Tradition und Moderne: Vom Tatra 11 zum Tatra 75

Heute kommen wieder einmal die trefflichen Wagen der tschechischen Marke Tatra zu ihrem Recht, die vor dem Zweiten Weltkrieg zum Interessantesten gehörten, was auf dem europäischen Kontinent in automobiler Hinsicht entstand.

Ihren Ursprung hatte die Marke in der bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Kutschenfabrikation von Ignaz Schustala aus dem mährischen Nesselsdorf (tschechisch: Kopřivnice).

An diese Tradition knüpft die folgende Reklame aus dem frühen 20. Jahrhundert an:

Nesselsdorfer_Wagenfabrik_Reklame_Galerie

Nesselsdorfer Wagenbau-Fabrik; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn hier noch der Kutschbau im Vordergrund zu stehen scheint, klingt im Text ein in die Zukunft weisender Ton an:

„Größte Equipagen- und Automobilfabrik Österreich-Ungarns“, heißt es da selbstbewusst.

Weiter unten werden neben diversen Kutschtypen auch konkrete Motorisierungen genannt: 12 und 24 PS. Das erlaubt eine Datierung obiger Reklame auf ca. 1905.

Damals kehrte der Mit-Schöpfer der ab 1897/98 gebauten ersten Automobiltypen der Nesselsdorfer WagenfabrikHans Ledwinka – nach kurzem Abstecher zu einem Wiener Hersteller in die Firma zurück.

Ledwinka entwickelte anschließend bis zum 1. Weltkrieg modernere Wagentypen, wechselte aber 1916 zu Steyr.

Nach dem 1. Weltkrieg und dem Ende der KuK-Monarchie fand sich die Nesselsdorfer Wagenfabrik in der neugegründeten Tschechoslowakei wieder.

Unter dem Zwang, die Vorkriegsmodelle abzulösen und die Fertigungsanlagen auszulasten, holte man 1921 Hans Ledwinka zurück – in der Hoffnung, das sein schöpferischer Genius dem Werk ein drittes Mal entscheidende Impulse geben würde.

Mit dieser im nachhinein sehr glücklichen Entscheidung beginnt die eigentliche Erfolgsgeschichte des Automobilbaus im einstigen Nesselsdorf, nun Kopřivnice.

Das Jahr 1923 markiert in doppelter Hinsicht eine wichtige Zäsur: Die Nesselsdorfer Wagenbaufabrik wurde zusammen mit der in Prag ansässigen Ringhoffer Waggonfabrik in Tatra-Werke umbenannt.

Im selben Jahr wurde Hans Ledwinkas großer Wurf vorgestellt, der uns hier auf einer Postkarte begegnet, die mir Leser Rolf Ackermann zur Verfügung gestellt hat:

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Tatra Typ 11; Ausschnitt aus einer Postkarte aus Sammlung Rolf Ackermann

Der von Ledwinka konstruierte Tatra 11 war eine komplette Neuschöpfung:

Er besaß statt eines traditionellen Leiterrahmens einen deutlich steiferen Zentralrohrrahmen an dessen Enden die Vorder- und Hinterräder unabhängig voneinander – also ohne verbindende Achse – aufgehängt waren.

Damit war auf den damals meist noch unbefestigten Straßen wie auf obiger Postkarte eine deutlich bessere Bodenhaftung der Räder gewährleistet.

Auch in punkto Motorisierung beschritt Ledwinka neue Wege: Er konstruierte für den Tatra 11 einen luftgekühlten Zweizylinder-Boxermotor, der zusammen mit dem Getriebe vorn am Zentralrohrrahmen angeflanscht war.

Mit der Luftkühlung war zwar erhebliche Geräuschentwicklung verbunden – der schalldämpfende Wassermantel um den Motor fehlte ja – doch gleichzeitig vermied man die damals verbreiteten Probleme „kochender“ Kühler im Gebirge und zufrierender Wasserkanäle im Winter.

Ledwinkas Kalkül ging auf: Der Tatra 11 stieß rasch auf großen Zuspruch von Automobilisten, die die Vorteile der modernen Konstruktion erkannten.

Auch wenn die Frontpartie mangels Kühlergrill ungewöhnlich aussah, war der Tatra 11 ein Wagen mit dem sich ganz offenbar sehen lassen konnte:

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Tatra 11; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Drei Jahre nach Einführung des Tatra 11 mit seinem 12 PS-Aggregat brachte man 1926 einen äußerlich fast identischen Nachfolger heraus – den Tatra 12.

Er besaß einen auf 14 PS erstarkten Antrieb und – was mittlerweile Standard war – Bremsen auch an den Vorderrädern.

Einen solchen Tatra 12 sehen wir auf folgender (bereits bei anderer Gelegenheit vorgestellter Aufnahme) aus der überwiegend von Deutschen besiedelten böhmischen Region, die 1918 ebenfalls an die Tschechoslowakei gefallen war:

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Tatra 12; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bei näherem Hinsehen erkennt man auf dieser Aufnahme am in Fahrtrichtung linken Vorderrad einen Teil der Bremstrommel (wenn der Eindruck nicht täuscht).

Tatra blieb auch bei den nachfolgenden Ausbaustufen dem von Hans Ledwinka entwickelten Grundtyp in technischer Hinsicht treu.

Doch formal näherte man sich immer mehr einem modernen Erscheinungsbild an, bei dem nur das Fehlen eines Kühlergrills erkennen ließ, dass man es mit einem luftgekühlten Wagen zu tun hat.

Folgende Aufnahme zeigt einen in Frankfurt am Main von der 1925 gegründeten Deutschen Licenz Tatra Automobile Betriebsgesellschaft (kurz DETRA) montierten Tatra 57 – einer nunmehr mit V4-Zylinder-Motor ausgestatteten Version:

tatra_detra_typ_52_dunlop_10-1931

Mit diesem adretten Wagen – der nebenbei als Röhr „Junior“ und Stoewer „Greif Junior“ noch eine ganz eigene Karriere verfolgen sollte – war Tatra schon nahe am gestalterischen Standard wassergekühlter Wagen jener Zeit.

Den letzten konsequenten Schritt in diese Richtung repräsentierte der ab 1933 gebaute Tatra 75 – und das mit glänzendem Ergebnis.

Nicht nur hatte man die Kühlung des nunmehr solide 30 PS leistenden 4-Zylinder-Boxermotors verbessert, sondern man bot den Tatra nun auch mit einer Karosserie an, die den besten Entwürfen wassergekühlter Wagen in seiner Klasse ebenbürtig war

Erstmals begegnet ist mir dieses makellos gezeichnete Automobil auf diesem Foto, das einen Tatra 75 als Cabriolet zeigt, wie ich nach längerem Suchen herausfand:

Tatra_75_Galerie

Tatra 75 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So erfreulich diese Entdeckung auch war, blieb der Wunsch, irgendwann eine Aufnahme zu finden, die den formalen Qualitäten des Tatra 75 wirklich umfassend gerecht wird.

Kürzlich gelang mir dann der ersehnte Fund und dann noch in Form eines technisch ausgezeichneten Fotos:

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Tatra 75 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sieht man endlich, wie überzeugend der luftgekühlte Tatra 75 mit der funktionslosen Kühlerattrappe wirkt, die man ihm mit Rücksicht auf den Publikumsgeschmack verpasst hatte.

Funktionalistisch orientierte Design-Puristen mögen diese Lösung beanstanden, doch muss ein solches Produkt dem Kunden gefallen und nicht abstrakten gestalterischen Idealen entsprechen, für die niemand sein sauer verdientes Geld herzugeben bereit ist.

Dass es an diesem bildschönen Wagen der unteren Mittelklasse nichts zu verbessern gab, zeigt auch die Tatsache, dass er bis 1942 (!) weitergebaut wurde. Zwar entstanden in dieser Zeit nur rund 4.500 Exemplare, aber in der Tschechoslowakei gab es bloß einen sehr kleinen Abnehmerkreis für solche Automobile.

So wundert es nicht, dass dieser Tatra 75 dem Nummernschild nach zu urteilen einen Käufer in Wien fand, wo es mehr solvente Kunden für ein solches Schmuckstück gab. Übrigens wurden Tatras ab 1934 auch in der österreichischen Hauptstadt montiert – von den Austro-Tatra-Werken. Denkbar, dass dieser Tatra 75 ebenfalls dort entstand…

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass Tatra einst binnen zehn Jahren der Sprung von einem eigenwilligen, vorbildlosen Neuentwurf hin zu einem modernen und gefälligen Automobil gelang, das das Beste aus Tradition und Moderne vereinte.

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

2 Gedanken zu „Tradition und Moderne: Vom Tatra 11 zum Tatra 75

  1. Ja, wahrscheinlich war der in Wien zugelassene Tatra 75 von Austro-Tatra montiert worden. Ich nehme noch einen Hinweis auf. Danke und Gruß!

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