Dicker Brummer aus Berlin: NAG-Protos 14/70 PS

„Mal wieder NAG„, wird sich mancher Leser dieses Vorkriegs-Oldtimerblogs denken. „Bestimmt bringt er bloß ein weiteres Tourenwagen-Foto aus den 1920ern.“

Das könnte man in der Tat mal wieder; es ist nämlich ein besonderes Exemplar des NAG Typ C4 aufgetaucht, der hier bereits öfters behandelt wurde. Aber dieser rasante „Special“ muss noch warten.

Stattdessen geht es hier um eines der großen Sechszylindermodelle, die die Berliner Siemens-Tochter NAG in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in Kleinserie baute.

Die ursprünglich als D6- bzw. D7-Typen bezeichneten Autos wurden nach Übernahme des ebenfalls in Berlin ansässigen Konkurrenten Protos als NAG-Protos vermarktet.

Ein frühes Exemplar dieser mächtigen Wagen haben wir hier vorgestellt. Heute geht es um das weiterentwickelte Modell, das von 1928-30 gebaut wurde. Hier ein Exemplar, das 1932 in der Nähe von Passau aufgenommen wurde:

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NAG-Protos 14/70 PS aus Sammlung Michael Schlenger

Ins Auge fällt zuerst das enorme Sitzfleisch des Herrn, der uns den Rücken zuwendet. Für ihn kamen die großzügigen Platzverhältnisse in der 5 Meter langen Pullman-Limousine gerade recht.

Diese Karosserieausführung hilft uns bei der Bestimmung der Motorisierung. Denn wenn man der spärlichen Literatur zu NAG trauen kann,  gab es den Aufbau als Pullman-Limousine ab Werk nur bei der 14/70 PS-Ausführung des NAG-Protos.

Neben diesem 3,6 Liter Wagen gab es eine 12/60 PS-Ausführung, deren 3,1 Liter Aggregat mit dem schweren Aufbau wohl überfordert gewesen wäre.

Dass es sich überhaupt um einen Wagen der Marke NAG-Protos handelt, ist auf dem Foto nicht ohne Weiteres zu erkennen. Wir können das aber herleiten.

Dazu werfen wir einen genaueren Blick auf die Frontpartie:

Man sieht auf den ersten Blick wenig, was die Identifikation erleichtert. Das könnte irgendein amerikanischer Wagen sein oder ein davon inspiriertes deutsches Auto. 

Doch halten wir folgende Details fest: 1. Mehr als 10 waagerechte Luftschlitze in der Motorhaube, angeordnet in zwei Reihen. 2. Scheibenräder mit kleinem Lochkreis und Nabenkappe mit sechseckigem Emblem, 3. Kühlermaske mit leicht abwärts geschwungener Einfassung, 4. Lange, oben abgerundete Schwellerschutzbleche.

Für sich genommen wäre keines dieser Elemente typisch. Doch wenn sie alle nebeneinander auftauchen, will das schon etwas heißen, und das ist auf folgender Aufnahme von 1929 der Fall:

NAG-Protos 14/70 PS aus Sammlung Michael Schlenger

Auch ohne Vergrößerungsglas sieht man, dass das ebenfalls eine Pullman-Limousine mit Scheibenrädern und waagerechten Haubenschlitzen in zwei Reihen ist.

Auf den zweiten Blick stimmen auch die Schutzbleche am Schweller unterhalb der Türen überein.

Endgültige Gewissheit liefert dann die Frontpartie:

Der „NAG“-Wimpel auf dem rechten Vorderschutzblech bestätigt schon einmal die Berliner Abkunft des Wagens, so amerikanisch er auch sonst wirkt.

Wer angesichts der Scheibenräder an Adler der Typen „Standard 6 bzw. 8“ denkt, vergleiche Lochkreis und Ausführung der Nabenkappe. Letztere gibt den entscheidenden Hinweis: Das sechseckige Emblem darauf ist das von NAG-Protos.

Das NAG-Emblem wurde nach Übernahme von Protos unten um den Schriftzug „Protos“ ergänzt und von einem entsprechend verlängerten Sechseck eingerahmt.

Alle übrigen Details passen ebenfalls zu einem NAG-Protos 14/70 PS, wie er von 1928 bis 1930 in einigen hundert Exemplaren gebaut wurde. Das über 2 Tonnen schwere Prachtstück war also schon immer eine Rarität.

So etwas fuhren Leute, die 13.500 Reichsmark auszugeben bereit waren für ein Fahrzeug, das noch seltener, um fast ein Drittel teurer und zugleich langsamer war als ein Adler 8-Zylinder – von US-Wagen ganz zu schweigen.

Der dicke Besitzer auf dem ersten Foto kehrt uns also nicht zufällig den Rücken. Dem ging die Meinung der Masse am A… vorbei – und das macht ihn sympathisch.

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and http://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

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