweist.

Das ist eine schöne Entdeckung, die deutlich macht, dass es unter der Wanderer-Kundschaft anspruchsvolle Leute gab, denen die Werksaufbauten zu brav waren. Nur eines gibt Rätsel auf:

Was treibt die patente Dame mit dem feschen Hut auf der anderen Seite des Wanderer? Vorschläge sind willkommen…

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Unterschätzter Klassiker der 1920er Jahre: Fiat 509

Verfolgt man bei der Beschäftigung mit dem alten Blech einen “antiquarischen” Ansatz wie auf diesem Blog, kommt man zu ganz anderen Ergebnissen als die hiesige Oldtimerpresse, der zum Thema Vorkriegsautos oft nicht viel mehr einfällt als Bentley, Mercedes und MG.

Geht man einfach vom überlieferten Fotomaterial aus, eröffnet sich eine unendlich facettenreiche Welt mit Marken, Typen und Modellen, wie man sie in einschlägigen Klassikermagazinen selten bis nie zu Gesicht bekommt. Der Verfasser darf sich dieses Urteil erlauben, hat er doch schon als Schüler die Motor-Klassik regelmäßig am Bahnhofskiosk erstanden, die einst so manche Zugverspätung erträglich gestaltete…

Dennoch sollte es drei Jahrzehnte dauern, bis er auf ein Volumenmodell wie den Fiat 503 bzw. 509 stieß, der in den 1920er Jahren auch im deutschsprachigen Raum stark verbreitet war. Die Turiner Marke landete mit diesem Modell ihren zweiten großen Erfolg nach dem Fiat 501.

Dazu trug nicht nur der kompakte drehfreudige Motor mit Ventilsteuerung über eine obenliegende Nockenwelle bei. Auch die klassisch-schlichte Form, die von anderen italienischen Marken wie Ansaldo, Ceirano und Lancia inspiriert war, traf den Geschmack der Zeitgenossen:

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© Fiat 509 (evtl. auch 503); Originalfotos aus Sammlung Michael Schlenger

Auf dieser schönen Aufnahme wird ein Fiat 509 oder 503 – genau lässt sich das nicht sagen – von einer Familie bewundert, die einen Ausflug im Wienerwald zum “Schöpfl-Schutzhaus” gemacht hat, wie umseitig vermerkt ist.

Was es wohl mit dem improvisiert angebrachten Nummernschild auf sich hat? Jedenfalls kann man hier die Vorderansicht des meist als Tourer verkauften Modells gut wie sonst selten studieren. Schön zu erkennen ist, wie sich die klassische Giebelform der Kühlermaske in der Form der Motorhaube fortsetzt.

Porträts des Fiat 503 bzw. 509 finden sich auf diesem Blog bereits hier und hier. Daher soll an dieser Stelle nicht näher auf technische Einzelheiten des Serienmodells eingegangen werden.

Stattdessen wenden wir uns einer “frisierten” Version des Fiat 509 zu. Solche konnten Sportfahrer in unterschiedlichen Versionen kaufen, außerdem gab es vom Werk eingesetzte, nochmals schärfere Ausführungen wie diese hier:

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© Fiat 509 S.M.; Werksfoto von Fiat aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses originale Werksfoto von Fiat zeigt sehr wahrscheinlich das Modell 509 SM “Targa Florio” in seiner ganzen Pracht. Dabei handelte es sich um eine auf mindestestens 35 PS leistungsgesteigerte Rennversion des zivilen 509.

Wer über die Leistung lächelt, dem sei gesagt, dass 35 PS aus knapp 1 Liter Hubraum vor 90 Jahren einen hervorragenden Wert darstellten. Noch 30 Jahre später galt der erste Porsche 356 mit 40 PS aus 1,1 Liter Hubraum ebenfalls als Sportwagen.

Im Unterschied zu zeitgenössischen Sportwagenherstellern, die den einfacheren Weg der Hubraumvergrößerung wählten, entschied sich Fiat für eine Bearbeitung des Zylinderkopfs zwecks Optimierung des Gaswechsels. Giftige kleinvolumige Motoren sollten bis in die 1970er Jahre die Spezialität der Turiner bleiben.

Bei einem Straßenrennen wie der Targa Florio auf Sizilien, die meist aus kurvenreichen Abschnitten bestand, war ein wenige hundert Kilogramm wiegender Sportwagen mit tiefem Schwerpunkt auch mit moderater Leistung konkurrenzfähig und die heißgemachten Fiats galten in ihrer Klasse als “echte Waffe”.

Eine originale Sportversion des Fiat 509 wurde übrigens während der Classic Days 2016 auf Schloss Dyck vom Auktionshaus Coys angeboten (Bildbericht). Nach einiger Verzögerung (November 2016) sind die Ergebnisse der Versteigerung publik gemacht worden – offenbar hat der rassige Fiat keinen neuen Besitzer gefunden.

Vielleicht wäre das Ergebnis anders ausgefallen, würden die einschlägigen Oldtimer-Gazetten hierzulande nicht ständig die üblichen Spekulationsobjekte anpreisen, sondern breiter aus der unerschöpflichen Welt der Vorkriegssportwagen berichten…

Großfamilie im Horch 8 Typ 350 Pullman-Cabriolet

Zu den reizvollen Seiten der Beschäftigung mit Vorkriegsautos, wie sie auf diesem Oldtimerblog gepflegt wird, gehört der Kontrast zur Gegenwart, der auf alten Abbildungen der Fahrzeuge deutlich wird.

Das gilt nicht nur für die Fahrzeuge, die eine faszinierend andere Formensprache aufweisen, in die sich mancher vom strukturlosen zeitgenössischen “Design” Geschädigte erst hineinfinden muss.

Auch die Aufnahmesituation mitsamt einstigen Besitzern und Insassen kann Anlass zu mancherlei Betrachtung geben. Genau deshalb werden hier bevorzugt alte Privatfotos gezeigt, die eine untergegangene Welt wiedererstehen lassen.

Das heutige Beispiel zeigt nicht nur ein besonders spektakuläres Fahrzeug, es gibt auch dem Begriff der Familienkutsche seinen ursprünglichen Sinn zurück:

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© Horch 8, Typ 350; Originalfoto aus Sammlung: Michael Schlenger

In diesem Prachtauto – zum genauen Typ kommen wir noch – befinden sich acht Personen und man hat nicht den Eindruck, sie säßen in einer Sardinenbüchse.

In modernen “SUVs”, die dem umbauten Raum nach vergleichbar sind, werden heutzutage ein, zwei Kinder von der Schule abgeholt – auch bei schönstem Wetter, versteht sich. Der Verfasser kann das täglich in seinem beschaulichen Heimatort beobachten, wo das Gymnasium bestens mit Bahn, Bus oder Fahrrad erreichbar ist.

Ein mit einer Großfamilie vollbesetztes Auto wird man heute selten finden – schon deshalb, weil die meisten Wagen heute auf den Rückbänken keinen ausreichenden Platz bieten. Wer meint, auf dem Foto sei eine Art Ausflugsbus zu sehen, irrt: Das abgebildete Gefährt misst 5 Meter – das sind nur 15 cm mehr als ein VW Sharan. Das Geheimnis liegt in der Art des Aufbaus – dazu später mehr.

Schauen wir erst einmal, wie sich Marke und Typ identifizieren lassen:

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Vorne an der Kühlermaske ist schemenhaft ein gekröntes “H” zu sehen – seit 1924 das Emblem der sächsischen Luxusmarke Horch. An der Verbindungsstange zwischen den Scheinwerfern ist eine “8” in einem Kreis angebracht – ein Horch Achtzylinder!

Das seitlich auf die Motorhaube aufgesetzte Blech mit den Luftschlitzen verrät, dass es ein recht früher Horch 8 sein muss. Deutschlands erster Achtzylinderwagen war 1927 präsentiert worden und war anfänglich formal noch wenig raffiniert.

Eines der ersten Exemplare (Typ 305) haben wir hier kürzlich vorgestellt; dort ist auch einiges zum damals hochmodernen Antrieb zu lesen. Der Wagen auf unserem Foto kann aber nicht mehr zu dieser allerersten Serie des Horch 8 gehören, denn: Die Kotflügel sind vorne gerundet, nicht abgekantet, und die Positionslampen sitzen auf den Schutzblechen, nicht mehr am Ende der Motorhaube.

Außerdem verfügt der Wagen über die erst 1929 eingeführte Kühlerfigur, eine geflügelte Weltkugel. Damit kommt nur der über das Jahr 1928 hinaus gebaute Typ 350 in Frage. Ein Typ 375 kann es noch nicht sein, da dieser bereits eine dreiteilige Stoßstange besaß und zudem in die Haube gepresste Luftschlitze aufwies.

Gegenüber dem Ausgangstyp 305 mit 65 PS standen beim Typ 350 bereits 80 PS zur Verfügung, die allerdings auch dringend gebraucht wurden: Je nach Karosserie wog der Wagen über 2 Tonnen! Die Marke von 100 km/h erreichte er knapp.

Abschließend noch ein näherer Blick auf den Aufbau:

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Die sechs Fenster waren zwar herunterkurbelbar, die senkrechten Holme blieben aber stehen. Dies ist typisch für ein sogenanntes Pullman-Cabriolet, das drei bequeme Sitzreihen bot. Dabei befand sich die Rückbank hinter der Hinterachse.

Platz für einen Koffer war nicht vorhanden, weshalb ein solcher Wagen als Urlaubsgefährt nicht in Betracht kam. Es war vielmehr ein repräsentatives Ausflugsfahrzeug für Leute, die neben viel Geld auch viele Kinder hatten.

Wer in die Gesichter der Insassen schaut, gewinnt den Eindruck, dass bis auf den Beifahrer alle eng miteinander verwandt waren. Genaueres -auch zum Ort der Aufnahme wissen wir leider nicht.

Übrigens: Das Standardwerk zu Horch-Automobilen von Peter Kirchberg und Jürgen Pönisch (Delius-Klasing, 2011) nennt im Anhang zwar diverse Hersteller solcher Pullman-Cabrio-Aufbauten für den Typ 375, aber keinen für den Typ 350.

Möglicherweise zeigt unser Foto ein bisher unbekanntes Exemplar eines Horch 8 des Typs 350, Baujahr 1929.