Schon mit Scheinwerfer! Ein Renault von 1902/03

Ein 100 Jahre altes Auto – das erscheint einem beinahe vertraut gemessen an dem, was ich heute präsentieren möchte. Das gilt vor allem für US-Fabrikate, die damals international die Führungsrolle innehatten und diese bis in die frühen 1930er Jahre halten konnten.

Nehmen wir als Beispiel diesen Studebaker des Modelljahrs 1923, den ich hier bereits näher vorgestellt habe. Von ein paar Details abgesehen sollte die Grundform dieses Tourers den Großteil der Zwischenkriegszeit über einigermaßen aktuell bleiben:

Studebaker Modelljahr 1923; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wenn jetzt jemand die Stirn runzelt und meint, dass sich bis zum 2. Weltkrieg doch noch einige Entwicklungssprünge ergeben haben, dann hat er zwar recht. Doch letztlich ist das eine Frage des Maßstabs und der Perspektive.

In den 20 Jahren vor dem Erscheinen des 1923er Studebaker hatte das Auto nämlich noch größere Evolutionsstufen absolviert, weshalb ein Wagen von 1902/03 verglichen mit den Fahrzeugen der Zwischenkriegszeit wie ein Geschöpf aus fernster Urzeit erscheint.

Die damaligen Autos waren einerseits bereits so ausgereift, dass man damit längere Reisen unternehmen konnte, andererseits war so etwas Selbstverständliches wie ein Scheinwerfer noch eine Neuerung. Das glauben Sie nicht?

Nun, nehmen wir als Ausgangspunkt der heutigen Betrachtung diese Aufnahme eines frühen Renault, den ich auf 1902/03 datieren würde (Quelle: Renault – L’Empire de Billancourt, von Borgé/Viasnoff, 1977):

Renault von 1902/03; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Sie sehen, dass dieser adrette Viersitzer von den Rädern abgesehen wenig bis nichts mit dem 20 Jahre später entstandenen Studebaker zu tun hat.

Dabei zählte Renault damals zu den international fortschrittlichsten Herstellern überhaupt, zusammen mit anderen französischen Farbikaten wie DeDion-Bouton, Darracq oder Panhard – die im Ausland fleißig studiert und nachgebaut wurden, auch in Deutschland.

Die charakteristische Form der Motorhaube fand sich damals bei etlichen Herstellern wie Charron und Clément Bayard, aber auch bei frühen Wartburg-Wagen sowie Komnick aus dem Deutschen Reich.

Die Detailausführung ist hier allerdings typisch für frühe Renaults. Die seitlich angebrachten Kühlerspiralen wichen bald einem hinter der Haube liegenden Kühler, wie er bis in die 1920er Jahre typisch für die große französische Marke bleiben sollte.

Auf eine Kleinigkeit möchte ich noch aufmerksam machen. Dieser offene Viersitzer besitzt keine Scheinwerfer an der Frontpartie (auch keine Halterungen dafür). Wie zur Kutschenzeit beschränkte sich die Beleuchtung auf seitlich angebrachte Petroleumlaternen, die eher als Park- bzw. Positionsleuchten fungierten.

Nun wenden wir uns einem weiteren Renault zu, der sich zwar anhand der seitlichen Kühlwasser“schlangen“ ebenfalls auf etwa 1902/03 datieren lässt, aber dennoch ganz anders wirkt:

Renault von 1902/03; Originalfoto: Sammlung Jörg Pielmann

Manche Details weichen zwar ab, etwa die Ausführung der Radnaben und der Vorderkotflügel, doch das dürfte nur auf eine stärkere Motorisierung zurückzuführen sein.

Auch das Vorhandensein einer Frontscheibe und eines Dachs sind Indizien dafür, dass dieser Renault eher für längere Touren und nicht nur kurze Schönwetter-Ausflüge diente.

Sogar einen Chauffeur hatte man angestellt – der für dieses schöne Foto (aus Sammlung Jörg Pielmann) auf den Rücksitz verbannt wurde. Der gut genährte Besitzer hatte es sich nicht nehmen lassen, zu diesem Anlass selbst hinter dem Lenkrad Platz zu nehmen:

Die uns nachdenklich anschauende Dame auf dem Beifahrersitz erscheint mir deutlich älter zu sein – aber vielleicht hatte unser Renault-Besitzer aus – sagen wir – geschäftlichen Gründen eine reiche Witwe geehelicht, das gab es ja durchaus.

Interessanter ist aus meiner Sicht in diesem Fall aber etwas anderes, so sehr mich die menschliche Komponente auf solchen historischen Dokumenten sonst interessiert.

Sicher haben Sie bemerkt, dass auch dieser Renault mit Positionslampen ausgestattet ist. Doch im Unterschied zum eingangs gezeigten Wagen aus derselben Zeit besitzt er außerdem vorne Halterungen für echte Scheinwerfer, von denen einer montiert ist.

Damals war es noch üblich bzw. möglich tagsüber ohne die empfindlichen Scheinwerfer zu fahren, weshalb man auf vielen Fotos früher Automobile nur die Halterungen dafür sieht.

Erleichtert wurde diese Lösung dadurch, dass frühe Scheinwerfer über eine integrierte Brennstoffversorgung verfügten und daher einfach demontiert werden konnten:

Zumindest für den großen Scheinwerfer wird man statt Petroleum das ergiebigere Acetylengas verwendet haben, das im Scheinwerfer selbst aus Calciumcarbid und Wasser erzeugt wurde.

Diese Erfindung war anno 1902/03 noch recht jung, sodass hier vielleicht eine sehr frühe Anwendung an einem Automobil dokumentiert ist.

Jedenfalls unterstützt das Vorhandensein eines Frontscheinwerfers die These, dass dieser Renault bereits für Fahrten auch bei Dämmerung oder Dunkelheit genutzt wurde. Das müssen nicht zwangsläufig längere Nachtfahrten gewesen sein, schon beim abendlichen Besuch in der Oper oder im Theater würde der Scheinwerfer sich als nützlich erweisen.

Fernfahrten, bei denen man mit einer Ankunft erst bei Dunkelheit rechnen mussten, kamen mit einem solchen Renault aber ebenfalls in Betracht – das Auto war kein unzuverlässiges Kuriosum mehr, sondern ermöglichte den Besitzern eine ganz neue Form des Reisens.

Rund 120 Jahre ist das jetzt her, dass dieser Wagen am Hoftor zu Beginn einer Ausfahrt abgelichtet wurde. Und wie so oft auch bei späteren solcher Fotos wollte einer unbedingt mit auf’s Foto – der Hofhund!

Schauen Sie oben noch einmal genau hin, dort ist er am halbgeöffneten Tor zu sehen, neugierig und am faszinierenden Treiben „seiner“ Familie interessiert wir eh und je.

Es sind diese kleinen Konstanten im menschlichen Dasein, die aus einem Autofoto mehr machen als nur ein Dokument eines technischen Objekts – es ist Zeuge gelebten Lebens und so etwas rührt einen an, selbst wenn einem ein so früher Wagen fremdbleiben mag.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Schon mit Scheinwerfer! Ein Renault von 1902/03

  1. Verbüürgt ist für die Zulassung 266-ZZ der 13.4.1904 im Dept. Seine-Maritime. Die 264-ZZ dürfte also am gleichen Tag vergeben worden sein, oder frühestens einen Tag vorher.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen