Zeuge böhmischer Geschichte: Praga „Piccolo“

Nach langer Abstinenz präsentiere ich heute wieder einmal ein Automobil des traditionsreichen Fahrzeugbauers Praga.

Leider sind diese Wagen heute außerhalb Tschechiens kaum noch bekannt, was zum Teil an der Sprachbarriere liegt. Während es viele Tschechen gibt, die ausgezeichnet Deutsch sprechen, ist das umgekehrt nur sehr selten der Fall.

Das hat historische Gründe, denn bis 1918 waren die Tschechen Untertanen der Habsburger Monarchie und ihre Geschichte ist daher eng mit der Österreichs verwoben.

Somit sind die Autohersteller auf dem Boden der späteren Tschechoslowakei zugleich Teil der österreichischen Fahrzeugtradition. Dennoch verbinden viele Vorkriegsfreunde hierzulande kaum etwas mit diesen Marken, obwohl diese bis Ende des 1. Weltkriegs im deutschsprachigen Raum eine bedeutende Rolle spielten.

Taucht man einmal in diese Welt ein, begegnen einem fremdartig klingende Namen wie Nesselsdorfer Wagenbau-Fabrik oder Laurin & Klement. Vertrauter sind kurioserweise die tschechischen Nachfolgeunternehmen Tatra und Skoda.

Ein weiterer Hersteller behielt über die Zäsur von 1918 hinaus nicht nur seinen Namen, sondern blieb auch bei deutschen Käufern recht beliebt – die Rede ist von Praga.

Unter dem Markennamen Praga entstanden in der Folge solide konstruierte Autos, die sich im Alltag bewährten, aber nie sehr große Stückzahlen erreichten. Eines dieser Modelle – den Praga „Piccolo“ habe ich vor längerer Zeit hier vorgestellt:

Die Geschichte der Marke reicht bis ins Jahr 1907 zurück, als sie als Prager Automobilgesellschaft GmbH gegründet wurde. 1909, ein Jahr nach Vorstellung des ersten, nicht sehr erfolgreichen Automobils, ging das Werk ganz in den Besitz der schon seit 1871 existierenden Böhmisch-Mährischen Maschinenfabrik aus Prag über.

Praga „Piccolo“ von ca. 1926; Ausschnitt aus Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Größenvergleich mit den abgelichteten Personen lässt bereits erkennen, dass Praga mit der Bezeichnung „Piccolo“ (der Kleine) Realitätssinn bewies.

Mit dem 1924 vorgestellten Piccolo bot Praga bewusst ein Einstiegsmodell unterhalb des über die Jahre gewachsenen Praga Alfa. Wie dieser verzichtete auch der Piccolo auf jedwede technische Raffinesse.

Der seitengesteuerte Vierzylinder mit knapp 825 ccm leistete lediglich 12,5 PS. Für einen internationalen Erfolg, wie er Fiat damals in der 1-Liter-Klasse gelang, war das Gebotene zu wenig. Hinzu kam, dass es bei Praga keine Großserienproduktion gab.

Für einen lokalen Erfolg in der Tschechoslowakei und im benachbarten Österreich genügte es aber allemal. So begegnet einem der Praga „Piccolo“ auf alten Fotos immer wieder, so auch auf dieser schönen Aufnahme:

Praga „Piccolo“ um 1926; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ich habe hier bewusst den ursprünglichen Bildausschnitt beibehalten, auch wenn der Wagen nur eine Randerscheinung darstellt.

Die Einbeziehung des freundlich in die Kamera blickenden älteren Herrn ganz rechts gefiel mir so gut, dass ich diese Situation nicht dem Vergessen anheimgeben wollte. In welcher Beziehung mögen die Personen auf diesem Foto zueinandergestanden haben?

Handelt es sich um zufällig Anwesende, die der Fotograf gern mit in das Bild einbezog? Jedenfalls können wir uns heute gleichermaßen an dem Umfeld wie an dem Wagen selbst erfreuen:

Dass wir hier ebenfalls einen Praga „Piccolo“ vor uns haben, leite ich wiederum aus den Größenverhältnissen ab. Die Frontpartie stimmt mit der des Wagens auf dem eingangs gezeigten Foto überein – der stärkere Praga „Alfa“ sah allerdings von vorn ähnlich aus.

Übrigens ist die Form der Kühlermaske mit dem mittigen „Knick“ nach unten typisch für die ab 1926 gebaute Serie des „Piccolo“.

Wir begegnen diesem Detail gleich wieder, dann aber am Beispiel eines Wagens, der sich für eine Typansprache aus geradezu idealer Perspektive präsentiert – und zugleich Mittelpunkt einer hübschen Inszenierung ist:

Praga „Piccolo“ um 1926; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ich tendiere bei diesem Tourenwagen ebenfalls zu einem Praga „Piccolo“, da seine Motorhaube weniger Luftschlitze als die zeitgleichen Versionen des 20 PS-starken „Alfa“ aufweist, dessen 1,2 Liter-Motor einen größeren Kühlungsbedarf hatte.

Ganz ausschließen möchte ich den „Alfa“ zwar nicht – die Doppelstoßstangen könnten auf ihn hindeuten, sie können aber auch ein Zubehör gewesen sein. Die größere Verbreitung lässt aber an den „Piccolo“ denken, der nicht zuletzt weniger Kraftstoff benötigte.

Das mag ein wichtiges Argument für die einstigen Besitzer gewesen sein. Bei ihnen handelte es sich ausweislich der Beschriftung des Abzugs um in Böhmen ansässige Deutsche, die nach 1918 unter tschechischer Herrschaft wenig zu lachen hatten.

Entstanden ist dieses Foto einst im nordböhmischen Reinowitz, einem Ortsteil von Gablonz an der Neiße. Nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerungsmehrheit ab 1945 wurde der Ort in Rýnovice umbenannt.

Die Welt der prachtvollen Individuen auf dem Foto ist vor langer Zeit untergegangen und heute kümmern sich die tschechischen Bewohner vorbildlich um das ansehnliche architektonische Erbe der Stadt.

Ob der Praga die Irrungen und Wirrrungen des 20. Jahrhunderts als Zeuge böhmischer Geschichte überstanden hat? Vielleicht steht er ja heute herausgeputzt bei einem tschechischen Sammler, der selbst gern wüsste, was sein Auto wohl alles erlebt hat…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

4 Gedanken zu „Zeuge böhmischer Geschichte: Praga „Piccolo“

  1. Besten Dank – sehr hilfreiche Recherche!

  2. Der heute von Ihnen präsentierte Praga Mignon mit dem Kennzeichen OI-167 hat mich doch gleich veranlaßt, das Kennzeichensystem der K.u.K. Monarchie zu ergründen, und so fand ich die Liste von Herrn Hans Jachim, wonach es sich richtig um ein O für Böhmen, eine römische I und dann die 167 handelt.
    Das bestätigt sich sehr gut auch beim Praga Grand 8 mit dem Kennzeichen P IV 446 vom Olmützer Autokurs im Jahre 1930, wo zwischen dem P für Mähren und der römischen IV auch ein Abstand gesetzt wurde.
    Auch die beiden Piccolo lassen sich so regional „verorten“:
    B II 476 befand sich wohl auf einer Fahrt ins Burgenland, und da Prellenkirchen auf dem Weg zwischen Wien und Preßburg / Bratislava liegt, ist die B II für den 21. Wiener Bezirk Floridsdorf doch schlüssig.
    Der aus Reinowitz im Bezirk Reichenberg / Liberec stammende OXXIX-046 entspricht exakt dieser Systematik, wonach die arabische Zahl dreistellig zu vergeben war, denn sonst wäre dieser im böhmischen Sudetenland zugelassene Piccolo als OXXIX-46 ohne die Stauchung des XXIX ausgekommen.

  3. Besten Dank, Herr Möbus! Ich konnte die Datierung bisher nicht besser eingrenzen als „ab 1926“, da mir die Literatur dazu fehlt. Haben Sie einen Tipp?

  4. Seht geehrter Herr schlenger, ich vermute, dass der erste und letzte Wagen eher um 1928 gebaut wurde (aufgesetzte Kühlermaske). Die Stoßstangen wurden bei den 28er/29 er Modellen schon serienmäßig montiert.
    Übrigens waren die Autos gut ausgestattet: Bosch Elektrik, VDO Instrumente in ansprechender Gestaltung, seriemäßig Tacho mit Tageskilometerzähler, 8-Tage-Uhr…hatte zumindest mein 1931er Piccolo.
    Ab 1932 hatten die Autos dann Linkslenkung.

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