Glänzende Erscheinung: Ein Horch Phaeton um 1912

Die in meinem letzten Blog-Eintrag zur sächsischen Luxusmarke Horch angekündigte Fortsetzung der Chronologie in die 1930er Jahre hinein muss noch etwas warten.

Mir ist in Sachen Horch etwas „dazwischen gekommen“, was gänzlich unvorhersehbar war, aber zugleich so prächtig, dass ich es meiner Leserschaft nicht länger vorenthalten will.

Es hat eine Weile gebraucht, bis sich das Auto, um das es heute geht, als Horch aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg erwies. Nochmals einige Recherchen waren erforderlich, um den Wagen eingermaßen genau einsortieren zu können.

Doch genug der Vorrede – hier haben wir das großartige Automobil, das uns heute beschäftigen wird:

Horch Tourenwagen um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Anfänglich dachte ich, dass es sich um ein französisches oder belgisches Fahrzeug handeln könnte – die gotische Backsteinarchitektur sprach nicht dagegen und der auch auf dem Originalabzug kaum lesbare Schriftzug auf dem Kühler schien dazu zu passen.

Ausgerechnet aus den Vereinigten Staaten, deren Bewohner gern pauschal als an Europa desinteressiert und überwiegend primitiv präsentiert werden – nebenbei ein über 100 Jahre altes Vorurteil und Ausweis abendländischer Arroganz – erreichte mich via Facebook der Hinweis eines Enthusiasten, dass es sich um einen Horch vor 1914 handele.

Eingehende Vergleiche mit Bilddokumenten in der Literatur (Kirchberg/Pönisch: Horch – Typen, Technik, Modelle, Verlag Delius-Klasing) bestätigten dieses Votum, obwohl der Schriftzug auf dem Kühler es einem wahrlich nicht leicht macht:

Doch Details wie der Kühlwassereinfüllstutzen, die Nabenkappe, die nach hinten länger werdenden seitlichen Luftaustritte, selbst die Nieten in der Motorhaube und das Messingprofil, das Haube und den zur Frontscheibe ansteigenden Windlauf („Torpedo“) trennt, passen perfekt zu zeitgenössischen Horch-Bildern um 1912.

Gegen eine jüngere Datierung spricht, dass bei Horch ab 1913 der Flachkühler einem markanten Schnabelkühler wich – während frühere Modelle (bis 1910) noch keinen so harmonischen Übergang zwischen Haube und Frontscheibe aufweisen.

Die Literatur führt für jene Zeit in dieser Größenklasse vor allem drei Motorisierungen an: 10/30 PS, 12/34 PS und 17/45 PS – allesamt seitlich gesteuerte Vierzylinder.

Was genau unter der Haube dieses Horch-Phaeton schlummerte, wird sich wohl nicht mehr klären lassen. Dennoch handelte es sich zweifellos um eine glänzende Erscheinung, und sei es nur, was die Lederpolsterung und die Lackierung angeht.

Die von der Motorhaube bis zum Heckkotflügel durchlaufende Zierleiste ist übrigens ein weiteres Indiz für einen Horch um 1912, legt man die wenigen zeitgenössischen Vergleichsfotos zugrunde.

Wer sich fragt, was es mit den Element in der Mitte des Trittbretts und den beiden oberhalb des Rahmens angebrachten ovalen Riemen auf sich hat, dem kann geholfen werden: Das sind die Ersatzradhalterung und die zugehörigen Befestigungsbänder.

Bei montiertem Ersatzrad war auf der Fahrerseite kein Ausstieg möglich, weshalb der Chauffeur damals den Wagen über die linksgelegene Beifahrertür verlassen musste.

Der Fahrer hatte auch sonst einiges zu tun: rechts von ihm waren Schalthebel und Hupe zu bedienen, für Nachtfahrten musste der Karbidgasentwickler auf dem Trittbrett funktionsfähig sein, als „Standlicht“ bei geparktem Fahrzeug mussten die beiden Petroleumlampen dienen.

Der einzige Komfort für den Chauffeur bestand hier in einem Schaffell, das über die Vordersitze geworfen zu scheint hin. Die rückwärtigen Passagiere hatten vielleicht eine separate Wärmequelle in Form eines Öfchens im Fußraum zur Verfügung.

So sah absoluter Luxus vor rund 110 Jahren aus – für den Gegenwert eines Eigenheims bekam man eine so „windige Angelegenheit“, mit der man ein Prestige und ein Privileg genoss wie es heute vielleicht der Besitz eines Privatflugzeugs vermittelt.

Gleichzeitig ermöglichten diese Luxusgefährte die Erprobung und Bewährung einer Technologie, die im 21. Jahrhundert quasi für jedermann erschwinglich ist – wenn auch – zweifellos nicht in Form einer so glänzenden Erscheinung

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Glänzende Erscheinung: Ein Horch Phaeton um 1912

  1. Toll, darauf hatte ich gehofft, danke!

  2. Hallo Michael, heute nur ein Kommentar zum Ort der Aufnahme. Es handelt sich um den Rathausplatz in Lübeck, der auf der Ostseite von diesem Gothischen Bogengang begrenzt wird. Weiß ich genau, denn ich habe um die Ecke Abitur gemacht….. Claus

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