Vor 90 Jahren: Coole Typen mit Horch 10/50 PS

Mein heutiger Blogeintrag führt uns genau 90 Jahre zurück in die Vergangenheit. Das Foto, um das diesmal geht, entstand nämlich im Januar 1929.

Der Wagen, der darauf zu sehen ist, erweist sich zwar oberflächlich betrachtet als alter Bekannter, doch im Detail treten Besonderheiten zutage, die auch Kennern nicht unbedingt geläufig sein dürften.

Hier nun das Dokument, das eine imposante Sechsfenster-Linousine zusammen mit fünf Spaßvögeln in winterlicher Umgebung zeigt:

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Horch 10/50 PS Limousine; Originalfoto aus  Sammlung Michael Schlenger

Die Situation ist natürlich inszeniert – dazu hat sich einer der Herren die Mühe gemacht, im Schnee unter den Wagen zu kriechen.

Das Sujet des gerade überfahrenen, aber dennoch gut aufgelegten Fußgängers findet sich auf Privataufnahmen mit frühen Automobilen öfters.

Während in unseren Tagen das Märchen von tausenden Feinstaub- und Stickoxidtoten erzählt wird, um aus ideologischen Motiven den motorisierten Individualverkehr zurückzudrängen, war einst die Gefahr, als Passant von einem Automobil verletzt zu werden, sehr real und ganz erheblich.

Filmaufnahmen wie die folgende von 1906 (!) zeigen, welchen heute unvorstellbaren Risiken Fußgänger in Großstädten mit starkem Verkehr ausgesetzt waren:

 

 

Gemessen an diesen anarchistischen Verhältnissen war der Straßenverkehr in den 1920er Jahren weitgehend so geregelt, wie wir das heute kennen. Dennoch waren aktive und passive Sicherheit aus heutiger Sicht nur sehr begrenzt.

Immerhin setzte sich um 1925 auf breiter Front die Vierradbremse durch, in den USA mitunter bereits hydraulisch betätigt. Über die zuvor nur als Zubehör erhältlichen Vorderradbremsen verfügte auch der Wagen auf dem heutigen Foto:

horch_10-50_ps_01-1929_frontpartieDen entscheidenden Hinweis auf den Hersteller des Wagens liefert auf diesem Ausschnitt der geflügelte Pfeil auf dem Kühler – er wurde auf Modellen der sächsischen Luxuswagenmanufaktur Horch ab 1928 verbaut.

Doch wie so oft ist eine Kühlerfigur allein nicht zuverlässig, wenn es um die Datierung und Identifikation des genauen Typs geht. Zwar haben wir es mit einem Horch zu tun (dazu gleich noch ein weiteres Indiz), doch stammt das Auto von 1926.

Wie lässt sich das so genau sagen? Nun, mit dem Blick für’s Detail, der bei historischen Automobilfotos häufig unerlässlich ist. Schauen wir also genauer hin:

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Zum einen erkennen wir auf der Mütze des Fahrers das gekrönte „H“, seit 1925 das Markenemblem von Horch, das sich auch auf der Kühlerfront wiederfand. Dass Chauffeure solche „Markenkleidung“ trugen, war keineswegs selten.

Zum anderen sieht man eine unterteilte Frontscheibe, deren unterer Abschluss außerdem der dreieckigen Kontur der Haube folgte.

Das findet sich so nur beim Horch 10/50 PS, der von 1924-26 gebaut wurde. Dabei handelte es sich um den letzten Vierzylindertyp der Marke, die anschließend zu Achtzylindern allerfeinster Bauart überging.

Demnach wurde dieser Horch nachträglich mit der erst 1928 eingeführten Kühlerfigur ausgestattet. Wer Zweifel an der Zuschreibung hegt, sei auf die folgende Aufnahme des gleichen Typs verwiesen, die ich bereits vor längerer Zeit vorgestellt habe:

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Horch 10/50 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier ist nicht nur das gekrönte „H“ auf dem Kühlergehäuse zu sehen, man kann auch die erwähnte Kontur der Haubenpartie nachvollziehen, in der sich der dreieckige obere Abschluss des Kühlers spiegelt.

Die Frontscheibe ist ebenfalls unterteilt, wenn auch nur horizontal und nicht zusätzlich noch vertikal – das will aber nicht viel heißen. Entscheidend ist, dass es dieses Erscheinungsbild der Frontopartie nur beim Horch 10/50 PS bis 1926 gab.

Die später gebauten Achtzylinder wiesen weichere Formen an der Front auf und die Windschutzscheibe war in der Regel einteilig.

Dennoch bereitet ein weiteres Detail zunächst Schwierigkeiten, das auf folgendem Ausschnitt zu erkennen ist:

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Während die Gestaltung des Trittschutzblechs am Schweller zum Vierzylindertyp Horch 10/50 PS bis 1926 passt, trifft dies auf das Speichenrad scheinbar nicht zu.

Es entspricht formal dem mit Auslaufen der Vierzylindertypen 1926 eingeführten „Kapezet“-Stahlspeichenrad, das die bis dato verbauten Holzspeichenräder ablöste.

Die Literatur – „Horch – Typen, Technik, Modelle“ von Kirchberg/Pönisch, 2. Auflage 2011, S. 152 – stellt dazu fest, dass die von der Kronprinz AG gefertigten Stahlspeichenfelgen über fünf Radbolzen verfügten.

Man sieht die entsprechende Ausführung dieser Räder und die fünf Radbolzen auch auf Fotos der ab 1927 gebauten Achtzylindertypen wie diesem:

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Horch 303, 304 oder 305: Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier ist auch die gegenüber dem 10/50 PS-Typ abgerundete Frontpartie der ersten Horch-Achtzylinders nachzuvollziehen.

Doch mit sechs Radbolzen wie auf der winterlichen Aufnahme des Horch 10/50 PS konnte ich diese Stahlspeichenfelgen in der Horch-Literatur bislang noch nicht finden.

Vermutlich montierte Horch an den Vierzylinderwagen des Typs 10/50 PS bei Produktionsende 1926 bereits die neuen „Kapezet“ Stahlspeichenräder, ließ sie aber wie bei den Holzspeichenrädern noch mit sechs Bohrungen versehen.

Für diese These spricht ein weiteres Detail auf dem Winterfoto des Horch 10/50 PS:

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Dieser Horch 10/50 PS besitzt Linkslenkung. Die gab es aber ausweislich der Literatur nur in den letzten Produktionsmonaten von Anfang Oktober bis Ende Dezember 1926.

Nur selten kann man den konkreten Produktionszeitraum eines Vorkriegswagens auf einem historischen Foto so genau bestimmen. Jedenfalls würde zu einem der letzten von 2.330 gebauten Horch 10/50 PS passen, wenn er bereits mit den Rädern des in den Startlöchern stehenden Achtyzlinder-Nachfolgers angeboten wurde.

Man mag solche Detail für unerheblich halten, doch sind es gerade Feinheiten wie diese, die eine genaue Datierung erschweren oder erleichtern können. Sollte meine These bezüglich der Räder des späten Horch 10/50 PS zutreffen, würde dies den bisherigen Stand der Literatur passend ergänzen.

Festzuhalten ist, dass es ganz schön coole Typen gewesen sein müssen, die einst nichts Besseres zu tun hatten, als mit ihrem Horch in Eis und Schnee geduldig für die Nachwelt zu posieren.

Dass sie nach 90 Jahren immer noch so viel Aufsehen erregen, hätten sich die fünf Herren vermutlich nicht träumen lassen. Eventuell waren ihre Gedanken ganz profan: „Nun mach‘ schon das verdammte Foto – mir ist kalt!“

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Vor 90 Jahren: Coole Typen mit Horch 10/50 PS

  1. Vielen Dank für diesen Hinweis, Herr Steffens! Denkbar ist schon, dass der Wagen eine Aufsatzlimousine darstellt, auch wenn diese Art Aufbau nach Mitte der 1920er Jahre eine Seltenheit darstellte. Speziell die beiden unterhalb der Gürtellinie angebrachten Türscharniere deuten darauf hin. Die unterteilte Frontscheibe ist dagegen m.E. kein Indiz dafür, da Ober- und Unterteil im selben Rahmen montiert sind, also bei Abnehmen des mutmaßlichen Aufsatzes am Wagen verblieben wären (und für eine offene Version dann recht hoch erscheinen). Die niedrig angebrachten Türklinken wollen aus meiner Sicht nicht viel besagen, die findet man auch am 10/50 PS-Tourenwagen wie hier: https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog/2018/09/18/perfekt-zu-anzug-oder-badehose-horch-10-50-ps-modell/

    Beste Grüße
    Michael Schlenger

  2. Sehr geehrter Herr Schlenger, seit längerer Zeit verfolge ich mit großem Interesse Ihren Blog und bin immer wieder begeistert von Ihrer Sachkenntnis und dem Blick auf die kleinen Details. Erlauben Sie mir bitte dennoch eine Bemerkung zum Horch 10/50. Könnte es sich hier um ein Fahrzeug mit abnehmbarem Limousinenaufsatz handeln? Indizien dafür wären aus meiner Sicht die sehr tief sitzenden Türklinken, zwei Türbänder bis zur Gürtellinie, die horizonzal geteilte Frontscheibe

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