Der Name ist Programm: Phänomen 12/50 PS

„Was haben uns die Römer eigentlich gebracht?“ so fragt im legendär subversiven Film „Life of Brian“ (1979) der Anführer der tolpatschigen „Judäischen Volksfront“ – oder war es die „Volksfront von Judäa“? – seine Getreuen.

Wider Erwarten zählen dann die Palästinenser von damals eine ganze Reihe von Errungenschaften der Besatzer auf, die von der Wasserversorgung über die öffentliche Sicherheit und den Wein bis zu allgemeinen Krankenkassen (!) reichen.

Doch eines hat die britische Monty Python-Truppe – deren gnadenloser Spott heute der Alptraum aller Berufsbetroffenen wäre – in dieser Szene einst vergessen: das Schaltjahr!

Zumindest ich bin den Römern für die Einführung des Schaltjahrs während der Regentschaft von Gaius Julius Caesar dankbar, denn ansonsten „müsste“ ich schon heute – am 28. Februar 2020 – den Fund des Monats präsentieren.

Doch auch so kann ich mit einem nicht alltäglichen Dokument aufwarten, das den letzten PKW-Typ einer Marke zeigt, die ich bisher mangels Material nur gestreift habe – Phänomen aus dem schönen Städtchen Zittau in Sachsens Südosten.

Die Geschichte des PKW-Baus in den Phänomen-Werken habe ich in einem früheren Blog-Eintrag zum Phänomen „Granit“ Kübelwagen ausführlich beleuchtet, weshalb ich sie an dieser Stelle nicht wiederholen will.

Stattdessen geht es gleich zur Sache anhand eines Fotos, das ich kürzlich entdeckt habe:

Phänomen 12/50 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Originalabzug ist weit größer und ließ anfänglich nicht ahnen, was darauf zu sehen ist. Gerade deshalb habe ich ihn erworben, zumal da der Anbieter ebenfalls keine Vorstellung davon hatte, was das Foto zeigt.

Bei näherer Betrachtung kam mir dann rasch Phänomen in den Sinn – nicht etwa, weil ich diesen Typ schon einmal bewusst irgendwo gesehen hatte, sondern weil mir das Emblem von einigen anderen Fotos in meinem Fundus (bzw. von Lesern) vertraut vorkam, die eindeutig Phänomen-Wagen zeigen, die ich aber noch nicht vorgestellt habe.

Hier kann man das für Phänomen-Wagen der 1920er Jahre typische rautenförmige Emblem zumindest ahnen, auf dem Original zeichnet sich der Schriftzug besser ab.

Wie ordnet man nun ein Modell ein, das man zuvor nicht wahrgenommen hat und für das es in der bisherigen Literatur kaum Vergleichsstücke gibt?

Nun, glücklicherweise ist in der Neuausgabe des Klassikers von Werner Oswald „Deutsche Autos 1920-1945“ (Motorbuch-Verlag, 2019), zu der ich einige Bilder beisteuern durfte, auf S. 468 ein Phänomen mit identischer Frontpartie abgebildet.

Dieser wird dort als Typ 12/50 PS angesprochen, der von 1924-27 gebaut wurde und über einen beachtlichen Antrieb mit 3 Litern Hubraum und obenliegender Nockenwelle verfügte.

Nun ist der Erfahrung nach stets Vorsicht bei solchen Zuschreibungen von Exotenwagen angezeigt (das gilt auch für meine eigenen Fotos sonst kaum dokumentierter Automobile).

Im Netz findet sich nämlich die Abbildung eines ganz ähnlichen Phänomen-Autos, das dort als Typ 10/30 PS angesprochen wird.

Dieses schwächere Modell mit konventionellem seitengesteuerten Motor wurde jedoch in der ersten Hälfte der 1920er Jahre gebaut. Dazu passt weder das an US-Modelle angelehnte Erscheinungsbild mit Doppelstoßstange noch das Vorhandensein von Vorderradbremsen.

Dagegen könnte der in der älteren Ausgabe des Oswald auf Seite 334 abgebildete „Typ 12/50 PS“ tatsächlich eher einer der beiden Vorgänger 10/30 PS oder 16/45 PS sein.

So oder so ist das heute präsentierte Foto ein „Phänomen“ – denn mir ist kein vergleichbares in dieser Qualität bekannt. Tatsächlich handelt es sich auch nicht um einen Schnappschuss, sondern eine sorgfältig vorbereitete und sauber ausgeführte Aufnahme, die vermutlich der Fahrer selbst in Auftrag gegeben hatte:

Hier präsentiert er sich in selbstbewusster Pose neben „seinem“ Phänomen-Wagen, der mit drei Sitzreihen sicher einer wohlhabenden Familie gehörte.

Das Outfit mit ledernen Gamaschen und doppelreihiger Jacke knüpft an eine Tradition an, die bis in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg zurückreicht, als solche Kleidung die oft noch im Freien sitzenden Fahrer vor Kälte schützte.

Hier ist allerdings die Lederjacke einer solchen aus Wollstoff – eventuell in Cord-Optik – gewichen. Der Schnitt ist aber derselbe wie noch ein Jahrzehnt zuvor.

Übrigens sieht man hier recht gut, dass der Phänomen keinen klassischen Limousinenaufbau besaß, sondern als Landaulet karossiert war. Über der hinteren Sitzbank – und nur dort – ließ sich also das Dach öffnen und niederlegen, sodass die Passagiere frische Luft, Sonne und ungestörte Aussicht genießen konnten.

Auch „Gesehenwerden“ war mit einem solchen Landaulet natürlich verbunden. Dabei machte man gewiss mit der Wahl eines ungewöhnlichen Automobils auf sich aufmerksam.

Die Bauzeit von 1924 bis 1927 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Wagen noch in Manufaktur entstand. Über Stückzahlen schweigt sich die Literatur aus, doch werden sich diese bestenfalls im niedrigen dreistelligen Bereich bewegt haben.

Die Phänomen-Werke verlegten sich damals auf Lieferwagen und sollten damit später noch einigen Erfolg haben.

Wenn ein Leser etwas von einem überlebenden Phänomen des heute vorgestellten Typs weiß, würde mich ein entsprechender Hinweis freuen. Wie es scheint, findet man eher noch Exemplare von den Dreiradfahrzeugen, für die die Marke den meisten bekannt ist.

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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