Um die klassische Bildung steht es nicht zum Besten in unseren Tagen. Das gilt insbesondere für die Vertrautheit mit den Mythen des klassischen Altertums, obwohl diese wie sonst nur Shakespeares Dramen oder Puccinis Opern zeitlose Stoffe bieten.
Speziell in den Werken des griechischen Dichters Homer tritt der Mensch in allen Lebenslagen als das zutage, was er ist – im Großen und Erhabenen ebenso wie im Kleinen und Niedrigen, im Triumph wie im Scheitern.
Hat man sich einmal mit dieser vermeintlich so entrückten Welt gründlich auseinandergesetzt, verfügt man über mentales Marschgepäck für’s Leben.
Mit zehn Jahren verschlang ich atemlos die komprimierten Fassungen von Homers Werken in Schwabs Sagen des Klassischen Altertums, etwas später las ich dann die komplette Übertragung ins Deutsche von Heinrich Voß – eine sprachliche Großtat per se.
Die Impulse dafür erhielt ich freilich nicht in der Schule, auf hessischen Gymnasien gab man sich damals eher „progressiv“, sondern im heimischen Bücherschrank. Darauf hingewiesen hat mich indessen niemand, ich habe die Schinken selbst entdeckt.
Das ist lange her, aber nicht zu lange. So kommt mir heute, nach weit über 40 Jahren, die Lektüre von damals wieder in den Sinn, und zwar die der Ilias, welche von der zehnjährigen Belagerung der Stadt Troja durch die Griechen erzählt.
Die Story ist schon im Hinblick auf den banalen Anlass brilliant – den Raub der schönen Helena durch den Trojaner Paris. Sieht man einmal von herbeikonstruierten Kriegen wie dem in Vietnam (und Nachfolgern) ab, sind die Auslöser oft irgendwelche Nichtigkeiten, lokale Grenzstreitigkeiten, Einzelereignisse wie Attentate usw.
Das Kriegführen war für die alten Griechen eine alltägliche Sache, man brauchte nur einen formalen Anlass dazu – wobei man problemlos die Verbündeten und Gegner wechseln konnte – ein zynisches Spiel, das wirtschaftlicher Blüte nicht im Weg stand.
Doch bevor ich ganz vom Kurs abkomme wie einst Odysseus auf seiner Irrfahrt nach dem Sieg über Troja, will ich einen neuzeitlichen Wiedergänger der tragischen Helden ins Visier nehmen, deren Aufstieg und Untergang die alten Griechen treffsicher beschrieben haben.
Einer davon, den viele auch mit klassischer Bildung nicht mehr parat haben, ist auf diesem Foto zu sehen, welches ich kürzlich für den üblichen Fünfer (plus Porto) erworben habe:

Diese Limousine mit Zulassung in den USA bereitete mir zunächst einige Schwierigkeiten. Ich fand recht ähnliche Wagen einiger amerikanischer Hersteller, die um die Mitte der 1920er Jahre gebaut wurden. Doch keiner wollte 100%ig passen.
Ein heißer Kandidat war der Nash Six von 1925/26, doch die vier Radbolzen an dem Wagen auf meinem Foto sprachen dagegen. Nach einer Weile des Suchens erbarmte sich Fortuna, meine Begleiterin seit vielen Jahren, und ließ mich beim Nash „Light Six“ von 1926 innehalten.
Der wies ebenfalls nur vier Radbolzen auf wie das damals nur US-Billigheimer von Chevrolet & Co. besaßen. Ich ging der Sache nach und fand mich plötzlich im Trojanischen Krieg wieder!
Charles Nash, der Besitzer der gleichnamigen Firma und nebenbei eine Figur, die den American Dream verkörperte wie kaum ein anderer Autobauer, hatte 1924 gerade das Werk der gescheiterten Marke Mitchell erworben und wollte dort ein neues Auto der Preisklasse unter 1000 Dollar bauen, wie es Nash bis dato noch nicht anbot.
Nash hatte große Erwartungen für den neu entwickelten Wagen und meinte, ihm einen Namen geben zu müssen, der „heroisch“ klang. Leider scheint es um seine klassische Bildung bzw. die seiner Berater nicht zum Besten gestanden zu haben.
Die Wahl fiel jedenfalls auf „Ajax“, womit man auf den griechischen Heros anspielte, der im Trojanischen Krieg eine Rolle spielte. Vermutlich hatte man die Ilias nur oberflächlich konsumiert, sonst hätte man diesen Namen gemieden.
Zugegeben: Über 40 Jahre nach der letzten Lektüre wusste ich auch nicht mehr genau, was es mit Ajax bei Homer auf sich hatte, aber ich hatte noch eine Ahnung, dass es eine tragische Figur war – keine Kunst, da dies auf alle Protagonisten zutraf, mit zwei Ausnahmen: dem Griechen Odysseus und dem Trojaner Aeneas.
Vermutlich bekommt man noch das Geschehen um den Griechen Achill, seinen Freund Patroklos und den Trojaner Hektor zusammen, der letzteren tötete. Auch erinnert man sich an den Zorn des Achill (der eigentliche Titel der Ilias), der daraufhin Hektor im Zweikampf besiegte und ihn dreimal mit seinem Streitwagen um die Mauern der Stadt schleifte.
Achill wiederum wurde später seine Ferse zum Verhängnis, sein einziger verwundbarer Körperteil (Siegfried lässt grüßen). Bei der Bergung seines Leichnams spielten Odysseus, Menealos (Helenas Ehemann) und Ajax eine Rolle.
Anschließend entbrannte ein Hahnenkampf unter den Machos um die Frage, wer dabei den größten Anteil hatte. Um es kurz zu machen: Ajax fand sich ungerecht behandelt (wir kennen das: die Ehre und so…) und wurde von den Göttern mit Wahnsinn geschlagen.
Rasend brachte er eine Herde wehrloser Schafe um, die er für seine Gegner hielt. Als er wieder zur Sinnen kam, tötete er sich aus Scham selbst.
So, und jetzt frage ich Sie: Würden Sie einer neuen Automarke mit dem Namen Ajax eine glänzende Zukunft bescheinigen? Vermutlich nicht, wenn Sie sich an die Ilias und nicht nur nur die Fernsehwerbung für einen gleichnamigen Allzweckreiniger erinnern.
Tja, die Götter sind gerecht und bestrafen Hybris mit Vernichtung, so wussten schon die alten Griechen. Die Nash-Tochtermarke Ajax erzielte zwar anno 1925 einen Achtungserfolg in der Presse, aber 25.000 abgesetzte Wagen waren für US-Verhältnisse ein Desaster.
Ja, sie haben richtig gelesen. Allein unter der Marke Nash, die keineswegs zu den ganz Großen gehörte, wurden im Jahr 1925 rund 85.000 Wagen verkauft. Das war damals ein Vielfaches der gesamten deutschen Autoproduktion.
Charles Nash machte – wie einst die Götter im Olymp – kurzen Prozess mit Ajax. Die Marke wurde im Lauf des Jahres 1926 beerdigt. Allerdings lebten – und das ist der wesentliche Unterschied zu dem tragischen griechischen Helden – die Ajax-Wagen als Nash „Light Six“ fort. Dazu wurden sie schlicht mit Nash-Emblemen auf Kühler und Nabenkappen versehen.
Mit seinem kleinen Sechszylinder (40 PS Leistung) überlebte der „Ajax“ von einst im Programm von Nash immerhin bis 1927, Nachfolger wurde der Standard Six (45 PS).
Ich kann nicht ausschließen, dass mein Foto statt eines Ajax von 1925/26 bereits einen auf Nash umgelabeltes Exemplar ab 1926 zeigt – das Kühleremblem ist kaum eindeutig erkennbar.
Doch für die Erinnerung an den griechischen Helden und sein zur Demut mahnendes banales Ende ist die Aufnahme gut genug. Hybris ist ein zeitloses Thema, es halten sich immer wieder Leute für große Helden und können mit Erniedrigung nur schwer umgehen.
Die Strafe dafür mag heute bisweilen länger auf sich warten lassen als im Fall des Ajax…
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Ihre Abhandlung der griechischen Mythologie am Beispiel der Ilias hat mich amüsiert und zugleich an meinen Onkel Gerd, den Mann der ehemaligen Automobilsportlerin Ilse Beckmann, erinnert. Er war Musterschüler eines Breslauer humanistischen Gymnasiums und hat dort Alt-Griechisch gelernt.
Anlässlich eines meiner gelegentlichen Besuche Ende der 1950er Jahre in Bad Kissingen, wo seine Familie wohnte, meinte er, mir den Anfang der Odyssee beibringen zu müssen. Damals war ich als etwa 12-Jähriger noch etwas aufnahmebereiter und lernfähiger und so bleibt mir bis heute der Anfang in Erinnerung:
Andra moi ennepe, Moụsa, polỵtropon, hos mala polla
planchthe, epeị Troies hieron ptoliẹthron ….
Für mich als Schüler einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Oberrealschule (Oberstdorf/Allgäu) war das unnützes Wissen, aber ich kann es einfach nicht vergessen. Die Lektüre Ihres heutigen Blog-Beitrags weckte den vor Ewigkeiten gelernten Text wieder auf. Danke, Herr Schlenger!