Ami aus Lyon: Ein Berliet „Six“ um 1930

Ein „Ami aus Lyon“ – was soll das sein? Ist damit vielleicht ein guter alter „Freund“ (frz. „ami“) aus der ehrwürdigen Metropole im Südosten Frankreichs gemeint? Oder doch eher ein „Amerikaner“ aus einem winzigen Ort namens Lyon im Mississippi-Tal?

Nun, wie wir sehen werden, trifft alles davon mehr oder weniger zu, und ich bin selbst erstaunt, welche vielfältigen Facetten bei der Beschäftigung mit einem auf den ersten Blick beliebig wirkenden Vorkriegswagen zutagetreten.

Anlass zu einer Reise in ein weitgehend vergessenes Kapitel europäischer Fahrzeuggeschichte gab das folgende Foto von Leser Matthias Schmidt (Dresden) – einer von drei regelmäßigen Bild“lieferanten“, ohne deren großzügige Beiträge mein Blog nicht annähernd so abwechslungsreich wäre:

Berliet „Six“ um 1930; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt

Wir sehen hier eine eindrucksvoll dimensionierte Limousine vom Ende der 1920er Jahre – doch dürften sich selbst Kenner schwer damit tun zu bestimmen, worum es sich handelt, behaupte ich.

Dem Stil nach könnte das einer der unzähligen US-Sechszylinderwagen sein, die ab Mitte der 1920er Jahre stilistisch wie technisch weltweit den Ton angaben. Könnte das also ein „Amerikaner“-Wagen sein, wie solche Importfahrzeuge aus den Vereinigten Staaten hierzulande einst bezeichnet wurden?

Vom Stil her spricht einiges dafür – dummerweise ist auf den ersten Blick jedoch nichts zu erkennen, was einen Hinweis auf den Hersteller geben könnte. Lediglich der „Knick“ im Schweller hinter der Frontpartie wirkt eigentümlich – was könnte das sein?

Wie so oft hilft ein kleines Detail weiter, das auf dem folgenden Bildausschnitt mit etwas Mühe zu sehen ist:

Auf der Reifenflanke ist unten „MICHELIN“ zu lesen – der Name des bis heute existierenden französischen Reifenherstellers also.

Sicher, man findet in der Vorkriegszeit auch einzelne Beispiele für die Verwendung solcher Reifen außerhalb Frankreichs, doch die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass es sich auch bei dem Wagen selbst um ein französisches Fabrikat handelt.

Trifft diese Hypothese zu, engt sich die Auswahl der in Frage kommenden Hersteller drastisch ein. Ende der 1920er Jahre gab es zwar in Frankreich noch eine heute kaum vorstellbare Fülle an Automarken, doch die allermeisten von ihnen pflegten einen ganz eigenen, unverkennbaren Stil oder konzentrierten sich auf Klein- und Mittelklassewagen.

Welcher der damaligen französischen Hersteller könnte für den Bau eines solchen Luxusgefährts nach amerikanischem Vorbild in Frage gekommen sein? Nun, am ehesten ein Unternehmen, das im PKW-Bau keine eigene Linie verfolgte, weil dieser nur ein Geschäft unter mehreren war.

Dass es sich genauso verhält, beweist ein zweites Foto desselben Wagens, das Matthias Schmid ebenfalls ergattern konnte:

Berliet „Six“ um 1928; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

„Berliet Six“ lautet der Schriftzug auf dem hohen und schmalen Kühler mit einem in natura sehr markanten Emblem, das auf den Ursprung des Herstellers aus Lyon verweist.

Ein Berliet war im 1. Weltkrieg tatsächlich ein „ami de Lyon“ – nämlich der Lyoner Freund der französischen Soldaten, die auf den treuen Dienst der Militärlaster der Marke schworen.

Autos baute Berliet zwar bereits ab 1900 in zahlreichen Varianten, doch nach Ende des 1. Weltkriegs beließ man einen Schwerpunkt auf Nutzfahrzeugen. PKWs entstanden in den 1920er Jahren zwar weiterhin, doch dabei orientierte man sich – mit begrenztem Erfolg – eher an internationalen Moden anstatt einen eigenen Stil zu entwickeln.

Der Zusatz „Six“ (ausgesprochen „siss“ mit auch vorne scharfem „s“) auf dem Kühler verrät, dass es sich um ein 1927 eingeführtes Modell gehandelt haben muss, denn zuvor baute Berliet nur Vierzylinder-PKW.

Hier findet man eine zeitgenössische Reklame, aus der hervorgeht, dass ab 1927 neben einem Vierzylinder drei Sechszylinderausführungen mit Hubräumen von 1,8 bis 4,0 Litern erhältlich waren, wobei die größte Version einen verlängerten Radstand von eindrucksvollen 3,60 Metern besaß.

Vom Spitzenmodell abgesehen, für das es während der Weltwirtschaftskrise offenbar keine Nachfrage mehr gab, scheinen die Berliet-Sechszylinderwagen äußerlich kaum verändert bis mindestens 1930 gebaut worden zu sein. Genaue Stückzahlen konnte ich nicht in Erfahrung bringen, es werden aber nur einige hundert pro Jahr entstanden sein.

Übrigens sind die beiden Fotos des Berliet „Six“ auch in der Stadt entstanden, in der das Auto einst gebaut wurde – in Lyon, und zwar 1933. Leider konnte ich den Aufnahmeort nicht ermitteln – vielleicht erkennt aber jemand zufällig die Situation (ein kleiner Platz mit einem Denkmal in der Mitte und einer Filiale des „Crédit Commercial de France“, einer Geschäftsbank, die unter diesem Namen bis 2005 existierte).

Dankbar wäre ich außerdem für einen Literaturtip zu den PKW von Berliet (ggf. französisch), ich wüsste gern mehr über die bis 1939 gebaute Automobile dieser Firma, die bis 1967 eigenständig blieb. Erst 1980 verschwand dann auch der Markenname.

Was hatte es aber mit dem anderen „Amerikaner aus Lyon“ auf sich, auf den ich eingangs angespielt hatte? Nun, auch den kann ich bei der Gelegenheit würdigen. Sein Name war Eddie James „Son“ House (1902-88) – der wohl berühmteste Sprössling der Kleinstadt Lyon im US-Bundesstaat Mississippi.

Im Jahr 1930, also noch während der Produktionszeit des „Berliet Six“, nahm Son House folgende Blues-Nummer auf Schellackplatte auf, die für mich ein würdiger Abgesang für den „Ami aus Lyon“ aus längst vergangenen Zeiten ist:

Hochgeladen von: RagtimeDorianHenry; Videoquelle: youtube.com

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2 Gedanken zu „Ami aus Lyon: Ein Berliet „Six“ um 1930

  1. Hallo Michael,
    in Frankreich gibt es ( natürlich auf französisch ) eine Webseite, die fast alle Fragen über Berliet beantwortet. Z.B. auch, welche Bücher es über Berliet gibt. Es handelt sich um die Seite:
    http://www.fondationberliet.org
    Hier macht das Stöbern Spass.

    Beste Grüße

    Claus

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