Zeit für den Bildungsurlaub: FN-Limousine um 1913

Kaum ist der Sommerurlaub zuende, geht es schon der nächsten verdienten Auszeit entgegen – dem Bildungsurlaub! Ich habe den – als theoretische Möglichkeit – erstmals während meiner kaufmännischen Ausbildung vor rund 35 Jahren kennengelernt.

Schon damals war mir klar, dass es keine besonders produktivitätsfördernde Idee ist, neben sechs Wochen bezahltem Urlaub auch noch eine Woche extra freizunehmen, um einer Sache nachzugehen, die jeder aus eigenem Interesse in seiner Freizeit verfolgen kann.

Wie dergleichen Arbeitnehmer“rechte“ mit dem Selbstbild des fleißigen und von intrinsischer Arbeitsmotivation erfüllten Deutschen vereinbar sind, habe ich mich von jeher gefragt.

Tatsächlich ist Deutschland unter den entwickelten Volkswirtschaften dasjenige, indem (durchschnittlich betrachtet) am wenigsten gearbeitet wird. Dann darf man sich nicht wundern, wenn der Median-Bewohner der BRD im europäischen Vergleich Schlusslicht ist, was liquides Vermögen, Eigenheimquote und Alterseinkünfte angeht.

Auch das vieldiskutierte Produktivitätsrätsel findet hier seine Lösung.

Der Mehrwert aus den enormen technologischen Fortschritten wird aufgezehrt durch das Zusammentreffen aus Arbeitszeitreduzierung, Abgabensteigerung und immer mehr wirtschaftlich betrachtet unproduktiven Jobs im öffentlichen Sektor.

Wenn ich als Freiberufler vor verschlossener Türen bei der Post stehe, weil mal wieder „Betriebsversammlung“ ist, denke ich: Geht die eine Stunde nicht nach Schalterschluss?

Das Gleiche gilt für den berüchtigten „Bildungsurlaub“.

Was ist eigentlich so schlimm daran, sich nach getaner Arbeit weiterzuqualifizieren? Macht Lernen, sich weitere Kompetenzen aneignen, selbstbewusster und klarer im Urteil werden, eigentlich keine Freude? Warum soll das ein Dritter bezahlen? Wenn einer durch Bildung seinen Marktwert steigert, profitiert er doch am Ende selbst davon.

Wenn ich heute nach längerer Zeit wieder einmal ein völllig kostenloses Bildungsmodul anbiete, dann nehmen Sie sich doch auch die Zeit dafür. Oder lässt sich das Lesen meines Blogs neuerdings auch als offizieller Bildungsurlaub anrechnen?

Die alten Hasen werden diesmal zwar wenig Neues erfahren, aber es gibt nun einmal auch Novizen (m/w/d usw.), welche noch am Anfang ihrer Laufbahn stehen, was das anspruchsvolle Berufsbild des Vorkriegsauto-Investigators angeht.

Das Schulungsmaterial für diesen leider (oder zum Glück?) noch nicht staatlich anerkannten Karrierepfad verdanke ich diesmal Uffe Mortensen – Sammler und Kenner aus Dänemark:

FN-Chauffeur-Limousine um 1913; Originalfoto: Uffe Mortensen

Ein prächtiges Foto in hervorragender Qualiät, nicht wahr? Gut gefällt mir der verschmitzte Gesichtsausdruck des Herrn vor dem Auto – ich komme am Ende rauf zurück.

Adressaten des nun folgenden Kurzlehrgangs sind all diejeinigen, die hier zwar einen schönen Oldtimer sehen, aber über eine Ansprache nach dem Motto „vielleicht 20er Jahre“ nicht hinauskommen. Allen übrigen sei die Beschäftigung mit anderen Bildungsgüter anempfohlen – das vielleicht Großartigste an unserer Zeit ist, dass uns alles offensteht.

Also, liebe Bildungsurlauber, los geht’s!

Prinzipiell ist das Bauchgefühl „um 1920“ schon einmal nicht schlecht. Wir hätten diese Fähigkeit, spontan aus der „Hüfte zu schießen“ nicht, wenn sie sich nicht in der Evolution überwiegend bewährt hätten. Also Mut zur Lücke und zur groben ersten Einordnung!

Aber treten wir noch weiter zurück: Was lässt dieses Auto als Vorkriegsfahrzeug erscheinen? Sind es die freistehenden Kotflügel und der senkrecht stehende Kühler?

Mmh, nicht ganz, bei einigen sehr konservativen Herstellern (darunter auch Mercedes-Benz) waren die Kotflügel und der übrige Vorderwagen bis in die 1950er Jahre ebenfalls getrennte Bauelemente, auch tat man sich schwer damit, den Kühler windschnittig zu gestalten.

Aber: Ohne Stoßstange fuhr nach dem 2. Weltkrieg niemand herum und solche Speichenräder nach Kutschenmachart gab es längst nicht mehr. Und die vorderen Blattfederausleger waren damals zwar vorhanden, doch unter dem Blech verborgen.

Nun ist also klar, dass wir es zweifellos mit einem Vorkriegswagen zu tun haben. Aber wo welchem Krieg eigentlich? In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es ja eine erschütternde Vielzahl davon allein in Europa.

Auch in der Hinsicht liefert unser Abschauungsobjekt hinreichend Details zur Bildung eines vorläufigen Urteils. Auf obigem Ausschnitt sieht man nämlich trommelförmige Scheinwerfer, wie sie eher auf Betrieb mit Karbidgas hinweisen.

Diese Methode der Lichterzeugung dominierte bis zum 1. Weltkrieg, war aber um 1920 von ganz wenigen Ausnahmen durch elektrische Beleuchtung abgelöst worden. Meine EHP-Voiturette von 1921 wurde laut zeitgenössischen Reklamen noch serienmäßig mit Gasbeleuchtung ausgeliefert, aber das war ein Kleinstwagen der 800ccm-Klasse.

Können wir demnach sicher sein, dass diese große Limousine eher vor dem 1. Weltkrieg entstanden ist? Nicht ganz. Denn grundsätzlich wäre die Form der Scheinwerfer auch mit elektrischer Beleuchtung vereinbar und bei US-Fabrikaten gab es geradezu eine Renaissance des Trommelscheinwerfers um 1925.

Dummerweise sieht man auf dem Foto von Uffe Mortensen nicht die bei Gasbetrieb zu erwartenden Löcher für den Abgasauslass auf der Oberseite der Scheinwerfer.

Das führt uns also nicht weiter. „Um 1920“ bleibt im Bereich des Möglichen. Schauen wir also, was sich sonst an Indizien zur Bildung eines fundierten Urteils finden lässt:

Der wohl entscheidende Part ist hier die aufsteigende Blechpartie zwischen dem Ende der Motorhaube und der Frontscheibe. Diese Gestaltung findet man bei den meisten europäischen Herstellern bestenfalls bis 1914, bei deutschen Fabrikaten oft nur bis 1912.

Nach dem 1. Weltkrieg jedenfalls war der Übergang zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe jedenfalls in aller Regel weitgehend „stufenlos“.

Aber wer war denn überhaupt der Hersteller? Woran lässt sich das erkennen? Nun, bei Automobilen vor dem 1. Weltkrieg fast immer nur an der Gestaltung der Kühlerpartie. Der übrige Aufbau folgte Konventionen des Kutschbaus und konnte nach Kundenwunsch beinahe beliebig variieren.

Ein wichtiger an dieser Stelle festzuhaltender Bildungsinhalt ist somit der: Man lasse sich bei frühen Vorkriegswagen nicht von noch so beeindruckenden Aufbauten ablenken. Vielmehr konzentriere man sich strikt auf Haube und Kühler:

Dies ist übrigens ein hübsches Beispiel dafür, dass man sein Urteil auch nicht allein auf eine Kühlerfigur gründen sollte – auf dem Sektor machten die Besitzer einst, was sie wollten.

Mein bereits erwähnter EHP kam etwa mit einer wunderbaren Kühlerfigur in begrenzter Auflage daher, die einen bronzenen Pegasus darstellt und sogar von einem anderen Auto stammte – einem ebenfalls französischen „Buchet“ – aber das nur nebenbei.

Im vorliegenden Fall verraten die horizontalen Streben auf dem Kühlergrill, dass wir es wieder einmal mit einem Fahrzeug der renommierten belgischen Marke FN zu tun haben.

Diese Kühlergestaltung findet sich dort von etwa 1910 bis Mitte der 1920er Jahre, was die Sache nicht unbedingt einfacher macht.

Nach der Lage der Dinge jedoch, unter Berücksichtigung aller Indizien, dürfen wir diese schöne Chauffeur-Limousine mit einiger Berechtigung als einen FN der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg ansprechen. Ich würde sagen von ca. 1912-14 oder kurz: um 1913.

Das Foto selbst, welches aus Dänemark stammt, mag etwas später entstanden sein – hier scheint „um 1920“ angebracht.

Und jetzt kommen wir auf den bereits erwähnten Fahrer zurück, der sich hier so herrlich selbstbewusst gibt, wie man das übrigens bei den Chauffeuren jener Zeit oft findet – diese Männer wussten genau, was sie wert waren:

Was mag dieser Mann mit seiner beeindruckenden Statur und souveränen Haltung wohl gedacht haben?

„Mein Chef Olav will sich einen neuen Wagen mit elektrischem Anlasser anschaffen, habe ich zufällig erfahren. Da wird er mich wohl auf die Straße setzen, so gern seine Holde sich von mir durch die Gegend kutschieren lässt.“

Unserer wackerer Chauffeur, wir geben ihm den traditionellen dänischen Namen Rasmus, hat aber vorgebaut. In seiner kargen freien Zeit hat er sich weitergebildet – viel gelesen und sich in die Facetten des Unternehmertums eingearbeitet.

Mit einem befreundeten Fahrer will er sein Erspartes in eine Werkstatt investieren und wenn es gut läuft, wollen die beiden auch Vertreter ausländischer Autofirmen werden.

„Da wird Olav aber staunen, wenn er demnächst ohne Fahrer dasteht. Soll er selber sehen, wie er seinen neuen Wagen zum Laufen bringt. Vieleicht wird er demnächst sogar Kunde in unserer Werkstatt…“

Man sieht: Was so eine private Weiterbildung und der Mut zum Risiko bringen kann! Die Herren von früher werden zum Bittsteller von morgen. Der Gedanke hat etwas, finde ich…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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