Keine 30 Jahre nach der Motorkutsche: Stoewer R-180

Hand auf’s Herz: Wer würde einen knapp 30 Jahre alten Audi, BMW oder Mercedes ernsthaft als „Oldtimer“ oder gar „Veteranenwagen“ bezeichnen?

Zum einen sind noch etliche dieser Typen im Alltag unterwegs  – vor allem der schier unzerstörbare 190er Mercedes – zum anderen sind diese Autos formal wie technisch durchaus modern und sind auch von Ungeübten problemlos zu fahren.

In der Frühzeit des Automobils wäre das undenkbar gewesen. Anfangs innerhalb von fünf, später binnen zehn Jahren, vollzogen sich atemberaubende Entwicklungssprünge, an denen tausende Hersteller in Europa und in den USA mitwirkten.

Nebenbei: Von einem nennenswerten Beitrag des Staats zu dieser rasanten Innovationshistorie ist nichts bekannt – außer vielleicht der Erfindung des Scheibenwischers durch den automobilbegeisterten Prinz Heinrich von Preußen

Hier sehen wir diesen vielseitigen Bruder von Kaiser Wilhelm II. im beherzten Einsatz bei der Herkomer Konkurrenz 1906:

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Prinz Heinrich von Preußen auf Benz-Wagen beim Bergrennen auf dem Semmerring (Herkomer Konkurrenz 1906), Abbildung aus Braunbecks Sportlexikon von 1910

Prinz Heinrich von Preußen wird uns im heutigen Blogeintrag nochmals begegnen.

Dabei geht es gar nicht um ihn, sondern darum, wie sich an der Lebensgeschichte eines Brüderpaars aus Stettin fast die gesamte Automobilhistorie von den Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre nachverfolgen lässt.

Die Rede ist von den Gebrüdern Stoewer, die 1899 ihr erstes Automobil präsentierten – auf der „Internationalen Motorwagen-Ausstellung“ in Berlin.

Einer der beiden – Bernhard Stoewer – sollte die Geschicke der Firma bis 1934 maßgeblich lenken, vielleicht ein einzigartiges Beispiel für persönliche Kontinuität in einer Zeit rasanten technischen Fortschritts und radikaler gesellschaftlicher Umbrüche.

Keine zehn Jahre nach der Vorstellung des ersten Motorwagens lancierte die Firma Stoewer folgende Reklame zum Beginn des Jahres 1908:

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Stoewer-Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Hier wurde der neu entwickelte Kleinwagen des Typs G4 mit 1,6 Liter-Motor beworben, dessen Leistung bis Produktionsende auf 16 PS stieg. Über 1.000 Stück konnte Stoewer davon absetzen – für deutsche Verhältnisse ein beachtlicher Erfolg.

Zwar ist der Wagen in der Anzeige nur stilisiert wiedergegeben. Zutreffend ist aber das abrupte Aufeinandertreffen der Motorhaube auf die senkrechte Schottwand, hinter der das Fahrerabteil begann.

Diese Konstellation ist typisch für die allermeisten deutschen Serienwagen bis 1909. Doch schon im Folgejahr setzte sich auf breiter Front ein windschnittiger Übergang von der Motorhaube zum Schottblech durch – der Windlauf.

Das Vorbild für dieses Karosseriedetail lieferten Sportausführungen, die bei den Prinz-Heinrich-Fahrten ab 1908 zum Einsatz kamen. 

Wenige Jahre später war der Windlauf Standard bei praktisch allen deutschen Automobilherstellern, auch bei Stoewer. Hier haben wir den Stand der Stettiner Firma auf der Berliner Automobilausstellung vor dem 1. Weltkrieg:

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Stoewer-Stand bei der Berliner Automobilausstellung vor 1914; Abbildung aus zeitgenössischer Publikation

Bezeichnend für den Rang von Stoewer ist die Größe des Stands im Vergleich zu demjenigen der damals ebenfalls erfolgreichen Marke Apollo. Faszinierend, hier die verschiedenen Stoewer-Modelle zu sehen, mit Windlauf und teilweise ohne Karosserie.

Einmal per Zeitmaschine in diese Welt einer heute unvorstellbar vielfältigen und vorwärtsdrängenden Automobilindustrie reisen zu können, atemlos Broschüren einsammeln und Fotos machen zu dürfen, was gäbe man dafür!

Übrigens: Der Herr mit den hellen Schulterstücken in der Mitte der Aufnahme ist kein geringerer als Prinz Heinrich von Preußen, der sich mit den Gebrüdern Stoewer unterhält. 

Man kann davon ausgehen, dass es sich um ein Gespräch auf Augenhöhe handelte, denn als Sportsmann, der bei Bedarf selbst Hand an seinen Wettbewerbswagen anlegte, wusste Prinz Heinrich genau, worauf es in der Praxis ankam.

Nun springen wir gerade einmal etwas mehr als 20 Jahre weiter – in das Jahr 1935. Ein Weltkrieg, die Inflationszeit, die erdrosselnden Auflagen des Versailler „Vertrags“ und die Weltwirtschaftskrise liegen hinter uns.

Das war echte Dynamik und – um das Modewort zu benutzen – „Disruption“. Daran gemessen ging es in den letzten 20 Jahren in Europa ziemlich gemütlich zu.

1935 jedenfalls war nicht nur die Welt der Politik von Umbrüchen geprägt, auch beim Automobil vollzogen sich binnen weniger Jahre rasante Entwicklungen:

  • Geschlossene Aufbauten dominierten, nachdem noch in den späten 1920er Jahren offene Tourenwagen verbreitet waren.
  • Der Blick auf die Rahmenpartie wurde durch Kotflügelschürzen verdeckt.
  • Strömungsgünstige Formgebung verbreitete sich, oft bloß als modischer Akzent.
  • Scheibenräder verdrängten Stahl- und Holzspeichenräder..
  • Einzelradaufhängung und hydraulische Vierradbremsen wurden zum Standard.
  • Frontantrieb verlor seinen Exotenstatus und bewährte sich in der Mittelklasse.

All‘ diese Charakteristika modernen Automobilbaus treffen auf den nachstehend abgebildeten Wagen zu:

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Stoewer R 180; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist eine schöne Aufnahme, wie sie typisch für die 1930er Jahre ist: Man fährt mit dem Automobil ins Grüne, postiert sich stolz mit Kind und Kegel vor dem Wagen und verewigt den Moment auf Zelluloid.

Über 80 Jahre später machen uns diese analogen Zeugnisse immer noch Freude – in der digitalen Welt wären sie nach so langer Zeit wohl längst verlorengegangen.

Zurück zum Auto auf dem Foto: Es handelt sich um eine weiterentwickelte Version des 1931 vorgestellten Fronttrieblers V5 von Stoewer und des Nachfolgers R 140 (1932).

Der Wagen ist entweder ein Stoewer R 150 mit 35 PS leistendem 1,5 Liter Motor oder die seltenere 45 PS starke Version R 180 mit 1,8 Liter Hubraum (beide Vierzylinder).

Genau lässt sich das nicht mehr ermitteln – so dachte der Verfasser zunächst. Doch dann gab ein Leser (und Besitzer eines solchen Stoewer) den Hinweis, dass sich der R 180 äußerlich vom R150 durch die seitlichen Kotflügelschürzen unterschied.

Eine Rarität blieben beide Modelle, es entstanden von 1934-35 nur rund 1.500 Exemplare. Diese Zahl mag verdeutlichen, in welcher engen Nische sich die Firma Stoewer damals bewegte.

Dass Stoewer so lange durchhielt, grenzt an ein Wunder. Es dürfte dem technischen Können und gestalterischen Talent von Bernhard  Stoewer zu verdanken sein, dass sich das oft kurz vor der Pleite stehende Unternehmen immer wieder neu erfand.

Bernhard Stoewer musste 1934 aus der Leitung der von ihm noch im 19. Jh. mitgegründeten Automobilfirma ausscheiden und starb 1937. Auch seinem Bruder Emil Stoewer blieb es erspart, den Untergang des Unternehmens im Mai 1945 mitzuerleben…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.Oh oh oh

2 Gedanken zu „Keine 30 Jahre nach der Motorkutsche: Stoewer R-180

  1. Ganz herzlichen Dank für die Klärung – ich habe den Text entsprechend angepasst. Gratuliere zum Besitz einer solchen Rarität!
    Viele Grüße M. Schlenger

  2. Mein Glückwunsch zum Bericht über R 150 / R180. Als Besitzer des letzten existierenden R 180 Kabrios kann ich zur Klärung beitragen. Es handelt sich fraglos um den Typ R 180, da der Vorderkotflügel, klar erkennbar eine Schürze hat. Nur R 18 und Greif V 8 besaß diese. R 140 und R 150 nicht.
    frdl. Grüße Manfred Stoeter

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