Der kolossale Reiz des Kapitalismus: Packard von 1927

Wenn Auktionshäuser heutzutage Vorkriegsautos anbieten, dann meist mit Fotos, die die Fahrzeuge in möglichst neuwertigem Zustand in einer Umgebung zeigen, die wenig mit der Welt zu tun hat, in der sie einst unterwegs waren.

Die Autos sollen makellos erscheinen, Bezüge zur Vergangenheit werden vermieden, besonders hierzulande, wo man sich gern fortschrittlich gibt.

Ganz anders ist das Bild, das historische Automobilfotos zeichnen. Dort kommt man an den zeittypischen Gegebenheiten nicht vorbei.

So begegnet man Vorkriegswagen im deutschsprachigen Raum oft im Kontext des aufstrebenden nationalsozialistischen Regimes oder im Inferno des 2. Weltkriegs.

Später trifft man sie wieder als Überlebende in der frühen Bundesrepublik oder als Relikte in der zweiten sozialistischen Diktatur auf deutschem Boden, der DDR.

Dabei ergeben sich erstaunliche Konstellationen wie die auf folgendem Foto, das in den 1960er Jahren in Ostdeutschland entstand:

Packard_Eight_1927_DDR_Galerie

Packard „Eight“ von 1927; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir zwei „Genossinnen“, wie sie im sozialistischen Jargon von „der Partei“ angesprochen wurden – einige Jahre zuvor hätten sie „der Partei“ noch als Volksgenossinnen gegolten…

Jedenfalls sind die beiden in der DDR in den 1960er Jahren neben einem Luxuswagen abgelichtet worden, den Offizielle des braunen wie des roten sozialistischen Regimes ganz klar als amerikanisches Kapitalistenauto gebrandmarkt hätten…

Dieser dicke Brocken ist tatsächlich ein veritables Kapitalistengefährt – ein Packard von 1927 mit Reihenachtyzlinder und über 100 PS Leistung.

Identifikation und Datierung des Typs sind anhand der Kühlerform (typisch Packard), den seitlichen Luftklappen in der Haube, den trommelförmigen Scheinwerfern, den vorn abgerundeten Kotflügeln und den schüsselförmigen Scheibenrädern mit acht Bolzen möglich.

Somit bewegten sich die beiden jungen DDR-Untertanen auf dem Foto einst ganz klar in den gefährlichen Gefilden des kapitalistischen Klassenfeinds:

Eine solche mächtige Sechsfenster-Limousine war so ziemlich das Letzte, was „der Partei“ für die Genoss/innen vorschwebte. Für die allwissenden Parteivertreter galten natürlich andere Regeln…

Dass jemand unter den bescheidenen Bedingungen des „real existierenden Sozialismus“ offenbar einen dicken Dampfer wie diesen Packard aus dem Jahr 1927 am Laufen hielt, das verdient höchste Anerkennung.

Viel kaputtgehen konnte allerdings an dem Wagen auch nicht viel. Neun Kurbelwellenlager und 6,3 Liter Hubraum sorgten für ein langes Motorenleben.

Die mechanischen Vierradbremsen dürften ebenfalls kaum für Kopfzerbrechen gesorgt haben, so etwas lässt sich auch ohne Originalersatzteile in Betrieb halten.

Vermutlich existiert dieses grandiose Auto heute noch. Statten wir bei der Gelegenheit Dank ab bei unseren ostdeutschen Landsleuten, denen wir das Überleben so vieler eindrucksvoller automobiler Zeugen der Vergangenheit verdanken.

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen