Classic Days 2018: Ein Mercedes 39/75 PS von 1907

So reizvoll die Beschäftigung mit Automobilen der Frühzeit auf alten Fotos auch ist – einem Wagen der Pionierzeit im Maßstab 1:1 zu begegnen, ist ein außerordentliches Erlebnis.

Bereits 2015 hatte der Verfasser anlässlich der Kronprinz Wilhelm Rasanz am Niederrhein das Vergnügen, sich in einem Cadillac 30 von 1912 in die Situation von Automobilisten vor über 100 Jahren zu versetzen.

Unter den Teilnehmern an der Ausfahrt waren auch frühe Exemplare aus dem Hause Daimler vom Typ „Mercedes Simplex“. Hier haben wir einen davon aus dem Jahr 1905 mit Karosserie von Rothschild, Paris:

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Daimler „Mercedes Simplex“; Bildrechte: Michael Schlenger

In Zeiten, in denen Kleinkinder bereits auf dem Dreirad zum Tragen von Helmen gezwungen werden, erscheint diese Situation gewagt. Mit der Sicherheitsobsession mancher Zeitgenossen würden wir allerdings heute noch zu Fuß gehen…

Diese Aufnahme zeigt nicht nur ein Beispiel entspannten Umgangs mit historischer Technik, sondern zugleich einen Mercedes-Wagen, der für die Markengeschichte von großer Bedeutung war.

Der im Herbst 1901 vorgestellte Mercedes Simplex verfügte über einen Vierzylindermotor, der 40 PS aus 6,6 Litern Hubraum schöpfte, was dem Auto auch bei Steigungen eine souveräne Kraftentfaltung ermöglichte.

In den Folgejahren bis 1907 tat sich stilistisch nur wenig an den Mercedes-Wagen, doch unter der Haube vollzogen sich große Fortschritte. Bereits 1905/06 hatten Paul Daimler und Wilhelm Maybach für Sportzwecke Sechszylindermotoren entwickelt.

Ab 1907 waren erstmals auch Serienwagen von Mercedes mit Sechszylinder verfügbar. Ein außergewöhnlich schönes Exemplar davon wurde 2018 bei den Classic Days auf Schloss Dyck gezeigt:

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Daimler „Mercedes“ 39/75 PS Spyder; Bildrechte: Michael Schlenger

Wie man sieht, steht dieser 1907 gebaute Wagen stilistisch noch in der Tradition des eingangs gezeigten Daimler „Mercedes Simplex“ von 1905.

Nach wie vor stößt die Motorhaube rechtwinklig auf die Schottwand, hinter der sich das Fahrer- bzw. Passagierabteil befindet. Allerdings folgt der obere Abschluss der Schotttwand hier bereits der Kontur der Motorhaube.

Die Schutzbleche verdienen mit ihrer expressiven Schrägstellung noch mehr die Bezeichnung „Kotflügel“ als beim konventioneller gestalteten Mercedes Simplex. Auffallend auch die harmonischere Gestaltung des unteren Kühlerabschlusses.

Ansonsten unterscheiden sich die beiden Wagen im vorderen Bereich kaum – wenn man von der Haubenlänge absieht. Beide tragen mächtige Messingscheinwerfer, die im Unterschied zu den an der Schottwand angebrachten, mit Petroleum betriebenen Positionsleuchten gasbetrieben waren (Danke für den Leserhinweis).

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Diese Laternen besaßen nicht umsonst Griffbügel – bei längeren unbefestigten Strecken wurden die empfindlichen Leuchten entfernt. Überliefert ist, dass sie anlässlich von Fernreisen mitunter in Holzwolle verpackt mit der Bahn ans Ziel geschickt wurden.

Dann konnte man zwar nur tagsüber fahren, aber das war angesichts der damaligen Straßenverhältnisse ohnehin ratsam. Noch in den 1920er Jahren sahen sich Automobilisten auf dem Lande nämlich mit solchen „Straßen“ konfrontiert:

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Fahrweg in Bulgarien (zwischen Varna und Burgas); Orignalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bei derartigen Verhältnissen half die überragende Motorisierung des Mercedes mit 75 PS aus 10,2 Litern Hubraum zwar wenig. Dafür war man aber für alle Eventualitäten gewappnet – Steigungen ließen sich so mühelos überwinden.

Für die vermögende Kundschaft von Daimler war die Möglichkeit, bei Bedarf auch Fernreisen mit herausfordernden Partien absolvieren zu können, Teil des Leistungsversprechens eines Mercedes.

Der auf Schloss Dyck gezeigt zweisitzige „Spyder“ war freilich eher ein Modell, das den sportlichen Ehrgeiz betuchter Amateure ansprach. So wurde hier weder ein Verdeck noch viel Platz für Gepäck geboten:

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Daimler „Mercedes“ 37/75 PS; Bildrechte: Michael Schlenger

Die Heckpartie des Mercedes 37/75 PS Spyder wird vom Benzintank dominiert – ein schönes Beispiel für die Ästhetik ganz früher Automobile, die vom transparenten Nebeneinander funktioneller Bauelemente geprägt war.

Dabei mutet das Ergebnis keineswegs „kalt und technisch“ an, sondern erscheint durchaus reizvoll, was wohl den organisch wirkenden, geschwungenen Formen geschuldet ist, die der Mensch als besonders harmonisch empfindet.

Apropos geschwungen: Wer sich über den Verlauf des hinteren Schutzblechs wundert, dem sei gesagt: Auch er entspricht dem gestalterischen Grundsatz von „form follows function“, als dieser noch kein Dogma von auf den rechten Winkel, Stahl und Beton fixierten Bauhaus-Anhängern war:

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Daimer „Mercedes“ 39/75 PS; Bildrechte Michael Schlenger

Vor dem Hinterrad befindet sich nämlich das Antriebsritzel für den damals noch verbreiteten Kettenantrieb – seinen Konturen folgt das Schutzblech.

Neben solcher gestalterischen Raffinesse – Automobildesigner gab es damals übrigens nicht – beeindruckt auch der Umgang mit kontrastierenden Farbtönen, die wirkungsvoll Akzente setzen.

Weiter oben war bereits zu sehen, dass die Ledermanschetten um die vorderen Blattfedern in einem aufmerksamkeitsstarken Rot gehalten sind – wie auch die Sitze:

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Daimler „Mercedes“ 39/75 PS Spyder; Bildrechte: Michael Schlenger

Wer meint, die roten Bremssättel zeitgenössischer Sportwagen wären eine neuartige Idee, wird hier feststellen: alles dem Grundsatz nach schon mal dagewesen.

Was im übrigen von den Reifen zu halten ist, deren Profil den Schriftzug „NON  SKID“ – also rutschfest – wiedergibt, das kann sicher ein sachkundiger Leser sagen…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Classic Days 2018: Ein Mercedes 39/75 PS von 1907

  1. Natürlich haben Sie mit den Petroleumlampen recht, Herr Billcsich! Danke auch für den Hinweis auf die Herkunft der Reifen.

  2. Lieber Herr Schlenger,
    wieder einmal Danke für die Bilder.
    Ganz bin ich mit ihnen nicht einer Meinung mit den Positionslampen. Ich würde hier eher auf Petroleumlampen setzen. Der Runde untere Teil ist der Tank aus dem das Petroleum in den Docht steigt der dann für Beleuchtung sorgt.
    „Non Skid“ war meines Wissens ein amerikanisches Erzeugnis. Die Reifen dürften schon einige Jahre auf dem Buckel haben.
    Auch bei uns in der Gegend gibt es in Kürze (25.-29.8.2018) eine Veranstaltung nur für Fahrzeuge bis Baujahr 1918 statt.die schon 7. Motorfahrer Wertungsfahrtum der Ehrenpreis der Melanie Gräfin Khevenhüller-Metsch Erdödy.
    Mit freundlichen Grüßen
    Thomas Billicsich

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