Klassische Werte: Ein Mercedes-Benz „Nürburg“

Ein Klassiker im wahrsten Sinne des Wortes – das ist der Wagen, den ich in meinem Blog für Vorkriegsautos anhand eines neu aufgetauchten Fotos vorstellen will.

Das Auto, um das es geht, war in keiner Weise innovativ, in mancherlei Hinsicht sogar schon veraltet – dennoch verkörperte es klassische automobile Tugenden, zumindest wenn man die Standards der späten 1920er Jahre zugrundelegt.

Denn genau so muss doch eine Limousine jener Zeit aussehen:

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Mercedes-Benz 460 oder 500 „Nürburg“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wären da nicht der Schriftzug „Nürburg“ auf dem Kühlergrill und die schemenhaft erkennbare Mercedes-Plakette, könnte das genausogut ein amerikanischer Großserienwagen sein – ebenso ein Achtzylinder von Adler oder Horch.

Bis Anfang der 1930er Jahre waren am deutschen Markt die Linien der US-Automobile die Messlatte für ein gelungenes Oberklassefahrzeug. Wer der Konkurrenz aus Übersee wenigstens ein klein wenig beikommen wollte, kam nicht umhin, den hierzulande hochgeschätzten Stil der „Amerikanerwagen“ zu kopieren.

Wie wenig eigenständig die Standardaufbauten deutscher Oberklassemodelle seinerzeit waren, zeigt der Vergleich mit diesem Cadillac von 1930, der einst in Ostdeutschland verkauft worden war und dessen Erscheinungsbild später einen glanzvollen Kontrapunkt zur Alltagsmisere des Sozialismus darstellte:

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Cadillac von 1930; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wenn der Vergleich etwas zeigt, dann dies: Abgesehen von den optionalen Scheibenrädern und dem etwas anders gestalteten Kühler bot der ab 1928 gebaute Mercedes-Benz „Nürburg“ praktisch keine eigenständigen Linien.

Mercedes-Freunde werden es nicht gerne hören, doch fehlte damals in Stuttgart der Mut, von den US-Karosserievorbildern abzuweichen. Ähnliches gilt auch für den Horch 8. In England und Frankreich war man in dieser Klasse weit mutiger.

So war ein Mercedes-Benz „Nürburg“ optisch auf den ersten Blick selbst von einem „ordinären“ US-Wagen wie diesem Nash „Advanced Six“ kaum zu unterscheiden:

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Nash „Advanced Six“ von 1929; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch technisch bot Mercedes-Benz nur klassische Werte, um es freundlich auszudrücken:

  • Der in Reaktion auf die Horch-Konkurrenz konstruierte Reihenachtzylinder besaß noch seitlich stehende Ventile – eigentlich seit Mitte der 1920er Jahre überholt.
  • An den Starrachsen vorne und hinten wurde bis Produktionsende 1935 festgehalten.
  • Die Vierradbremsen waren noch mechanisch betätigt, wenn auch saugluftunterstützt.

Mit diesem Befund will ich den Mercedes-Benz „Nürburg“ keineswegs schlechtreden – es war zweifellos ein perfekt verarbeiteter klassischer Wagen seiner Zeit.

Nur bot er abgesehen vom Markenprestige und sehr hohen Preis so gut wie nichts, was ihn positiv von den damaligen amerikanischen Großserienwagen abhob, die auch heute noch von manchem zu Unrecht als minderwertig angesehen werden.

Von der konstruktiven Raffinesse eines Horch-Achtzylinder waren die Stuttgarter mit ihrem „Nürburg“ wie auch die meisten US-Serienhersteller weit entfernt.

Zumindest optisch bot der Mercedes-Benz „Nürburg“ dann etwas Abwechslung, wenn er mit einer Sonderkarossserie daherkam wie dieses Exemplar:

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Mercedes-Benz 460 oder 500 „Nürburg“ ab 1933; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diesen anhand der seitlichen Kotflügelschürzen auf frühestens 1933 datierbaren „Nürburg“ habe ich hier ausführlich vorgestellt und bin dabei auch auf den Entstehungsort und die damit verbundenen politischen Verhältnisse eingegangen.

Übrigens konnte ich bis heute nicht ermitteln, wer der Lieferant dieses gigantischen Cabriolets war – auch wenn es einen ähnlichen Aufbau von Baur aus Stuttgart gab.

Vielleicht findet sich ja irgendwann noch die Antwort auf dieses Rätsel. Echte Klassiker sind zeitlos und so ist es auch mit diesem Mercedes „Nürburg“ nicht eilig…

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

3 Gedanken zu „Klassische Werte: Ein Mercedes-Benz „Nürburg“

  1. Kenne den Horch nicht persönlich, weiss aber von anderen DOHC-lern mit Königswelle von deren Geräuschkulisse. Je weniger bewegte Teile ein Motor hat, desto weniger Geräuschquellen gibt es…

    Die Konkurrenz für den Nürburg würde ich aber auch im eigenen Haus sehen, der Mannheim mit seinen 70 (später 75) PS hatte nur geringfügig weniger Leistung, war dafür aber auch um einiges preiswerter.

  2. Die deutlich geringeren Stückzahlen des Nürburg sprechen auf jeden Fall dafür, dass Horch mit seinem 8-Zylindermodell den Nerv der Kunden besser traf. Die seinerzeit durchgängig stark an US-Vorbildern orientierte Optik praktisch aller deutschen Wagen in dieser Klasse hatte ich ja erwähnt, wobei Mercedes mit dem Nürburg besonders konservativ daherkam. Von Untermotorisierung würde ich ebenfalls nicht sprechen, und in der Tat gab es ggf. leistungsfähigere Alternativen aus Stuttgart. Ich kenne aus eigener Erfahrung nur die besondere Laufruhe des über Königswelle angetriebenen Ventiltriebs des Horch und kann mir nicht vorstellen, dass ein Seitenventiler mit Stoßstangen und Kipphebeln derartig geräuscharm laufen kann…

  3. Sicherlich war der Nürburg ein Nischenmodell, mehr oder weniger aus der Not geboren, um die Oberklasse mit dem S bzw. SS nach unten abzurunden. Während die Vorgängermodelle 15/70/100 (bzw. Typ 400) und 24/100/140 (bzw. Typ 630) sich nur in Hubraum und Radstand unterschieden, waren die Nachfolger komplett verschiedene Modelle. Der Typ S war quasi eine Weiterentwicklung des 630, 6-Zylinder OHC mit Kompressor, Hubraumerhöhung von 6,3 auf 6,8 Liter, und Leistung von 100/140 auf 120/180 PS. Der Nürburg ersetzte den Typ 400, passte sich aber technisch – und preislich – der Konkurrenz an, z.B. dem Horch 8. Der Motor hatte nun 2 Zylinder und 600 ccm mehr, war aber seitengesteuert und hatte keinen Kompressor. Trotzdem kann man ihn nicht als untermotorisiert bezeichnen, der 4-Liter-Horch 8 hatte trotz DOHC-Motor auch nur 80 PS, und der SV-Motor des Adler Standard 8 sogar nur 70. Die 100 PS des des späteren Nürburg 500 waren ebenfalls identisch mit der Leistung der späteren 5-Liter-Horch-Modelle, trotz OHC. Wenn man die Leistung des Nürburg 460 mit der des Vorgängers (Typ 400) vergleicht, also 70 PS ohne Kompressorbetrieb, dann hat Porsche aus dem SV-Prinzip das damals mögliche herausgeholt. Sicherlich war der Motor auf den ersten Blick technisch ein Rückschritt, hatte aber eine identische Leistung wie Paul Daimlers aufwendiger DOHC-Königswellenmotor bei Horch. Dessen bessere Laufkultur wage ich anzuzweifeln, und von technischer Raffinesse, die ausser höheren potentiellen Reparaturkosten keinen Leistungsvorteil bringt, haben die Kunden reichlich wenig.

    Bei Erscheinen des Nürburg sah die Konkurrenz von Horch, Adler & Co. auch nicht viel anders aus. Mit dem 460 wollte man primär die traditionelle Käuferschicht im Chauffeurssegment erreichen, warum also Experimente eingehen? Und anders als die Konkurrenz hatte man sowohl nach oben (680 S / 710 SS) wie auch nach unten (350 / 370 Mannheim) Alternativen zu bieten…

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