Was vom Tage übrigblieb: Adler „Diplomat“

„Was vom Tage übrigblieb“ – das ist der Titel eines britischen Films, auf den ich am Ende zurückkomme. Er ist zugleich Beschreibung dessen, was ich in meinem Blog zu später Stunde tue – einer mehr oder weniger heimlichen Liebe nachgehen.

Beim Schein der Schreibtischlampe tauche ich in alte Fotos ein, die ich – nicht sonderlich zielgerichtet – am Wegesrande aufgelesen habe oder die mir von anderen Enthusiasten zugespielt wurden und welche vordergründig Automobile der Vorkriegszeit zeigen.

In den besten Fällen handelt es sich um Momentaufnahmen, deren zeitlose Botschaft über das Studium technischer Besonderheiten und Karosseriedetails oder Anmerkungen zum Hersteller und zu den Zeitumständen hinausgeht.

Heute kann ich wieder mit einem Beispiel dafür aufwarten, bei dem man sich zwar mit dem Wagen beschäftigt, das einen aber letztlich mit dem Gedanken konfrontiert, was von einem Tag übrigbleibt – vor allem, wenn man nach langer Zeit darauf zurückblickt.

Was von einem Tag im September 1935 übrigblieb, ist zunächst dieser Ausschnitt eines Fotos, das im bayrischen Bad Tölz entstand und welches als Postkarte zu einem Adressaten ins nahegelegene Benediktbeuern gelangte:

Auf den ersten Blick ist hier wenig zu sehen außer einer massigen Limousine mit gegenläufig öffnenden Türen, angesetztem großen Kofferraum mit zwei Ersatzrädern und auffallendem Dachabschluss.

Doch wird sich das Bild ganz anders darstellen, wenn man einmal ein klareres Foto desselben Wagentyps gesehen hat. Ein solches muss man freilich erst einmal auftreiben. Und dazu muss man erst einmal wissen, was man hier eigentlich vor sich hat.

Ein erster Schlüssel zur Identifikation sind die profilierten Scheibenräder mit großer schmuckloser Radkappe. Diese finden sich identisch bei diesem Adler „Trumpf Junior“:

Adler „Trumpf Junior“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese charmante Aufnahme des erfolgreichen Frontantriebswagens der Frankfurter Adlerwerke entstand 1934 im Raum Berchtesgaden. Im selben Jahr baute Adler die mächtige 6-Zylinder-Limousine, die wir auf dem eingangs gezeigten Foto sehen.

Sie wurde mit ähnlicher Ganzstahlkarosserie von Ambi-Budd (Berlin) ausgeliefert wie der Hanomag „Sturm“ – der ebenfalls einen Sechszylindermotor unter der Haube besaß, welche sich durch fünf seitliche Luftklappen auszeichnete. Selbige verraten sich auf dem Foto durch kleine waagerechte Chromleisten.

Auf folgender Aufnahme sehen wir nun dieses Adler-Modell mit der standesgemäßen Bezeichnung „Diplomat“ in derselben repräsentativen Ausführung.

Adler „Diplomat“ Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Im hinteren Drittel des Dachs wäre Platz für ein weiteres Fenster gewesen wie beim Hanomag „Sturm“. Doch verzichtete man darauf, sodass die Passagiere im Heck dem Blick von außen verborgen blieben.

Das gibt dem Wagen eine aristokratische Würde, die man bei britischen Automobilen jener Zeit findet. Mir ist kein anderer deutscher Hersteller bekannt, der sich für diesen langgestreckten Dachabschluss entschied, der Vorbilder aus der Kutschenzeit zitiert.

Mit diesem Prachtexemplar, das so nur 1934 gebaut wurde, verabschiedete sich Adler aus der Liga klassisch gestalteter Oberklassefahrzeuge. Die ab 1935 gefertigte Version des „Diplomat“ besaß eine weit modernere Karosserie, die nicht dieselbe Noblesse ausstrahlt.

Mit solchem Wissen ausgestattet und mit dem majestätischen Erscheinungsbild des Wagens vor Augen kehren wir zum Gegenstand der heutigen Betrachtung zurück:

Adler „Diplomat“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sieht man das Fahrzeug mit anderen Augen, was auch mit den beiden jungen Damen zu tun hat, die vom Fotografen gekonnt als lebendiger Kontrapunkt zu der dunklen Masse Blech platziert wurden.

Dass der Abzug, der einst als Postkarte lief, nach so langer Zeit nur mäßig erhalten ist, tut seiner Wirkung keinen Abbruch.

Immer wieder geht der Blick von dem eindrucksvollen Wagen zu den trotz gleicher Kleidung vom Typ her völlig unterschiedlichen Frauen und dann in den Hintergrund, der auch mit Strom- oder Telegrafenleitung idyllische Wirkung entfaltet.

Da diese Postkarte aus dem Heilkurort Bad Tölz verschickt wurde, könnte ich mir vorstellen, dass die beiden Damen zum Personal eines örtlichen Hotels gehörten. Wie es wohl zu der Aufnahme mit dem Adler kam, der vielleicht einem Gast gehörte?

Liefert die Beschriftung der Rückseite einen Hinweis darauf?

Leider ist der Text stark verblasst, mehr konnte ich aus dem Original nicht herausholen. Leser und Sammlerkollege Klaas Dierks lieferte folgende Transkription:

Lieber Hansi,
wie geht es Dir jetzt? Hoffentlich besser. Ist auch zu Haus alles gesund? […] einige Wochen dann ist mit der Sesong Schluß. Aber dann spanne ich aus, bis sich daß …..

Vermutlich wissen wir am Ende nicht mehr als diese kurze Botschaft, die wohl eine der beiden Damen auf dem Foto verfasste, den Tag, an dem das Foto 1935 als Postkarte auf die Reise ging, die Empfängeradresse in Benediktbeuren und den Typ des Adler-Automobils, das darauf abgebildet ist.

Was vom Tage übrigblieb, an dem dieses Dokument entstand, ist somit am Ende ein verblassendes Stück Papier. Damit verbindet sich die zeitlose Frage, was vom Tag übrigbleibt, der bedeutend erscheint, während wir ihn erleben, der aber im Dunkel entschwindet, wenn er einmal zum Gestern und Früher geworden ist.

Dieselbe Frage – auf das gesamte Dasein angewendet – behandelt der britische Film „The remains of the day“ von 1993. Er ist Reflektion des Daseins eines Butlers in der britischen Aristokratie, der in seinen späteren Jahren mit den verpassten – oder vermiedenen – Pfaden konfrontiert wird, die sein Dasein hätte nehmen können.

Großartig ist folgende Sequenz, in der Miss Kenton, die Haushälterin des Adelssitzes Darlington Hall, gespielt von Emma Thompson, den von Anthony Hopkins verkörperten Butler bedrängt, ihr zu verraten, was er in der Zeit liest, die von seinem Tag übrigbleibt.

„Lesen Sie ein verwegenes Buch“?„Glauben Sie, dass es verwegene Bücher im Regal seiner Lordschaft gibt?“

„Woher soll ich das wissen? Was ist das für ein Buch? Lassen Sie es mich sehen!“ – „Bitte lassen Sie mich alleine, Miss Kenton.“

„Warum zeigen Sie mir nicht Ihr Buch?“ – „Jetzt ist die Zeit, die ich für mich habe. Sie stören mich darin.“

„Wirklich? … Was steht denn in dem Buch? Bitte, lassen Sie es mich sehen.… Wollen Sie mich vielleicht vor etwas schützen? Würde es mich schockieren? …Lassen Sie es mich sehen! …Oh, es ist ja gar nichts Skandalöses. Das ist ja bloß ein sentimentaler alter Liebesroman“

Filmquelle: YouTube.com; hochgeladen von Movieclips

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3 Gedanken zu „Was vom Tage übrigblieb: Adler „Diplomat“

  1. Der Adressat der oben gezeigten Postkarte hieß Hans Öttl und wohnte in Bendiktbeuern in der Adolf-………….-Straße Nr. 6.
    Vielleicht hilft das ja weiter.

  2. Korrekt – den Filmfreunden aber wohl eher als Anthony Hopkins bekannt.

  3. Sir Philip Anthony Hopkins heißt der Schauspieler.
    MfG

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