Tradition und Moderne in Harmonie: Wanderer W 21/22

Die Sehnsucht nach dem Vorkriegsautomobil speist sich aus vielen Quellen. Dabei ist es keineswegs so – wie man bisweilen hört – , dass die Autos einst unverwechselbar waren. Das trifft gerade auf die frühen Modelle bis Ende der 1920er Jahre oft nicht zu.

Der letzte Eintrag in diesem Blog für Vorkriegsoldtimer war ein gutes Beispiel dafür – denn nur auf dem Umweg über eine andere Aufnahme ließ sich ein Auto der frühen 1920er Jahre als Benz 10/30 PS Tourenwagen ansprechen.

Nein, der Verfasser sieht den Reiz der Vorkriegsautos nicht zuletzt darin, dass ihre Formensprache jahrhundertealten Traditionen verhaftet war. Noch in den 1930er Jahren waren PKW daher optisch keine Störfaktoren in unseren Altstädten.

Dieser Ausschnitt aus einer historischen Postkarte, die den Marktplatz in Wernigerode zeigt, mag dies illustrieren:

Dkw_Adler_Opel_6_Ford_V8_Wernigerode_Galerie

Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Vor dem 500-jährigen Rathaus der sehenswerten Kleinstadt in Sachsen-Anhalt stehen vier Automobile, wie sie typischer für die 1930er Jahre kaum sein könnten  – ein DKW, ein Adler, ein Opel und ein Ford – aufgereiht nach Größe und Leistung.

Um diese Wagen soll es aber hier gar nicht gehen, sie sollen nur die Harmonie von traditioneller Formgebung und Technik illustrieren, die vor dem radikalen Einbruch moderner Gestaltungsprinzipien noch möglich war.

Der eigentliche Gegenstand der heutigen Betrachtung verbirgt sich auf einer Aufnahme, die vielleicht noch eindrucksvoller zeigt, wie sich das Automobil einst in eine über Jahrhunderte gewachsene Umwelt einfügte.

Bemerkenswert ist schon einmal, dass die Anwesenheit von Autos auf folgender Aufnahme zunächst gar nicht auffällt – so übermächtig ist der Eindruck des traditionellen Bauernhofs bei Hohwacht an der Ostsee:

Wanderer_W21-22_DKW_Hohewacht_Galerie

Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Auch auf die Gefahr hin, sich bei Angehörigen der Architektenzunft unbeliebt zu machen, vertritt der Verfasser die Ansicht, dass heute kaum jemand imstande ist, ein derartig großzügiges Gebäude so gefällig und dauerhaft zu gestalten.

Wer auch immer vor rund 80 Jahren dieses Foto machte, hatte Sinn für die malerische Szene und nahm die vor dem herrlichen Bau abgestellten Autos wohl kaum war.

Das ländliche Idyll mit Ententeich im Vordergrund vermochten die paar Wagen jedenfalls nicht zu stören, sonst wäre das Foto kaum entstanden.

Respektieren wir die Magie des hier festgehaltenen Augenblicks und nähern uns behutsam dem Gegenstand des heutigen Blog-Eintrags:

Wanderer_W21-22_DKW_Hohewacht_Ausschnitt1

Links und in der Mitte sehen wir wahrscheinlich Wagen der sächsischen Marke DKW, deren frontgetriebene Zweitakter zu den erfolgreichsten Typen im Deutschland der 1930er Jahre gehörten.

Uns interessiert aber das danebenstehende Vierfenster-Cabriolet mit Zweifarblackierung und zwei Reihen Luftschlitzen in der Motorhaube. 

Bei Lesern dieses Blogs und Kennern der deutschen Vorkriegsautohistorie wird gleich der Groschen fallen – dass muss ein Wanderer des 6-Zylindertyps W21 oder W22 sein:

Wanderer_W21_und W22_Reklame_Galerie

Wanderer W21/22, Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Wer auf der vorangegangenen Ausschnittsvergößerung genau hinsieht, wird sogar die Silhouette der typischen Kühlerfigur des Wanderer erkennen.

Die beiden 1933 vorgestellten Sechszylindertypen mit 35 bzw. 40 PS sollten vor allem in formaler Hinsicht Modernität ausstrahlen. Dazu erhielten sie eine ursprünglich für einen Horch–Achtzylinder vorgesehene dynamisch wirkende Kühlergestaltung.

Wir finden die mit breiten, v-förmig nach oben strebenden Lamellen ausgestattete Kühlerpartie beispielsweise auf dieser Aufnahme aus dem Hamburger Raum:

Wanderer_W21_oder_22_Galerie

Wanderer W21 oder W22; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Das Fehlen der vier Auto-Union-Ringe auf dem Kühler verweist übrigens auf einen Wanderer W21 oder W22 des Jahres 1933. 

Beide Typen verfügten über hydraulische Vierradbremsen, besaßen aber ein vibrationsanfälliges Fahrwerk – wohl die einzige Schwäche der Konstruktion.

Was die Bauweise angeht, verfügte die Karosserie des Wanderer W21 /22 noch über einen traditionellen Rahmen, der mit Blech beplankt wurde. Bei der Stückzahl von knapp 10.000 Exemplaren lohnte sich der Aufwand für eine eigenständige Ganzstahlkarosserie nicht.

So übernahm das Horch-Werk in Zwickau Gestaltung und Bau der Limousinen – wie übrigens für die anderen Marken im Auto Union-Verbund auch.

Das 4-Fenster-Cabriolet auf unserem Foto wurde aber von Gläser in Dresden gefertigt:

Wanderer_W21-22_DKW_Hohewacht_Ausschnitt2 Dieser klassische Aufbau war ab Werk nur für den Wanderer W22 verfügbar.

Ob „unser“ Wagen über die als Zubehör lieferbaren Drahtspeichenräder verfügte, lässt sich auf dem Ausschnitt nicht eindeutig sagen. Das Schema der Zweifarblackierung der Karosserie entspricht jedenfalls den Angaben in der Literatur.

Dort findet sich auch die Stückzahl des Cabriolets – gut 2.000 Exemplare wurden von 1933 bis 1935 gebaut (vgl. Erdmann/Westermann: Wanderer Automobile, Verlag Delius-Klasing, 2011).

Separate Fahrgestelle wurden vom Wanderer W21/22 übrigens nicht geliefert, sodass wir andere Karosseriebauer ausschließen können.

Nehmen wir Abschied von der ländlichen Szene und dem schönen Wanderer W22 Cabrio, das einst an einem sonnigen Tag im Schatten eines der typischen mächtigen Bauernhäuser in Norddeutschland abgestellt wurde.

Machen wir stattdessen ein Sprung in die Moderne – an eine DEROP-Tankstelle:

Wanderer_W21-22_Tankstelle_Sachsen_Galerie

Wanderer W22; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf dem Originalabzug kann man auf der Karte mit dem DEROP-Tankstellennetz links oben die Ortsnamen Heidenau, Pirna und Schandau sowie Bautzen und Zittau lesen – dies erlaubt die Lokalisierung in Sachsen.

DEROP stand übrigens für Deutsche Vertriebsgesellschaft für russische Oel-Produkte, die Benzin aus der Sowjetunion an rund 2.000 Tankstellen im Deutschen Reich verkaufte. 1935 wurde die DEROP von der ARAL-Mutter BV übernommen.

Ob die alten Markenschilder dann gleich entfernt wurden, ist dem Verfasser nicht bekannt. Falls ja, könnten wir auch den Entstehungszeitpunkt des Fotos auf spätestens 1935 eingrenzen.

Interessanter ist aber der Wanderer in der Ausführung als Sechsfenster-Limousine, der hier Halt gemacht hat. Auch dieser Aufbau war nur beim W22 8/40 PS verfügbar, der schwächere W 21 wurde mit vier Fenstern oder als Cabrio-Limousine angeboten.

Gut erkennbar ist hier wiederum die dynamische Frontpartie mit den markanten Kühlerlamellen, die es so nur 1933 gab und natürlich die Haube mit den in zwei  Reihen angeordneten Luftschlitzen.

Mehr als 2.500 dieser Wagen wurden im Horch-Werk sowie aus Kapazitätsgründen auch von Hornig in Meerane und Reutter in Stuttgart gefertigt. 5.250 Reichsmark waren dafür hinzulegen, das Gläser-Cabrio war mit 6.250 Mark noch teurer.

So schön diese Wanderer Sechszylinder-Typen der frühen 1930er Jahre auch waren, blieb ihnen nur eine kurze Blüte vergönnt. Denn ab 1934 eroberte der weit billigere 2 Liter-Sechszylinder von Opel im Sturm den Markt.

Damit schließt sich der Kreis, denn genau solch ein Modell ist auf der eingangs gezeigten Postkarte aus Wernigerode im Vordergrund zu sehen:

Opel_2_Liter_Wernigerode

Im Vergleich zum eleganten Wanderer wirkt der Opel – auf den der Bub am Brunnen einen neugierigen Blick zu werfen scheint -weit sachlicher und behäbiger. Dabei konnte der Rüsselsheimer in punkto Fahrleistungen durchaus mit dem Sachsen halten.

In der Karosserieform kündigt sich das Ende der Epoche mit sinnlich geschwungenen Schutzblechen an, auch auf das edle Mehrfarbschema des Wanderer musste der Opel-Käufer verzichten.

Von hier bis zur Moderne im Karosseriebau war es nicht mehr weit. Nur fünf Jahre später entstanden in den USA die ersten Pontonkarosserien. Damit begann eine neue Zeit, die ihre eigenen Glanzseiten bot, doch die Vorkriegswelt mit ihrer ungebrochenen formalen Tradition war ein für allemal passé…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Tradition und Moderne in Harmonie: Wanderer W 21/22

  1. Großartig, danke für den Hinweis – dachte mir etwas in der Richtung und hoffte auf Aufklärung von sach- und ortskundiger Seite!

  2. Hallo,
    der Wanderer W21 oder W22 aus Hamburg war zu einem Ausflug unterwegs zu einem der technischen Wunderwerke seiner Zeit und steht vor dem Schiffshebewerk Niederfinow.
    Gruß,
    KD

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