Frühlingserwachen vor 90 Jahren: Austro-Daimler ADR

„Österreich, Du hast es besser“ mag mancher gegenwärtig – im April 2020 – sagen. Auch wenn man im Einzelnen unterschiedlicher Meinung sein kann – eines hat uns die Alpenrepublik in diesen Tagen der Coronavirus-Krise aus meiner Sicht voraus:

Eine frühzeitig und energisch handelnde politische Führung, mit laufender klarer Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit und einem Konzept für die Rückkehr in die Normalität – für Bürger und Unternehmen die Grundlage für Vertrauen und Zuversicht.

Vergleichbares ist mir in den letzten Wochen in Deutschland nicht begegnet. Stattdessen: Erst Verächtlichungmachung früher Warnungen angesichts der Entwicklungen in Asien, dann wochenlanges Nichtstun unter Behauptung des Vorbereitetseins, schließlich ein Chaos aus Empfehlungen und Anordnungen nach Gusto der Bundesländer – und bislang kein Plan zum Ausstieg aus einem immer teurer werdenden Ausnahmezustand.

Zum Glück lässt sich diesem Versagen beim derzeit vorgeschriebenen Ausweichen ins Private trefflich entgehen. So basteln die einen in der heimischen Garage emsig an vernachlässigten Projekten, andere nutzen das Frühlingswetter zu einer Ausfahrt mit einem historischen fahrbaren Untersatz über verwaiste Landstraßen.

In meinem Blog geht es derweil um ein gekonnt aufgeführtes Stück aus Österreich, mit dem vor 90 Jahren – im Jahr 1930 – der Frühling und ein neues Leben zelebriert wurde:

Austro-Daimler Typ ADR; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wir sehen ein kleines Mädchen versonnen auf dem Kühler einer großzügigen Limousine sitzen. Im Moment der Aufnahme hat das Kind die Augen geschlossen, der Mund zeigt einen Ansatz von Lächeln – hier ist jemand gerade ganz bei sich, wunschlos glücklich.

Wunschlos glücklich – zumindest in automobiler Hinsicht – würde auch der fahrbare Untersatz machen, der hier als Staffage dient.

Hand auf’s Herz: Wer, außer Kennern österreichischer Luxusautomobile der Vorkriegszeit, wäre imstande, auch nur den Hersteller dieses Wagens zu benennen?

Eine zeitliche Einordnung erlauben zwar formale Details wie die Gestaltung der Vorderkotflügel aus (optisch) zwei Teilen sowie die vorderen Bremstrommeln. Beides zusammen spricht für eine Entstehung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre.

Wirklich individuell sind aber auf dieser Aufnahme nur die jeweils neben den Positionsleuchten auf den Schutzblechen angebrachten Richtungsanzeiger. Außer bei Wanderer ist mir Vergleichbares bei Wagen jener Zeit noch nirgends begegnet.

Zum Glück gibt es zwei weitere Aufnahmen, die am selben Tag mit diesem Auto entstanden, wenn auch mit wechselnder „Besetzung“. Hier haben wir Nr. 2 aus dieser hübschen kleinen Serie:

Austro-Daimler Typ ADR; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Zugegeben: Von dem Wagen ist auch hier nicht viel mehr zu erkennen. Immerhin sieht man nun Details wie den in Fahrtrichtung links angebrachten Scheibenwischermotor und das horizontale Gestänge, das die Wischer zu gemeinsamer Aktivität motivierte.

Bei genauem Hinsehen erkennt man ganz hinten außerdem ein Rückfenster, das für eine Limousine ungewöhnlich klein ist – sollte es sich vielleicht doch um ein Cabriolet oder eine Cabriolet-Limousine handeln? Wir werden sehen…

Vorher möchte ich das Augenmerk auf die abgebildeten Personen lenken: Das uns schon bekannte „Kühlermaskottchen“ steht nun wieder auf sicherem Boden, festgehalten von einem uns ernst fixierenden Herrn.

Ich würde ihn als Großvater der Kleinen ansprechen, auch wenn das vielleicht nicht gleich plausibel erscheint. Doch in der Vorkriegszeit bekamen die Leute Kinder normalerweise, wenn sie selbst noch in den 20ern waren.

So konnte ein Mann in den 40ern und erst recht in den 50ern ohne weiteres Großvater sein. Die Großmutter wäre dann nach meiner These die uns freundlich, aber selbstbewusst fixierende Dame vor dem (in Fahrtrichtung) linken Kotflügel.

Als Mutter des Mädchens würde ich die hübsche junge Dame auf der anderen Seite ansprechen, die uns so intensiv anschaut, das man ihr schwer widerstehen kann:

Wir dürfen freilich nicht vergessen, dass dieser Blick nicht uns gilt, sondern einer weiteren Person, die bisher noch nicht zu sehen war und das Foto aufgenommen hat. Zwei kommen dafür prinzipiell in Frage, die auf der dritten und letzten Aufnahme zu sehen sind.

Der Hauptkandidat sitzt dort auf dem Trittbrett und hält das Mädchen fest. Ich nehme stark an, dass es sich bei dem gutaussehenden und nach neuster Mode gekleideten jungen Mann um ihren Vater handelt:

Austro-Daimler Typ ADR; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bevor ich mich dieser kleinen Gruppe zuwende, will ich noch auf den Wagen eingehen:

Die Kühlerfigur – ein in einem Kreis angebrachter Bogen mit gerade abgeschossenem Pfeil – ist typisch für die Wagen von Austro-Daimler ab dem Typ ADM der frühen 1920er Jahre.

Dabei handelt es sich um einen feinen Sechszylindertyp, der auf Entwürfen von Ferdinand Porsche basierte, welcher zuvor lange Jahre das technische Profil der Marke geprägt hatte.

Diese Frontpartie könnte aus meiner Sicht auch zum erwähnten Modell ADM gehören, das bis 1927 gefertigt wurde. Bloß die eigentümlichen Fahrtrichtungsanzeiger sprechen meines Erachtens für den Nachfolgetyp ADR.

Dieser wies von der Motorenkonstruktion abgesehen kaum noch technische Gemeinsamkeiten mit dem Vorgänger ADM auf – das Chassis war komplett neu entwickelt worden (siehe meinen Blog-Eintrag zu dem Modell).

Die Leistung war von 45 auf 70 PS gestiegen, wobei man im wesentlichen auf die aufgebohrte Sportversion des Austro-Daimler ADM zurückgriff, die 3 Liter statt 2,6 Liter Hubraum aufwies.

Etwas über 100 km/h Spitzengeschwindigkeit waren damit prinzipiell erreichbar, wobei dies angesichts der damaligen Straßen eher ein theoretischer Wert blieb. Was zählte, war souveräne Kraftentfaltung aus niedrigen Drehzahlen, die auch bei Steigungen ein möglichst schaltarmes Fahren erlaubte.

Kommen wir abschließend zu der reizenden Personengruppe, die neben dem Austro-Daimler – aus dieser Perspektive offenbar doch eine Limousine – posiert:

Die mutmaßliche Mutter schaut uns hier ganz anders – ein wenig überrascht – an. Praktisch genauso wie auf der vorherigen Aufnahme fixiert uns die von mir als Großmutter identifizierte Dame.

Man vergleiche ihr Gesicht mit dem des kleinen Mädchens – ich sehe hier eine erhebliche Ähnlichkeit. Bekanntlich findet sich in der Enkelgeneration oft überraschend viel von einem Teil der Großeltern wider, oft auch in punkto Persönlichkeit.

Das scheint insbesondere dann zu passieren, wenn der andere Elternteil weniger ausgeprägte Charakterzüge aufzuweisen scheint. Das könnte bei dem Vater im vorliegenden Fall so gewesen sein, weshalb sich aus seiner Linie weniger durchsetzte.

Rätselhaft und ein wenig unheimlich erscheint die Person ganz rechts – wohl eine Krankenschwester in der damals üblichen Tracht, für eine Angehörige eines geistlichen Ordens wäre ihr Kleid entschieden zu kurz, meine ich.

Sie schaut als einzige etwas verbissen drein – und nimmt man die Spiegelung ihres Gesichts im Seitenfenster der Wagens hinzu, könnte man sich ein wenig vor ihr fürchten:

War sie vielleicht eine Schwester, Cousine oder Freundin, die der jungen Mutter die gute Partie und den Nachwuchs neidete? Oder tun wir ihr schlicht unrecht, wie das bei Fotos leicht geschehen kann?

Das sei der Fantasie der Leser überlassen, die sich dazu ihre ganz eigenen Gedanken machen sollen. Meine Sicht der Dinge ist nur eine von mehreren möglichen, aber in einem subjektiven Format, wie es ein Blog nun einmal ist, teile ich sie gerne mit.

Nachtrag: Leser Martin Möbus vermutet, dass es sich um ein Kindermädchen handelt – die Besitzer des teuren Austro-Daimler konnten sich das gewiss leisten.

Eine letzte Sache noch: Vielleicht kann jemand auf Anhieb sagen, was es mit dem Kennzeichen des Austro-Daimler ADR auf sich hatte, der hier auf einer Fahrt dem Frühling entgegen vor 90 Jahren so voller Leben festgehalten wurde…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

6 Gedanken zu „Frühlingserwachen vor 90 Jahren: Austro-Daimler ADR

  1. Besten Dank für den Hinweis, Herr Huber!

  2. die Leuchten am Kotflügel sind die eigens für Austro Daimler hergestellten Siegel Leuchten

  3. Wenn ich das Kennzeichen des Citroen richtig lese (6125 RF 8), wurde es zwischen April 1931 und Oktober 1932 im Departement Seine ausgegeben; sollte es RE 8 heißen, zwischen April 1930 und Juni 1931. Gültig waren diese Kennzeichen bis März 1950.

  4. Klasse, danke! An Ungarn hatte ich auch gedacht, die Sache aber nicht weiter verfolgt.

  5. Das Kennzeichen stammt aus Budapest. Bei der zeitlichen Zuordnung habe ich Probleme, beim Abgleich mit anderen Zulassungen stammt es entweder aus dem Sommer 1927 oder aus Anfang 1929, aber evtl. wurden Zulassungen „recycelt“.

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