1910/11: Opel nimmt Abschied von der Motorkutsche

Das Jahr 1910 markiert eine wichtige Zäsur in der gestalterischen Entwicklung des Automobils – vor allem im deutschsprachigen Raum.

Inspiriert von Entwicklungen im Rennsport ab etwa 1908 verbauten die meisten Hersteller auf einmal auch bei Serienwagen ein Karosserieelement, das den Luftwiderstand senken bzw. Verwirbelungen für die Insassen reduzieren sollte.

Die Rede ist vom sogenannten Windlauf – einst auch Torpedo genannt – der einen strömungsgünstigen Übergang von der Motorhaube zum Fahrerraum schafft.

Sehr gut zu erkennen ist dieses haubenartige Bauteil auf der folgenden Originalreklame von Opel von ca. 1908/09:

Opel-Reklame_vor_1914_galerie

Opel-Reklame aus Sammlung Michael Schlenger

Diese grafisch äußerst reizvolle Darstellung macht trotz gestalterischer Freiheiten die Funktion des Windlaufs augenfällig: Bei Sportwagen, die keine Frontscheibe besaßen, war der Fahrer damit besser vor Wind und Staub geschützt.

Gleichzeitig konnte die Luft besser über den Fahrerraum strömen, was höhere Geschwindigkeiten ermöglichte. Auch die minimalistischen Schutzbleche und die kleinen Positionslichter dienten der Verringerung des Luftwiderstands.

Was sich im Sporteinsatz bewährt hatte, hielt schon vor über 100 Jahren rasch Einzug in der Serienfabrikation. So dienten vor dem Ersten Weltkrieg die unzähligen Rennen und Langstreckenfahrten vor allem dem Nachweis, dass die noch junge Motorkutsche für Alltag und individuelle Fernreisen hervorragend geeignet war.

Wer sich damals eines der enorm teuren Manufakturautos leisten konnte, erwartete zurecht, dass ihm ausgereifte Technik bereitgestellt wurde, sonst hätte er weiterhin die Eisenbahn vorgezogen, die einst den letzten Winkel des Deutschen Reichs erschloss.

Interessant ist zu sehen, wie das neuartige Element des Windlaufs zunächst noch mit überkommenen Bauformen kombiniert wurde. Folgende Aufnahme macht deutlich, dass die formale Tradition des Kutschbaus 1910 noch nicht ganz überwunden war:

Opel Doppel-Phaeton von 1910/11; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer übrigens meint, die Qualität des Fotos beanstanden zu müssen, sollte erst einmal den unretuschierten Originalabzug sehen…

Die zeitraubenden Korrekturen waren den Aufwand wert. So ist hier der Moment festgehalten, in dem bei Opel ein letztes Mal die formale Tradition des Kutschbaus dominiert, doch schon in Kombination mit dem modernen Element des Windlaufs.

Außerdem werden wir sehen, dass wir es hier mit einem ganz großen Modell des einst hochangesehenen Rüsselsheimer Herstellers zu tun haben.

Was aber verrät uns, dass wir überhaupt einem Opel vor uns haben? Dazu werfen wir einen näheren Blick auf die Frontpartie des eindrucksvollen Wagens:

Für einen Opel aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sprechen neben der Form des Kühlergehäuses vor allem die schräggstellten Luftschlitze in der Haube. Sieben davon sind zu erkennen, vermutlich sind hinter dem Kotflügel weitere verborgen.

Deutlich sieht man hier, wie der nach oben weisende Windlauf am hinteren Ende der Motorhaube nachträglich aufgesetzt ist. Das spricht für eine Entstehung dieses Opel im Jahr 1910 bzw. spätestens 1911, als das Element noch neu war.

Länge und Höhe der Motorhaube verweisen auf einen der Opels mit Hubräumen von gut vier bis über sieben Liter – alles Vierzylinder wohlgemerkt. Ob wir hier nun eines der damaligen Modelle mit 35, 50 oder 65 PS sehen, bleibt ungewiss.

Letztlich ist es auch unerheblich, weil alle diese Wagen souveräne Fahrleistungen boten, was damals vor allem bedeutete, vollbesetzt und am Berg schaltfaul unterwegs sein zu können. Idealerweise nutzte man die unteren Gänge nur zum Anfahren.

Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf das Passagierabteil und die Insassen:

Eine beinahe identische Karosserie von 1911 findet sich auf S. 48 der Opel-Fahrzeugchronik, Band 1 von Barthels/Manthey, bloß ist der dort unten links abgebildete Wagen etwas kleiner.

Auffällig ist, wie niedrig die Einstiegstür zum Fahrerraum ist. Das findet sich in besagtem Buch ähnlich auf S. 40 bei einem Opel Doppel-Phaeton von 1910.

So spricht viel für eine Datierung des Wagens auf dem Foto ins Jahr 1910/11. Ab 1912 verschwanden die Kutschbau-Anleihen und die Opel-Aufbauten wurden glattflächiger. Mit dem hier abgebildeten Wagen sagte Opel der Ära der motorisierten Kutsche adieu.

Der Zukunft zugewandt war auch der Herr, der mit Zigarette im Mund lässig auf dem Trittbrett posiert. Er wäre noch in den frühen 1950er Jahren modisch nicht aufgefallen.

Ganz anders die sieben Damen im Opel. Sie erscheinen bis zur Halskrause eingepackt, wobei die Hüte und Tücher zum Schutz der aufwendigen Frisuren ihr Übriges tun. Da war man um 1800 schon liberaler und im wahrsten Sinne des Wortes offenherziger.

Doch die Befreiung der Frauen aus den Ganzkörperverkleidungen und von der Männerherrschaft sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen (Vorsicht: Ironie!):

Leider kam vorher noch der Erste Weltkrieg dazwischen – der in jeder Hinsicht eine noch größere Zäsur markierte als das Jahr 1910, in dem man von der heraufziehenden Katastrophe in Europa nichts ahnte…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

 

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