Offene Frage: Presto D 9/30 PS oder E 9/40?

Seitdem ich diesen Blog zu Vorkriegsautos auf alten Fotos betreibe, habe ich mich mit über 150 Marken mehr oder minder intensiv beschäftigt. Klingt viel, ist aber gemessen an den tausenden Herstellern, die es einst gegeben hat, nur ein Anfang.

Diese heute unvorstellbare Vielfalt erlebbar zu machen, ist eine von vielen Motivationen für mein Projekt. Daher suche ich nicht gezielt nach Dokumenten bestimmter Marken, sondern lasse mich vom Angebot an Fotos, Reklamen und Prospekten (ver)leiten, da dieses am ehesten repräsentativ für die automobile Welt von gestern ist.

Dennoch haben sich einige Typen von alleine als dauerhafte Begleiter herausgestellt, sind mir ans Herz gewachsen und erfreuen mich immer wieder auf’s Neue. Ein Beispiel dafür ist der Vierzylindertyp D 9/30 PS, den die Marke Presto aus Chemnitz in der ersten Hälfte der 1920er Jahre baute.

Der letzte Vertreter dieses Typs war diese attraktiv gezeichnete Sportvariante, die ich hier ausführlich besprochen habe:

Presto Typ D 9/30 PS mit sportlichem Aufbau; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Bislang war diese Aufnahme, die Leser Matthias Schmidt aus seinem reichhaltigen Fundus beigesteuert hat, das großartigste Dokument des Presto D 9/30 PS, das ich bislang präsentieren konnte.

Mittlerweile haben sich weitere reizvolle Exemplare eingefunden, die es verdienen, einem breiten Publikum gezeigt zu werden. Gleichzeitig werfen sie eine Frage auf, die aus meiner Sicht bislang unbeantwortet geblieben ist:

Wie grenzt sich der bis 1925 gebaute Presto Typ D 9/30 PS eigentlich äußerlich von seinem stärkeren Nachfolger Typ E 9/40 PS ab?

Nun, auf jeden Fall lässt sich sagen, dass ein Presto wie der oben gezeigte Sporttyp immer dann ein Typ D 9/30 PS sein muss, wenn über keine Vorderradbremsen verfügt.

Wie sieht es aber aus, wenn er welche besitzt? Dann wird es kompliziert. Folgende Originalreklame verrät nämlich, dass der Presto Typ D 9/30 PS ab einem bestimmten Zeitpunkt mit Vierradbremse gebaut wurde:

Presto-Reklame für den Typ 9/30 PS mit Vierradbremse; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Laut Literatur wurde der Presto Typ D 9/30 PS erst in seinem letzten Produktionsjahr (1925) mit Vierradbremse angeboten.

Wenn man obiger Reklame glauben darf, war die Vierradbremse bei äußerlich unverändertem Erscheinungsbild erhältlich, also mit den sechs hohen in die Haube eingeprägten Luftschlitzen, wie sie auch besagter Sporttyp besaß, der noch ohne Vorderradbremse auskommen musste:

Presto Typ D 9/30 PS (Sportaufbau); Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

So weit so gut. Nun stieß ich aber vor einiger Zeit auf eine Aufnahme, deren Einordnung Schwierigkeiten bereitet, denn sie zeigt einen Presto Typ D 9/30 PS mit Vorderradbremsen, der auf 1924 datiert ist- also ein Jahr früher als in der Literatur erwähnt – und außerdem ganz andere Haubenschlitze besitzt:

Presto Typ D 9/30 PS, Baujahr (angeblich): 1924; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme zeigt einen Presto, der im Jahr 1968 in der DDR aufgenommen wurde, deren Bürger von derselben „Partei“ eingemauert worden waren, die heute unter anderem Namen in Bundestag und Länderparlamenten vertreten ist und wieder im Aufwind ist…

Vorderradbremsen und geänderte Luftschlitze sind hier klar zu erkennen. Aufnahmedatum und -ort (Leipzig), Baujahr (1924) und Typbezeichnung (D 9/30 PS) sind auf der Rückseite von Hand vermerkt:

Dieser Vermerk „zur frdl Erinnerung vom Sportsfreund Kurt Perschmann stammt vom einstigen Besitzer des Presto selbst (siehe Kommentar unten). Dann kann an den Angaben kaum ein Zweifel bestehen, sollte man meinen.

Mag sein, dass er sich im Baujahr geirrt hat, aber wohl kaum bei der Typbezeichnung D 9/30 PS.

Jedenfalls wirft dieses originale Dokument aus meiner Sammlung die Frage auf, wie andere Presto-Wagen mit denselben Details anzusprechen sind – also Vorderradbremsen und in die Haube eingesetztem Blech mit einer Vielzahl schmaler Luftschlitze.

Das eine oder andere Beispiel dafür findet sich bereits in meiner Presto-Galerie.

Eines davon hatte ich bei der Vorstellung einst als Nachfolgetyp E 9/40 PS ab 1925 identifiziert – doch wahrscheinlich handelt es sich um dasselbe, oben als D 9/30 PS von 1924 angesprochene Auto – bei einem Umzug in der Nachkriegszeit aufgenommen:

Presto Typ D 9/30 PS (oder E 9/40 PS); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Presto, der zu Zeiten der sich „Deutsche Demokratische Republik“ nennenden sozialistischen Diktatur aufgenommen wurde, existiert heute noch (siehe Kommentar unten). Somit besteht die Chance zu ermitteln, wann genau der Wagen gebaut wurde.

Somit sollte sich klären lassen, ob der Presto tatsächlich bereits 1924 mit Vorderradbremsen und geänderten Luftschlitzen gebaut wurde, während die Motorisierung vorerst die alte war, was die Bezeichnung 9/30 PS rechtfertigen würde.

Meine Vermutung ist, dass die Einführung der Vorderradbremsen, die Steigerung der Leistung von 30 auf 40 PS und die Änderung der Haubenschlitze nicht gleichzeitig, sondern nacheinander erfolgte.

Sofern Vorderradbremsen und geänderte Haubenschlitze bereits vor dem Wechsel zum stärkeren Motor des Presto Typ E 9/40 PS Standard waren, wäre es praktisch unmöglich, diesen äußerlich vom Vorgängertyp D 9/30 PS zu unterscheiden.

Das würde dann auch für den Presto auf diesem exzellenten Foto gelten, das mir Leser Reinhard Sudhoff aus dem Album seiner Familie zur Verfügung gestellt hat:

Presto Typ D9/30 PS (spät) oder E 9/40 PS; Originalfoto zur Verfügung gestellt von Reinhard Sudhoff

Dieser hervorragend getroffene Presto gehörte den Großeltern von Reinhard Sudhoff: Dr. med. Walther Sudhoff und seiner Frau Marianne. Beide teilten offenbar nicht nur die Leidenschaft für rassige Automobile, sondern waren auch begeisterte Fotoamateure.

Diese scharfe (im Original noch bessere) Aufnahme wurde mit einer großformatigen Kamera aus ihrem Besitz aufgenommen, wie mir Reinhard Sudhoff mitteilte.

Auf der Verbindungsstange zwischen den Scheinwerfern sehen wir eine Plakette mit Äskulapstab, die auf die Profession von Dr. Sudhoff verwies. Außerdem haben wir hier ein Beispiel für eine der damals nur als Zubehör erhältlichen frühen Stoßstangen:

Das Nummernschild verweist auf eine Zulassung im Landkreis Salzwedel (bis 1945: Sachsen, heute: Sachsen-Anhalt).

Die zigarrenförmige Stoßstange ist mir schon auf zeitgenössischen Fotos anderer Wagen begegnet, die Variante mit vernickelten „Fanghaken“ für den Fall einer Kollision war mir bis dato nicht bekannt. Vielleicht weiß jemand mehr dazu (Kommentarfunktion).

Der Presto der Großeltern von Reinhard Sudhoff wartet aber noch mit weiteren Überraschungen auf: An der Windschutzscheibe – deren Oberteil hier waagerecht gestellt ist, sieht man einen mittig angebrachten Rückspiegel – damals noch etwas Neues.

Wenn ich mich nicht irre, besaß dieser Presto außerdem am Chassis senkrechte Stützen, die im Fall eines Reifenwechsels ausgefahren werden konnten. Dieses Detail habe ich bislang bei keinem anderen Presto registriert.

Solche Elemente lassen vermuten, dass wir es hier tatsächlich mit dem von 1925-27 gebauten Typ E 9/40 PS zu tun haben, der auf den ersten Blick kaum vom späten Typ D 9/30 PS zu unterscheiden ist.

Hinweise sachkundiger Leser, die zur Klärung der hier aufgeworfenen Fragen beitragen können, sind hochwillkommen und fließen in den Blog-Eintrag sowie ggf. die Typenbezeichnungen in der Presto-Galerie ein.

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

3 Gedanken zu „Offene Frage: Presto D 9/30 PS oder E 9/40?

  1. Zu dem 1968 mit nachgerüsteten Winkern versehenen IV-77019 läßt sich wohl mehr erfahren in der von seinem Eigentümer verfaßten Broschüre :

    https://fahrzeugmuseum-chemnitz.de/veranstaltung/leuchtfeuer-aufstieg-und-fall-der-prestowerke-chemnitz/

    Noch mehr begeistern mich hier 2 andere Exemplare, zunächst die Sportversion mit Drahtspeichenrädern, deren Frontansicht durch die tiefe Perspektive besonders gut zur Geltung kommt. Auch verbleibt hier die Anlasserkurbel am Einsatzort, denn das Kennzeichen IIN-3021 ist strömungsgünstig auf dem Vorblech platziert. Besondere Beachtung verdient auch IM-78550 von Dr.Sudhoff, der neben der „verschärften“ Gummipuffer-Stoßstange auch mit dem Contax-Fahrtrichtungsanzeiger ausgestattet wurde. Diesen sehen wir auch in Ihrem neuesten Presto-Bericht „Unzeitgemäße Betrachtungen“ – beim Dresdner Bild mit dem Fahrer Herrn Hilpert nach Passieren des unbeschrankten Bahnübergangs sowie an dem mit 6 Männern besetzten Wagen, dessen Kühlereinfassung in Wagenfarbe lackiert ist. Bei bereits werksseitiger Montage müßten die D-Modelle mit der bei Contessa-Nettel gefertigten Version ausgestattet sein, während beim Presto E dann ein Übergang zur Ausführung mit Metalldrehblende und dem darin eingeprägten Zeiss-Ikon-Signet erwartbar wäre. Die helle Scheibe wie beim Mannesmann wurde hier am Arztwagen von Dr. Sudhoff nicht verwendet. Eingedenk der weiterhin unklaren Lage in der zeitlichen Einordnung des Hanomag 3/18 PS überliefern auch bei Presto die von Ihnen gesammelten 40 authentischen Aufnahmen wohl den nachhaltigsten Eindruck, zumal so auch die Zusatzausstattung leider nur wenig zur Bildung einer klaren Chronologie beiträgt. So könnten die Prestowerke einen ausreichenden Lagerbestand noch von Contessa-Nettel bezogen haben, sodaß der Presto E auch 1927 noch Fahrtrichtungsanzeiger ohne Zeiss-Prägung erhielt.  

  2. Besten Dank, Herr Hühn, das hilft mir sehr bei weiteren Recherchen!

  3. Guten Morgen Herr Schlenger,
    das 1968 abgelichtete Fahrzeug gehörte Herrn Kurt Perschmann in Leipzig,er hat mich und meine Frau mit diesem Auto 1982 zur kirchlichen Trauung gefahren.
    Man kann sich bei Kurt nicht mit Sicherheit darauf verlassen,daß alle Angaben stimmen,bzw.nicht u.U. eine andere Vorderachse eingebaut wurde.
    Kurt Perschmann‘s Sohn ist heute um die 80 und schraubt noch immer an alten Fahrzeugen,das abgebildete Auto gehört heute Herrn Albrecht Mugler in Limbach – Oberfrohna.
    Viele Grüße Matthias Hühn

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