Hals über Kopf auf dem Semmering: Lancia Lambda 1930

Es gibt Situationen im Leben, in denen man alles wagen muss, kein Risiko scheuen darf, um ans Ziel zu gelangen – oder auch nicht. Die Weltgeschichte bietet dafür reiches Anschauungsmaterial, doch durchaus auch die private Sphäre.

Ich erinnere mich an eine Episode aus der Zeit, als ich meine Banklehre in Frankfurt/Main absolvierte, das war um 1990. Ich war für eine Zeit in einer Filiale, in der man, wenn man seine Sache gut machte, großes Vertrauen im Umgang mit Kunden genoss – heute undenkbar.

Einmal pro Woche betrat eine attraktive junge Dame – eine Perserin – die Räumlichkeiten, erledigte etwas an der Kasse und warf mir beim Hinausgehen einen Blick zu, der mir zu denken gab. Irgendwann tat sie das auch, als sie hereinkam. Nie haben wir dabei auch nur ein Wort gewechselt.

Am letzten Tag meines Aufenthalts, kurz vor der Abschlussprüfung, kam sie wieder. Mir war egal, dass ich als Bankangestellter die Form zu wahren hatte, nahm mir ein Herz und bat sie, an meinen Schreibtisch zu kommen.

Ich entschuldigte mich für meine Dreistigkeit und fragte sie, ob man sich vielleicht einmal außerhalb der heiligen Hallen sehen könnte. Sie lächelte freundlich, sagte dann aber, dass sie bereits vergeben sei – „Schade“, hauchte sie noch, bevor sie ging.

Das war zwar nicht, was ich hören wollte, aber ich kam gut damit zurecht. Zum einen war da ja noch nichts außer einem „vielleicht“, und zum anderen hatte ich etwas gelernt: Wenn Du eine Sache willst, aber Dir nicht ganz sicher bist – dann mach‘ es einfach, verdammt nochmal!

Danach ist man schlauer, nichts ist erbärmlicher, als in ständigen Ängsten und dem ewigen Abwägen von Risiken zu leben. Wir wären nicht da, wo wir sind, wenn nur Bedenken unser Handeln bestimmten. Bloß einigermaßen fundiert sollten die Erwartungen schon sein…

Diese Episode soll Sie auf die heutige „Hals über Kopf“-Story vorbereiten. Dort geht es ebenfalls um die menschliche Fähigkeit, kalkulierte Risiken einzugehen – die auf andere vielleicht wie das reine Hazardeurtum wirken, aber letztlich auf der Überzeugung basieren: „Ich kann das, muss das tun und sollte etwas schieflaufen, bin ich bereit, die Folgen zu tragen.

Die einen wählten einst einigermaßen risikolos die heute vorgestellte Route auf einem lustvollen Trip von Wien nach Venedig – knapp 600 km Fahrt und schon vor 95 Jahren im Automobil an einem Tag zu schaffen, wenn man durchfuhr.

Doch die anderen machten bereits nach den ersten 100 Kilometern längere Zeit halt. Denn genau auf der von Wien nach Südwesten gehenden Venedigroute lag die Semmering-Passhöhe, wo bis in die 1930er Jahre ein überregional bekanntes Bergrennen stattfand.

Dort legen wir heute einen Zwischenstopp ein und schauen genüsslich zu, wie Automobil-Akrobaten im Hals-über-Kopf-Einsatz ihr Bestes auf vier Rädern geben:

Sportwagen beim Semmering-Bergrennen 1930; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Naja, werden Sie denken, sonderlich spektakulär sieht das ja noch nicht aus. Recht haben Sie und ich kann nicht einmal genau sagen, was für einen Zweisitzer mit Bootsheck wir hier sehen.

Es könnte ein Bugatti sein, aber die Kühlerpartie will mir nicht so recht dazu passen. Sicher weiß es ein einschlägig vorbelasteter Leser genau.

Wir bleiben an dieser Stelle, die offenbar viele Zuschauer anzog. Zu den Bergrennen am Semmering kamen einst zehntausende Enthusiasten, darunter viele Damen, wie man auf diesen Fotos sehen kann.

Als nächstes rauscht eine prächtige Rennzigarre durchs Bild – wieder will ich mich nicht festlegen, um was genau es sich handelt:

Sportwagen beim Semmering-Bergrennen 1930; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Mein Eindruck ist der, dass wir hier Aufnahmen vom Rennen privat gefahrener Sportwagen sehen, die anno 1930 nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit waren, aber noch immer beeindruckende Erscheinungen waren, wenn sie beherzt und kompetent bewegt wurden.

Bei der Gelegenheit: Das Datum und der Ort sind auf einem der heute vorgestellten Fotos von alter Hand vermerkt. Aber die Erfahrung zeigt, dass solche Angaben nicht immer stimmen müssen. Also lassen Sie sich in ihrem Urteil davon nicht leiten.

Weiter geht es mit dem nächsten Flitzer, immer noch vom gleichen Standort aus fotografiert, hier bloß etwas weiter nach links geschwenkt:

Sportwagen beim Semmering-Bergrennen 1930; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wiederum bin ich ratlos, was den Zweisitzer mit der markanten Zweifarblackierung angeht. Ich würde ihn wie die anderen bisher gezeigten Wagen in der Zeit kurz nach Mitte der 20er Jahre ansiedeln.

Rasend schnell wird das Auto nicht unterwegs gewesen sein, denn das hätte die Ballonmütze mit weit vorragendem Schirm des Fahrers kaum mitgemacht.

Man hat den Eindruck, dass es manchen Teilnehmern dieses Bergrennens in der Amateurklasse eher um das Dabeisein und das lustvolle Absolvieren der Strecke ging.

Das dürfte auch für dieses interessante Gefährt gelten, das ich aufgrund der markanten Gestaltung der Radnaben und des großen Radbolzenkreises als Steyr ansprechen würde:

Sportwagen beim Semmering-Bergrennen 1930; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ok, mögen Sie jetzt sagen, das war ja ganz nett, so Hals über Kopf auf der Venedigroute in ein derartiges Treiben hineinzugeraten und sich davon schön von seinen eigentlichen Plänen abhalten zu lassen.

Aber war im Titel nicht ein spezieller Wagen angekündigt worden, der sich bei dieser Gelegenheit eindeutig identifizieren ließ?

Gewiss, sage ich, sonst hätte ich nicht mit der Formel „Lancia Lambda“ gelockt.

Doch bevor wir uns Hals über Kopf in das Geschehen stürzen und tatsächlich atemlos so einen Wagen am Semmering erblicken, sei daran erinnert, wie dieses bei Erscheinen anno 1922 modernste Auto der Welt aussah.

Hier haben wir ein Exemplar, das ab 1928 vor dem italienischen Siegesdenkmal in Bozen abgelichtet wurde:

Lancia Lambda; Originalfoto: Sammlung Michael Schleneger

Bitte prägen Sie sich hier vor allem die Gestaltung des Vorderwagens, der Kotflügel und des dahinter befindlichen Batteriekastens, der Haubenschlitze nebst Haubenhalten, sowie Form und Position der Tür ein.

Sind Sie bereit? Vielleicht in etwas nervöser Erwartung, was folgen wird? Gut so.

Dann geht es jetzt Hals über Kopf im Lancia Lambda auf den Semmering!

Lancia Lambda beim Semmering-Bergrennen 1930; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Was meinen Sie? Sehen auch Sie hier einen Lancia Lambda von rechts ins Bild reinrauschen?

Aber was erblickt man dort noch? Da ist ja tatsächlich einer „Hals über Kopf“ unterwegs – nämlich der Beifahrer, der beim Lancia Lambda in Fahrtrichtung links saß.

Während der Wagen eine Linkskurve nimmt, versucht der Mann an Backbord durch ein kühnes Manöver, wie man es so nur von rennmäßig bewegten Beiwagen-Motorrädern kennt, den Schwerpunkt ins Kurveninnere zu beeinflussen und auf diese Weise eine höhere Geschwindigkeit zu ermöglichen:

Ich muss zugeben – einiges habe ich schon gesehen auf diesem Sektor , aber so etwas noch nicht. Schade, dass die Aufnahme nicht von höherer Qualität ist – sie wäre ein sicherer Kandidat für eine ikonische Rennaufnahme der Vorkriegszeit.

Was aber ist nun die bleibende Botschaft dieses Dokuments?

Nun, wir müssen nicht Hals über Kopf alles über den Haufen werfen, wenn wir unser Dasein im Kleinen wie im Großen verbessern wollen. Wir müssen keine halsbrecherischen Risiken eingehen.

Aber uns überhaupt einmal wieder aus der weichgepolsterten Komfortzone der letzten Jahrzehnte herauswagen, das müssen wir. Der Status von einst ist dahin, die Wettbewerber schlafen nicht und andere machen gerade vor, wie man sich neu erfindet.

Anstatt sich hinter der brüchig gewordenen Fassade der Dichter und Denker, der Erfinder und Ingenieure zu verbarrikadieren, sollten wir die noch vorhandenen Bestände prüfen, uns auf den neusten Stand bringen, wo notwendig, und unsere Verhältnisse wieder zu konsolidieren. Mit Bedacht, aber auch der Bereitschaft, einige Dinge auf den Kopf zu stellen…

Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

9 Gedanken zu „Hals über Kopf auf dem Semmering: Lancia Lambda 1930

  1. Danke für die Erläuterungen. Da habe ich ja wirklich einiger Kaliber ausgegraben – schade, dass die Aufnahmen nicht so grandios sind.

  2. Der Austro-Daimler ist natürlich Hans Stuck wie bereits identifiziert, aber ich bin mir unsicher, ob es der R30 in 1929 oder der R36 in 1930 war. Die optischen Unterschiede waren minimal, 1930 gab es vorne grössere Bremsen, und die Ausbuchtung unter dem Auspuff war 1929 abgerundet und in 1930 klar rechteckig. Ich tendiere aber eher zu 1929, sende dir 2 Photos zur eigenen Meinungsbildung.
    Das „nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit“ muss ich aber energisch negieren, denn die Autos von Stuck wurden zwar privat genannt, waren aber alles speziell gebaute Werkswagen. Bereits der 3 Liter dürfte um die 160 PS gehabt haben, und der 3.6 Liter von 1930 lag bei satten 200 Pferdchen. Damit konnte man mehr als eine Wurst vom Teller ziehen, und der „Bergmeister“ hat damit mehr als einen Bugatti versägt!

    Auch der DKW PS600 mit Oestreicher ist korrekt und sollte eigentlich 1929 sein.

    Bei dem „Bugatti“ tue ich mich auch schwer, eigentlich stimmt alles bis auf Kühlermaske und Frontverkleidung. Es fehlt das Reserverad einschliesslich des Geschirrs, was eigentlich unüblich war, denn man fuhr ja in dieser Klasse auf eigener Achse zu den Rennen. Allerdings sieht man einen kurzen „Strich“ neben dem Haubenriemen, das könnte evtl. doch der obere Teil des Geschirrs sein.

  3. Besten Dank, Herr Lindner! Damit sind wir schon sehr viel weiter! Den Steyr XII hatte ich inzwischen auch dem Rennen von 1929 zuordnen können. Man sieht mal wieder, dass man nicht alles glauben sollte, was irgendwo geschrieben steht (in diesem Fall auf der Rückseite des einen Abzugs: 1930). Viele Grüße, M. Schlenger

  4. Guten Abend Herr Schlenger,

    nach meinen Recherchen Semmering-Rennen am 15.09.1929.

    Bild 1: hier bin ich mir unsicher. Ich denke aber doch, dass es ein 1,5 Liter Bugatti T37 mit dem ungarischen Fahrer Kálmán Bársony war, der unter dem
    Pseudonym „Bripery“ fuhr.

    Bild 2: Hans v. Stuck (Gut Sterz) auf Austro Daimler Startnummer 55

    Bild 3: Walter H. Oestreicher (Dresden) auf DKW Startnummer 52

    Bild 4: Frau Friedl Haerlin (Wien) auf Steyr XII Startnummer 71

    Bild 5: Hans Muschik (Wien?) auf Lancia Startnummer 66.

    Beste Grüße
    Jörg Lindner

  5. bei der zweifarbige Lackierung des dritten Rennwagens könnte es sich um die Schweizer Rennfarben handeln: Rot mit weißer Motorhaube. Ich habe aber keine Idee, welcher schweizer Fahrer da unterwegs gewesen sein kann.

  6. Flavio Corro/s gewann mit einem Lancia die Tourenwagen-Klasse bis 5000 ccm, in der Zeit von 9:13,64 min. Gruß Hans Dieckmann

  7. Welch schöne Bilder, die die Begeisterung für den frühen Motorsport sichtbar machen.
    Beim ersten Bild war ich auch kurz auf der Bugatti-Fährte, pflichte aber bei, das der Kühler abweicht, vielleicht ein Amilcar?
    Bei dem auf Bild Nr. 2 abgelichteten weißen Zigarre handelt es sich meiner Meinung nach um den Bergmeister himself Hans Stuck mit seinem Austro-Daimler ADM-R.
    Hinweis hierfür, sind die Rahmenausleger vorn, welche einen so schönen Schwung über die Vorderachse besitzen sowie die markant diagonal über die Haube laufenden Lederriemen.
    Vgl: https://www.fahrtraum.at/bergkoenig-hans-stuck-und-seine-rennwaegen-aus-dem-hause-austro-daimler/
    Beim Bild 3 dem zweifarbigen Renner mit der Nr. 32 handelt es sich nach M.E. um einen Werksrennwagen von DKW auf DKW PS600-Basis. Hinweise sind hier die Felgenform (Radschrauben statt Zentralverschlüssen) sowie die kantige Kühlerform welche sich über die gesamte Oberseite des Vorderwagens zieht.
    Vgl: http://victoria-rad.de/wp-content/uploads/2020/02/584.jpg
    Vielleicht fuhr ja auf dem DKW auch Walter Oestreicher (hö hö, würde doch passen am Semmerring)

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