Der Führer in Farbe! Essex von 1930

Keine Sorge – ich will es nicht einem gewissen „Intelligenzblatt“ nachtun, das in seiner Historie auffallend oft „den Führer“ auf’s Titelbild gehievt hat. Ob sich dahinter eine Neurose der Macher oder der Leserschaft verbarg (oder beides), sei dahingestellt.

Auch unabhängig von dieser Obsession mit dem Untoten aus Deutschlands finsterster Zeit fand ich besagte Publikation, die von sich progressiv dünkenden Zeitgenossen bevorzugt wurde, schon als Schüler vor 40 Jahren als unseriös.

Die orientalische Erzählfreude in den oft endlosen Beiträgen zu reinen Sachproblemen der Zeit ging mir auf die Nerven und weckte Misstrauen. Den Begriff der Relotiade kannte man noch nicht, aber praktiziert hat man die Technik wohl schon damals.

Dennoch will auch ich heute mit einer (allerdings keineswegs billigen) Sensation aufwarten und dem „Führer“ ein ausführliches Porträt widmen – in Farbe und sogar schon von 1930.

Natürlich geht es um dabei um ein Auto, was haben Sie gedacht? Genug der Worte – machen Sie sich selbst ein Bild:

Deutschsprachiger Essex-Prospekt von 1930; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Wenn jetzt einer enttäuscht ist, weil er auf ganz anderes Material gehofft hat, muss ich sagen: Dieser „Führer“ war mit das Beste, was Deutschland damals passieren konnte, jedenfalls für diejenigen, die sich überhaupt ein Auto leisten konnten.

Die vom US-Hersteller Hudson anno 1919 geschaffene Marke Essex sollte das untere Ende des Markts abdecken und das gelang mit zunehmendem Erfolg, wenn auch nicht vergleichbar den gigantischen Stückzahlen der Marktführer Ford und Chevrolet.

Wirklich einschlagen sollten die ab 1927 ausschließlich mit 6-Zylindermotor ausgestatteten Essex-Wagen in Europa – und speziell für den deutschen Markt wurde in Berlin die Hudson Essex Motor Company m.b.H. gegründet.

Diesen Aktivitäten haben wir meinen Prospekt von 1930 zu verdanken, in welchem der Essex als Führer präsentiert wird – die Sprache ist erkennbar auf deutsche Gemüter abgestimmt.

Einigen Teilen des Textes merkt der Kenner aber durchaus die Übersetzung an:

Deutschsprachiger Essex-Prospekt von 1930; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Haben Sie den Verweis „Printed in Great Britain“ bemerkt? Auch in England war die Marke Essex sehr präsent und ich vermute, dass dem deutschen Prospekt eine englische (nicht eine amerikanische) Fassung zugrundelag.

Bisweilen stößt man auf Wortbildungen wie „letzter Geschmack“, die verraten, dass sich jemand bei der Übertragung des Originals nicht sicher war, was die deutsche Entsprechung war – hier wäre „höchster Geschmack“ oder „hervorragender Geschmack“ angebracht gewesen.

Weiter geht’s dem Führer entgegen:

Deutschsprachiger Essex-Prospekt von 1930; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Sind Sie auch am „wohl ausprobierten“ Modell hängengeblieben? Ein fähiger Übersetzer hätte weniger an der englischen Formulierung geklebt und „gut erprobt“ geschrieben.

Jaja, sicher alles richtig bemerkt, unser Blog-Wart ist schließlich vom Fach, aber wo bleiben die Bilder des Führers in Farbe?“ – Das mögen Sie zurecht einwerfen.

Ich sehe die Notwendigkeit und will Sie nicht länger auf die Folter spannen, auch wenn wir später zum Text zurückkehren werden.

Hier nun die erste von drei Seiten des Prospekts, welche die Karosserievarianten des Führers in grafisch ansprechender, wenn auch nicht ganz wirklichkeitsgetreuer Farbgebung zeigen:

Deutschsprachiger Essex-Prospekt von 1930; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Herrlich, nicht? Da sieht man doch gern über die grünen oder braunen Reifen hinweg, in jeder Hinsicht eine fragwürdige Farbgebung, meine ich.

Nur Nummernschilder mit weißem Untergrund wie in Deutschland üblich hätte man sich gewünscht – aber das lag nicht im Ermessen der Gestalter des deutschen Prospekts.

Weiter geht’s mit dem schicken Coupé und den mehr oder wenigen offenen Versionen – von der Cabriolimousine (hier als Brougham bezeichnet) über den sportlich daherkommenden Roadster (mein Favorit) bis hin zum Tourer, der damals kaum noch gekauft wurde:

Deutschsprachiger Essex-Prospekt von 1930; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Natürlich muss ich auch diese schöne Seite mit meiner Übersetzer-Brille betrachten.

Sehr schmunzeln musste ich bei „Steuerrad“, denn das englische „steering wheel“ wurde auch früher schon in deutschen Landen stets als Lenkrad bezeichnet.

Aber sei’s drum: Dergleichen Fehler machen auch die automatischen Übersetzerdienste unserer Tage mit schöner Regelmäßigkeit, weshalb ich so bald nicht arbeitslos werde.

Hier noch die dritte Seite mit den ab Werk verfügbaren Aufbauten nebst Erläuterungen:

Deutschsprachiger Essex-Prospekt von 1930; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Festzuhalten ist hier ein Detail, welches sich auf die Karosserie bezieht. Der Essex war wie praktisch alle Großserienwagen seiner Zeit eine Ganzstahlkonstruktion.

Im Unterschied zu der in Deutschland damals immer noch überwiegenden, enorm aufwendigen Kombination aus Holzgerippe und Blechbeplankung war dies die Voraussetzung für kostensenkende Massenproduktion.

Genau habe ich es nicht recherchiert, aber ich schätze, dass bereits ab 1920 der Großteil der Serien-PKW in den USA eine Ganzstahlkonstruktion aufwies. Die in die Millionen pro Jahr gehenden Stückzahlen in den Staaten sind anders nicht zu erklären.

Gleichzeitig ist es bemerkenswert – nicht nur bei Essex – wieviele Karosserievarianten die US-Hersteller ab Werk anboten.

Anbieter von Spezialaufbauten hatte es da schwer – außer in Deutschland, wo sich viele Käufer eines US-Wagens nur das Chassis liefern ließen und bei einem einheimischen Karosseriebauer einen Manufakturaufbau orderten.

Hier noch einige Ausführungen zur Technik des Essex des Modelljahrs 1930 – vielleicht hat ja ein Leser eine Idee, was mit den „nach außen gespreizten Federn“ gemeint ist:

Deutschsprachiger Essex-Prospekt von 1930; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Nicht zuletzt enthält mein originaler Essex-Prospekt aus dem Jahr 1930 eine prächtige Abbildung des Motors, der mit seinem für amerikanische Verhältnnisse moderaten Hubraum von 2,6 Litern gut 50 PS Leistung abwarf.

Speziell für Käufer, zu deren Nutzungsprofil Reisen im Gebirge gehörten, waren diese drehmomentstarken und auch vollbesetzt kraftvollen US-Automobilen den meisten deutschen Fahrzeugen derselben Preisklasse überlegen.

Deutschsprachiger Essex-Prospekt von 1930; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Der damals noch nicht vergiftete Begriff des „Führers“ war also insgesamt durchaus berechtigt, meine ich.

Dass der Essex des Modelljahrs 1930 nicht nur im Prospekt gute Figur machte, sondern tatsächlich sehr zufriedene Käufer in deutschen Landen fand, das zeigt dieses Foto, welches mir Leser Jürgen Klein in digitaler Form zur Verfügung gestellt hat:

Essex Standard Sedan, Modelljahr 1930; Originalfoto: Sammlung Jürgen Klein

Damit wäre der Führer aus dem Hause Essex wieder im gewohnten Schwarz-Weiß-Modus angelangt – den Sie von meinem Blog gewohnt sind, jedenfalls in automobiler Hinsicht.

Ansonsten erlaube ich mir alle möglichen Zwischentöne und bediene mich auch einer bisweilen farbenfrohen Ausdrucksweise – denn dass es möglichst bunt zugehe in unseren Tagen, ist ja sogar offizielle Doktrin, wenn ich das richtig verstehe.

Da muss auch Platz für den „Führer in Farbe“ sein – und sei es nur in der harmlosen Form eines alten Autoprospekts aus einer Zeit, bevor von sich eingenommene „Eliten“ im Verbund mit allzuwilligen Untertanen Deutschland und Europa in die Katastrophe stürzten…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

6 Gedanken zu „Der Führer in Farbe! Essex von 1930

  1. Nun doch noch etwas Technik zu den „gespreizten“ Hinterachsfedern.
    Ein Blick unter das Fahrzeug beantwortet die Frage.
    Die hinteren Aufhängungen der Blattfedern sind weiter außen als die vorderen Befestigungen, was zu einer Schrägstellung der Federn führt.
    Im Handbuch zu meinem 1929er heißt es:
    „Hinterfedern leicht gespreizt, um die Gefahr des Schleuderns zu verringern, ….“.
    Naja….

  2. Habe den Essex heute in Schwetzingen gesehen – solide Sechszylinder-Mittelklasse oberhalb von Model A & Co. In Deutschland damals ein teurer Luxus. Noch ein Wort zum Bart des „Führers“ – wie vieles nicht seine Erfindung (siehe Autobahn) – diese Barttracht war ab Mitte der 1920er Jahre ziemlich verbreitet, auch in Frankreich übrigens. Macht die Sache aber nicht besser. Und das mit dem „Führer“ hat ihm schon Mussolini (der „Duce“) vorgemacht. Zum Glück wusste man in Italien, wann es genug damit war….

  3. Nun wissen wir also, wo der verrückte Österreicher mit dem lächerlichen Bart seine Inspiration her hat – von einem amerikanischen Billigauto!

    Apropos, in Schwetzingen auf der Classic Gala dieses Wochenende steht so ein Essex.

  4. Wie gewohnt eine gekonnte und fundierte Replik! Den Begriff des Steuers kenne ich auch noch, nur speziell das „Steuerrad“ ist mir im automobilen Zusammenhang um 1930 noch nicht untergekommen. Was die letzten Zeilen betrifft, möchte ich daran erinnern, dass es nicht die Mehrheit der deutschen Wähler, sondern der Parlamentarier war, welche unseren Vorfahren den „Führer“ beschert hat. Es genügt stets eine gut organisierte Minderheit, um ein ganzes Volk zu unterjochen. Dass zuviele Deutsche sich im Lauf der Zeit mit dem totalitären Apparat arrangiert haben und ihm oft ohne Not entgegengearbeitet haben – darin sind wir uns vermutlich einig. Man könnte verzweifeln mit diesem vermaledeiten Erbe, aber letzlich sind wir im Hier und Jetzt gefragt, wenn es um das Verhältnis zwischen Staat und Individuum geht.

  5. Eine gewisse Relativierung der Behauptung unseres Blog – Wartes sei hier vorgebracht:
    Das Steuerrad sei „auch früher“
    schon als Lenkrad bezeichnet worden.
    Ein Blick in die (grandiose) zwei- bändige „Praxis des modernen Maschinenbaues“ , Ing. W. Häntzschel- Clairmont, Berlin 1912 verschafft Gewissheit: Hier werden unter „Steuerung des Wagens“, die Steuerungsorgane, u. a. das Handrad und deren Funktion dargestellt anhand des Beispiels eines 2 Zyl.- Fiat- Wagens (mit bereits schrägstehender „Steuersäule“).
    Da in diesem seinerzeit maßgebenden Werk und dessen
    1912 überarbeiteter Auflage wohl erstmals die (damals) neuen Verkehrsmittel von der S- Bahn, dem Kraftwagen und – Rad
    bis zu den damals erfolgreich erprobten Baumustern internationaler Flugpioniere
    erstmals ausführlich und mit diversen Zeichnungen und der Wiedergabe phot. Aufnahmen besprochen wurden
    kann man diesem wohl die Verwendung der damals üblichen Fachbegriffe zugute halten.
    Wie ich mich erinnere sprach auch mein 1927 zum „Wagenlenker“ ( oder Steuerer?)
    ausgebildeten Großvater noch vom “ Steuer“ – von dem ich zu seinem Entsetzen „beide Hände“
    weggenommen hätte.
    Mit 1,84 konnte das Käfer- Lenkrad ( oder Steuer?) locker mal kurzfristig zwischen die Knie geklemmt werden, was ihm wohl entgangen war.
    Es wird wohl so gewesen sein:
    Nachdem das deutsche Wahlvolk die Steuerung seines
    Daseins aus der Hand gegeben hatte und sich lieber von einem
    sog. Führer lenken ließ, beschränkten sich deutsche „Führerschein“- Inhaber darauf, als Wagenführer ihren Wagen zu lenken , wohin auch immer der Führer sie befahl ….

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