Kennt keine Konkurrenz: Rolls-Royce „Silver Ghost“

Heute wage ich mich an ein Fahrzeug, das für einen Universalisten wie mich, der eigentlich von keiner Marke wirklich Ahnung hat, neben Bugattis zu den großen Angstgegnern gehört – denn fundiertes Wissen dazu erwirbt man erst über Jahrzehnte.

Die Rede ist vom Rolls-Royce 40/50 PS, der ab 1906 gebaut wurde und unter der Bezeichnung „Silver-Ghost“ legendären Status erlangte.

Ein Jahr nach Erscheinen verlieh das britische Magazin „Autocar“ dem Modell mit seinem über sieben Liter messenden, extrem ruhig laufenden Sechszylinder das Prädikat „The best car in the world“.

Ebenfalls 1907 ging ein Rolls-Royce 40/50 PS mit silberfarbener Karosserie auf eine Testfahrt von 24.000 km Länge, um die für damalige Verhältnisse enorme Zuverlässigkeit der Konstruktion unter Beweis zu stellen.

Anlässlich dieser publikumswirksamen Aktion erhielt das Modell die Bezeichnung „Silver Ghost“, bei der Kenner heute noch Gänsehaut bekommen. Unglaubliche 20 Jahre blieb der Typ im Programm – bis 1926.

Rund 7.800 Stück davon wurden gebaut, und sehr viele davon sind heute noch voll einsatztauglich. Wo sonst könnte man gleich mehreren davon begegnen als in England?

Und bei welcher Gelegenheit stehen solche Preziosen einfach auf dem Besucherparkplatz herum? Das kann nur das Goodwood Revival in der südenglischen Grafschaft West Sussex sein – eine weltwelt einzigartige Klassikerveranstaltung, die dem Besucher in jeder Hinsicht eine Zeitreise in die 1930er bis 1960er Jahre erlaubt.

Mitte September 2019 fand das Goodwood Revival zuletzt statt und aus diesem Jahr stammen auch die Schnappschüsse, die ich dort gemacht habe. Dummerweise hatte ich vor Antritt der Reise meine Kamera „verlegt“ und nur eine uralte Digitalknipse dabei.

Doch ein Rolls-Royce „Silver Ghost“ bleibt so oder so eine majestätische Erscheinung – hier ein umwerfendes Exemplar von 1912:

Rolls-Royce-Silver-Ghost von 1912; Bildrechte: Michael Schlenger

Dieser herrliche Wagen mit klassischem Tourenwagenaufbau besitzt die Chassis-Nr. 2154. Er wurde an den indischen Maharadscha von Nabha ausgeliefert, in dessen Familie das Auto 80 Jahre lang verblieb.

Der Silver Ghost wurde in Indien nur wenig gefahren und ist so komplett original erhalten geblieben. Original heißt hier, dass Technik und Aufbau optisch niemals „restauriert“ wurden.

Wie einzigartig das wirkt, kann man an der großartigen Patina dieser Partie ermessen:

Rolls-Royce-Silver-Ghost von 1912; Bildrechte: Michael Schlenger

Die heutigen Besitzer haben mit dem Wagen mittlerweile fast 100.000 km auf der ganzen Welt absolviert – solche Leistungen sind keineswegs ungewöhnlich für frühe Rolls-Royce.

Auch in formaler Hinsicht kannte der Silver Ghost häufig keine Konkurrenz. Fast jeder erhielt eine individuelle Karosserie, was den Novizen vor kaum unüberwindbare Schwierigkeiten stellt.

Manchmal ist der einstige Karosseriehersteller bekannt, im Fall des obigen Wagens für den Maharadscha von Nabha war es Barker & Co Ltd.

Doch oft genug ist für den Außenstehenden nicht ersichtlich, wer für den Aufbau verantwortlich war und wann er entstand. Aufgrund ihres konkurrenzlosen Status wurden etliche frühe Rolls-Royce während ihres langen Lebens mehrfach umkarossiert.

Immerhin ist meist auf Anhieb erkennbar, ob man es mit einem alten Aufbau noch aus Vorkriegszeiten zu tun hat oder nicht. Beim folgenden Exemplar – ebenfalls aufgenommen 2019 in Goodwood – ist der Fall indessen nicht ganz klar:

Rolls-Royce-Silver-Ghost der frühen 1920er Jahre; Bildrechte: Michael Schlenger

Die Haubengestaltung mit den beiden jeweils an den Enden liegenden Luftklappen findet sich beim Rolls-Royce Silver-Ghost in der ersten Hälfte der 1920er Jahre.

Dieses Detail scheint mir auch der sicherste Anhaltspunkt dafür zu sein, dass man noch nicht das Nachfolgemodell „Phantom“ (ab 1925) vor sich hat. Wir behalten das im Hinterkopf, denn wir benötigen diese Information später noch einmal.

Dass wir es auch hier zumindest dem Entwurf nach mit einem historischen Aufbau zu tun haben, dafür spricht die einst modische, bootsartig in Holz ausgeführte Seiten- und Heckpartie:

Rolls-Royce-Silver-Ghost der frühen 1920er Jahre; Bildrechte: Michael Schlenger

Man präge sich ein weiteres Detail an diesem Wagen ein – die freiliegenden hinteren Blattfedern in sogenannter Cantilever-Ausführung, bei der die Achse nicht mittig an der Feder angebracht ist, sondern an deren hinterem Ende

Nicht auszuschließen ist, dass Teile dieses „Skiff“-Aufbaus in der Nachkriegszeit erneuert wurden, doch auch das dürfte schon wieder einige Jahrzehnte her sein:

Rolls-Royce-Silver-Ghost der frühen 1920er Jahre; Bildrechte: Michael Schlenger

Mit herkömmlichen Maßstäben wird man dem Rolls-Royce „Silver Shadow“ nicht gerecht. Das zeigt auch das dritte Exemplar, das ich 2019 beim Goodwood Revival aufgenommen habe, hier allerdings nicht auf dem Besucherparkplatz, sondern an einem Händlerstand.

Würde man diesen Wagen spontan noch als den seit 1906 gebauten „Silver Ghost“ ansprechen oder eher als das Nachfolgemodell „Phantom“?

Nun, hätte es nicht auf einem Schild neben dem Auto gestanden, wäre ich kaum darauf gekommen, dass auch das ein „Silver Ghost“ ist – einer der letzten aus dem Jahr 1924, bereits mit Vorderradbremse:

Rolls-Royce Silver-Ghost von 1924; Bildrechte: Michael Schlenger

Dieser Wagen besitzt einen Aufbau als „Drophead Coupé“ – also eine Art Zweifenster-Cabriolet, allerdings mit der Möglichkeit, das Verdeck nur oberhalb der Insassen zu öffnen.

Die Karosserie, die auch 1930 noch aktuell gewesen wäre, stammt von Park Ward – einem der bevorzugten Lieferanten von Rolls-Royce.

Daneben konnte natürlich prinzipiell jeder Karosseriebauer auf Kundenwunsch einen Aufbau schneidern – ein Luxus, den es heute so nicht mehr gibt, nebenbei einer der Gründe, weshalb solche individuell gefertigten Vorkriegswagen bis heute so begehrt sind.

Bevor wir uns nun vom Goodwood-Revival 2019 verabschieden (2020 fiel es den rigiden Coronavirus-Maßnahmen in England zum Opfer; 2021 wird es das vermutlich auch) und in die Vorkriegszeit zurückkehren, noch ein letzter Blick auf den Silver-Ghost von 1924 in nostalgischem Schwarz-Weiß:

Rolls-Royce Silver-Ghost von 1924; Bildrechte: Michael Schlenger

Nach dieser Herleitung, die in diesem speziellen Fall notwendig ist und wohl kaum einem Leser mit Herz für britische Luxusautomobile zu ausführlich war, folgt nun eine vergleichsweise prosaische Abhandlung.

Zwar kann ich dank Sammlerkollege Klaas Dierks eine sehr schöne Originalaufnahme eines Rolls-Royce Silver Ghost aus der Vorkriegszeit präsentieren, aber sagen kann ich dazu kaum mehr als das, was ich oben schon ausgeführt habe.

Denn trotz einiger Recherchen ist unklar, wann genau und von wem dieser bemerkenswerte Silver Ghost gefertigt wurde, der 1927 in der österreichischen Steiermark unterwegs war:

Rolls-Royce Silver-Ghost; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Auch wenn die Kühlerfigur – die berühmte „Emily“ – hier fehlt, besteht kein Zweifel daran, dass wir einen Rolls-Royce vor uns haben. Die markante Ausführung der Scheibenräder findet sich so meines Wissens nur bei diesem Hersteller.

Dass es sich um einen „Silver Ghost“ handelt, das lassen die beiden Luftklappen vermuten, die wir bei einem der Exemplare in Goodwood bereits gesehen haben – dort offen, hier geschlossen.

Völlig ohne Konkurrenz ist der hintere Aufbau, der eine faszinierende Mischung aus Elementen eines Tourers und eines Roadsters darstellt.

Auf den ersten Blick wirkt der Wagen wie ein Zweisitzer und das ungefütterte Notverdeck würde dann eine Ansprache als Roadster rechtfertigen (jedenfalls nach US-Nomenklatur).

Doch dann bemerkt man die kleineren Türen hinten und eine Blechabdeckung unter der sich eine zweite Sitzbank verbirgt – daher auch das weit zurückliegende Verdeck.

Ich habe im Netz hunderte von Aufnahmen von Rolls-Royce des Typs Silver Ghost studiert, doch konnte ich keinen auch nur annähernd vergleichbaren Wagen finden. Übrigens haben wir auch hier die freiliegende Cantilever-Federung.

In zeitlicher Hinsicht würde ich das Fahrzeug auf Anfang der 1920er Jahre datieren, vielleicht 1922. Das ist aber eher aus dem Bauch heraus getippt. Weiß es jemand genauer oder kennt jemand einen echten „Connoisseur“, was diese Wagen angeht?

Ich muss sagen, mich überfordern diese Prachtstücke, und so sehr ich mich sonst um möglichst genaue Identifikation bemühe, muss ich mich hier geschlagen geben – der Silver Ghost läuft einfach außer Konkurrenz.

Wer jetzt noch nicht verwirrt genug ist, dem kann mit einem Rolls-Royce „Silver Ghost“ made in Springfield (USA) geholfen werden (rund 1.700 Exemplare entstanden dort), einem ganz späten Exemplar von 1925.

Dieses grandiose Automobil gehörte einst zwei Stummfilmstars, die im Vorspann gewürdigt werden, ab 1:12 min kommt dann der Wagen zu seinem Recht:

Videoquelle: YouTube.com; hochgeladen von Mid America Productions

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

6 Gedanken zu „Kennt keine Konkurrenz: Rolls-Royce „Silver Ghost“

  1. Bitte reichen Sie solche Fotos ruhig an befreundete Spezialisten weiter, wenn sich noch mehr dazu herausfinden lässt – Sie haben hier freie Hand und müssen nicht eigens rückfragen. Vielen Dank!

  2. Wiederum besten Dank, Herr Andrup. Die späten Silver Ghosts und frühen Phantoms sind für mich eine Grauzone – es scheint stilistisch einige Überschneidungen gegeben zu haben. Der geadelte Herr Kohorn scheint ja ein Musterbeispiel für Mäzenatentum gewesen zu sein – eine interessante Persönlichkeit mit einer bewegten Vita.

  3. Die Form der Kotflügel des „Österreichers“ sieht mir nach nochmaligem Hinsehen mehr nach New Phantom als nach Silver Ghost aus. Frühe Phantom hatten auch z.T. noch unverblendete Blattfedern hinten wie der Wagen auf dem Foto. Und 1926 wurde in der Tat ein einzelner Phantom von einem unbekannten österreichischen Stellmacher mit einer Tourer-Karosserie eingekleidet. Es handelt sich um die Chassis 10TC, deren Verbleib unbekannt ist. Der Wagen ging an einen Baron Oscar von Kohorn. Laut Wikipedia ein deutscher, in Böhmen geborener und in Chemnitz ansässiger Textilunternehmer, und kein Baron, sondern ein wohl ob seines wirtschaftlichen Erfolges vom Bürgerlichen noch kurz vor dem Ende der Monarchie zum Freiherrn geadelter Mann. Seine prachtvolle Villa in Chemnitz ist offensichtlich einen eigenen Wikipedia-Eintrag wert!

  4. Der österreichische Silver Ghost ist in der Tat ein Fahrzeug, das sich lohnte zu identifizieren. Tolles Foto, darf ich es an Experten weiterleiten, vielleicht in die Rateecke des RREC-Clubmagazins?
    Solche Karosserien gab es in der Tat, selten zwar, aber vollkommen einzigartig waren sie nicht. Die erwähnten Klappen auf der Seite der Motorhaube finden sich allerdings auch beim New Phantom Ende der 20er-Jahre noch, während ich diese Art Radverkleidung noch nirgendwo sonst auf einem Rolls-Royce gefunden habe. Einige, ganz wenige wenige RR der Zwischenkriegszeit wurden übrigens von österreichischen Karosseriebauern eingekleidet, vielleicht haben wir einen solchen hier vor uns. Das wäre dann wirklich eine absolute Rarität.
    Bei dem „Skiff“ weiter oben, also dem mahagoniverkleideten Silver Ghost, handelt es sich um einen Wagen mit der Chassisnummer 42ZG von 1922. Der Karossier ist auch dem RREC unbekannt, was darauf hindeutet das es sich wie vermutet um einen älteren Nachbau handelt. Bei Neuwagen war eine solche Karosserie extrem selten, Labourdette baute ein paar kurz vor und nach dem 1.WK. Das 40/50 hp Silver Ghost-Chassis war aber so robust, das es die meisten originalen Karosserien bei entsprechender Laufleistung weit überlebte. Als Zweit- oder Drittkarosserie wurde oft ein sportliches Cabriolet – Drop Head Coupé – oder Roadster gewählt. Manche dieser einst prächtigen Automobile wurde aber auch zum Leichenwagen, Lieferwagen (mit einem solchen bin ich mal in England mitgefahren), oder, shocking, zu einem Abschleppauto degradiert!

  5. Besten Dank! Hier scheint es sich um markenspezifische Abdeckungen gehandelt zu haben, da die Nabengestaltung von der anderer Fahrzeuge stark abweicht.

  6. Sehr geehrter Herr Schlenger,
    zu den „Scheibenrädern“ wäre zu ergänzen: Es sind Abdeckungen der Speichenräder aus Leichtmetall und wurden auch bei anderen Marken verwendet. Sie erleichterten auf der einen Seite die Reinigung der Räder und waren auch ein Stilelement.

    Mit freundlichen Grüßen
    Thomas Billicsich

Kommentar verfassen