Ein Auto mit vielen Gesichtern: NSU-Fiat 1100

„Dies alles fuhr auf unseren Straßen“, so lautet der Titel eines Autobuchs von Paul Simsa, das der einstige U-Boot-Fahrer, Philosoph und Journalist im Jahr 1969 veröffentlichte – dem Geburtsjahr des Verfassers dieses Blogs.

Es wäre auch ein passender Titel für dieses Online-Projekt. Denn Ziel ist eine umfassende Dokumentation der Vorkriegsautos, die einst im deutschsprachigen Raum unterwegs waren – und zwar anhand zeitgenössischer Originalfotos. 

Da macht man immer wieder erstaunliche Entdeckungen, die einem bei der Lektüre gedruckter Oldtimer-Magazine hierzulande meist verwehrt bleiben.

Wann hat man dort zuletzt etwa von den Fiats der Typen 501, 503, 509, 512 oder 525 gelesen, die in der Zwischenkriegszeit in deutschen Landen verbreitet waren?

Speziell mit dem rund 90.000mal gebauten 1 Liter-Typ 509 hatte sich Fiat einen guten Namen in der Einsteigerklasse gemacht. So findet man den 20 PS-Wagen mit seiner klassisch gezeichneten Frontpartie immer wieder in deutschen Fotoalben:

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Fiat 509; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Später wurden Vorkriegs-Fiats sogar in Deutschland gefertigt, im alten NSU-Automobilwerk in Heilbronn. Dabei handelte es sich um beachtliche Stückzahlen – rund 20.000 Exemplare verschiedener Typen verließen bis 1941 das Heilbronner Werk.

Zuvor waren bereits in überschaubarer Zahl bei den Karosseriewerken Weinsberg Chassis diverser Fiat-Typen mit Aufbauten versehen worden.

Ob der folgende Fiat 508 Balilla „Spider“ der frühen 1930er Jahre eines dieser in Deutschland eingekleideten Autos war, wissen wir nicht –  überlebt hat der flott gezeichnete Fiat jedenfalls hierzulande, wie das Besatzungskennzeichen verrät:

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Fiat 508 Balilla „Spider“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch das 1934 vorgestellte Nachfolgemodell Fiat 508 „Nuova Balilla“ ist uns hier bereits begegnet. Es sollte der erste Fiat werden, der in größeren Zahlen in Deutschland gebaut werden sollte – mit rasch zunehmendem Anteil heimischer Fertigung.

Das formal ansprechende und trotz des kleinen Motors markentypisch robuste Fahrzeug erfreute sich einiger Beliebtheit.

Wie im Fall der einst verbreiteten Fiats der 1920er Jahre haben sich zahlreiche Fotos erhalten, die das in Deutschland als Fiat 1000 vermarktete Modell in entspannten Situationen wie dieser zeigen:

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Fiat/NSU 1000; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das war nun ein ziemlich langer – hoffentlich nicht langweiliger – Vorspann. Doch die hierzulande wenig bekannten Fiat-Vorkriegstypen liegen dem Verfasser am Herzen, es sind attraktive Wagen, die relativ günstig zu haben sind – wenn man einen findet.

Jetzt aber zum eigentlichen Star des heutigen Blog-Eintrags, dem Fiat 1100, der ab 1938 als Nachfolger des Fiat 508 Nuova Balilla bzw. NSU/Fiat 1000 angeboten wurde.

Der Wagen war gründlich modernisiert worden: Die Leistung des kleinen Vierzylinders mit hängenden Ventilen betrug nun 32 PS, die Vorderräder waren einzeln aufgehängt. Mit 105 km/h Spitzentempo waren auch Reisen über die Autobahn in den Süden drin:

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Diese schöne Aufnahme ist im Sommer 1939 auf einer Urlaubsreise irgendwo in Italien entstanden – erkennt jemand die Ansicht?

Der Fiat 1100 ist hier bei tiefstehender Sonne von seiner Schokoladenseite aufgenommen worden – die windschnittig gestaltete Kühlerpartie kommt gut zur Geltung.

Der Verfasser wüsste keinen zeitgenössischen Wagen eines deutschen Herstellers in dieser Hubraumklasse, der so modern und zugleich harmonisch gestaltet war.

Kein Wunder, dass man sich neben so einem attraktiven Gefährt gern ablichten ließ.

Fiat_1100 Kennzeichen Wien Winter 1938_Galerie

Fiat 1100; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dass man bald andere Sorgen haben würde, war den meisten „Volksgenossen“ nicht bewusst, auch der junge Luftwaffensoldat in Ausgehuniform dürfte nicht geahnt haben, was auf ihn zukommt.

Entstanden ist obige Aufnahme im Winter 1938 in Österreich – das Kennzeichen verweist auf eine Zulassung des Fiat in Wien.

Hier kommt die behutsame Annäherung an die Stromlinie sehr gut zur Geltung, die Fiat beim Typ 1500 noch perfektionieren sollte.

Auch wenn folgende Aufnahme vom Ausschnitt her alles andere als ideal ist, kommen die fließenden Formen des Fiat 1100 hier gut zur Geltung:

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NSU/Fiat 1100; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Sehr reizvoll ist hier auch die Aufnahmesituation:

Auf der Motorhaube liegt ein Blumenstrauß, darüber erahnt man hinter der Windschutzscheibe das Profil einer Dame mit Hut, die sich der Beifahrerin mit Kostüm und Kopftuch zuwendet, um ihren Reisekoffer auf der Rückbank unterzubringen.

Man muss schon genau hinsehen, aber das lohnt sich bei diesen wunderbaren Zeugnissen einer untergegangenen Welt. Und davon haben wir noch ein weiteres.

Doch zuvor – soviel historische Genauigkeit muss sein – ein anderes Dokument, das eine der vielen Facetten des Fiat/NSU 1100 der Vorkriegszeit vermittelt:

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Fiat/NSU 1100; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sehen wir wieder einen Fiat/NSU 1100, doch die Tarnscheinwerfer verraten, dass zum Aufnahmezeitpunkt Krieg herrscht. Der Zufall will es, dass es erneut ein Luftwaffensoldat ist, der allerdings diesmal auf dem Auto posiert.

Der Winkel auf dem Ärmel weist ihn als Gefreiten auf – noch ein Wehrpflichtiger, der bloße Verfügungsmasse im Ringen der Mächtigen während des 2. Weltkriegs war.

Es ist leider so: Bei der Beschäftigung mit Vorkriegsautos kommt man an den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht vorbei. Doch reizt immer wieder die Frage: Was, wenn die Geschichte eine andere Wendung genommen hätte?

Wieviel Heiterkeit sehen wir auf folgender zauberhaften Aufnahme eines Fiat 1100, die 1938/39 irgendwo in Schlesien entstand:

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NSU/Fiat 1100; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ein NSU/Fiat 1100 in reizvoller Zweifarblackierung – aber Hand auf’s Herz: Hier ist das Auto doch bloße Staffage.

Wir wissen nicht, wer einst vor rund 80 Jahren dieses nahezu vollkommene Foto schoss – es ist wirklich eine Privataufnahme, kein Werbebild.

Da hatte jemand in jeder Hinsicht vollendeten Geschmack: ein modernes Auto, eine flotte junge Dame im schicken Anzug mit Krawatte, nur der mittlere Knopf der Jacke zugeknöpft, die Hände kokett auf die Scheinwerfer gestützt.

Das will so gar nicht dem Klischee jener Zeit entsprechen – viele Dinge waren eben nicht so eindeutig, wie uns die Schwarzweiß-Fotos im nachhinein suggerieren.

Vielleicht hilft eine Aufnahme wie diese, nicht jedes Dokument aus dem Deutschland der 1930er Jahre reflexartig aus politischer Perspektive zu bewerten.

Dass junge Deutsche der Vorkriegsszene – sei es in Bezug auf Autos, Motorräder oder Flugzeuge – heute skeptischer gegenüberstehen als junge Briten, Franzosen oder Niederländer, hat auch damit zu tun, dass das Geschehen vor 1945 hierzulande umso mehr als „vermintes Gelände“ gilt, je länger es zurückliegt.

Dabei können wir heute mit dem Abstand von zwei Generationen Lehren aus der Vergangenheit ziehen und dennoch positive Anknüpfungspunkte zur Vorkriegsgeschichte unseres Landes finden, die nicht ausschließlich durch das Hakenkreuz stigmatisiert ist.

Im 21. Jahrhundert können wir die Schöpfungen der 1930er Jahre mit kritischem Abstand betrachten, dürfen aber auch rückhaltlos das genießen, was verdient, genossen zu werden.

Das mag die Botschaft einer weiteren Aufnahme sein, welche die uns schon bekannte flotte Fiat-Besitzerin ganz ohne Auto zeigt:

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Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

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2 Gedanken zu „Ein Auto mit vielen Gesichtern: NSU-Fiat 1100

  1. Steyr hat vor dem Krieg eigene Autos in 2 Linien und zahlreichen Varianten gebaut. Steyr 50/100 bzw 200/ 120 bzw 220 vertraten die modernen Formen während die Linie 30/430/530/630 die konservative Seite darstellten. So war kein Platz Fiat in Lizenz zu bauen. Ein Lizenzbau mit Opel endet nach ein 900 Stück. Nach dem Krieg als die Leitung in Steyr keine Zukunft für den Pkw-Bau sah und der Bedarf nach Personenwagen stieg schloß man ein Assemblingabkommen mit Fiat und verkaufte Fiats mit geringem österreichischen Anteil als Steyr -Fiat. Ausnahme war der Steyr-Fiat 1800/2000 der einen österreichischen Motor erhielt. Die Kooperation Steyr-Puchmit Fiat ist wiederum ein eigenes Kapitel.
    T.Billicsich

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