Zu Unrecht vergessenes Erfolgsmodell: Horch 10/50 PS

„Es geht ungerecht zu in Deutschland“, diese bedeutende Feststellung machte kürzlich ein zu Höherem berufener Politiker, dessen Name dem Verfasser gerade entfallen ist.

Aus Sicht der Freunde von Vorkriegsautos, um die es auf diesem Oldtimerblog geht, sind ebenfalls schwerwiegende Ungerechtigkeiten zu beklagen.

Beispielsweise kann nicht jeder eines der grandiosen 8-Zylinder-Cabriolets haben, die die sächsische Manufaktur Horch einst in den 1930er Jahren baute:

Horch_930_V_Galerie

Horch 930 V; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Immerhin kann man auf einschlägigen Veranstaltungen eine beachtliche Zahl an Überlebenden dieser durch den 2. Weltkrieg dezimierten Gattung bestaunen.

Vom oben gezeigten Typ 930 V wurden von 1937 bis 1940 über 2.000 Stück gefertigt. Damit gehört das Modell zu den meistgebauten Horchs überhaupt.

Doch ein anderes Zwickauer Erzeugnis, das noch etwas öfter produziert wurde – in über 2.300 Exemplaren – bekommt man heute praktisch nie zu sehen. Das liegt vor allem daran, dass es sich nicht um einen der prestigeträchtigen 8-Zylinder handelte.

Hinzu kam die für ein Luxusauto bemerkenswert einfallslose Gestaltung. Bei anderen Hervorbringungen derselben Ära – den Bauhaus-Produkten – würde dies heute als grandiose Schlichtheit gepriesen.

Gemeint ist also ein Horch aus den 1920er Jahren, als Walter Gropius mit seiner funktionalistischen Bauhaus-Ideologie die Zerstörung unserer Großstädte durch gesichtslose Einheitsarchitektur vorbereitete.

Vorgestellt haben wir das Fahrzeug, um das es heute geht, schon vor längerer Zeit. Allerdings fand sich damals kein besseres Foto als dieses hier:

Zwar ließ sich dieser Tourenwagen als Horch 10/50 PS identifizieren, doch dass die Kühlerpartie verdeckt ist, war unbefriedigend. Heute können wir diesem Mangel ein Ende bereiten.

Zuvor sei noch einmal an die technischen Qualitäten des von 1924-26 gebauten Wagens erinnert: Der Horch 10/50 PS hatte nur einen 2,6 Liter messenden Vierzylindermotor, aber einen von der feinsten Sorte.

Die im Zylinderkopf hängenden Ventile wurden von einer obenliegenden Nockenwelle betätigt, die ihrerseits von einer Königswelle angetrieben wurde – damals die präziseste und zugleich aufwendigste Ventilsteuerung.

Der Motorblock bestand aus einer Aluminiumlegierung, auch die Kolben waren aus Leichtmetall gefertigt. Hochbelastete mechanische Elemente wurden nitridiert, also mit Stickstoff oberflächengehärtet.

Der Antrieb genügte trotz des Gewichts von bis zu 2 Tonnen (je nach Aufbau) für 100 km/h Spitze – aber das war ein theoretischer Wert. Durchzugsvermögen und Steigfähigkeit waren wichtiger, dazu passend besaß der Horch 10/50 PS serienmäßige Vierradbremsen.

Mit diesem technischen Glanzstück machte Horch seinem hervorragenden Ruf alle Ehre und so wurde das 10/50 PS-Modell zum ersten größeren Absatzerfolg der Zwickauer, obwohl die Banalität des Serienaufbaus schwer zu übertreffen war:

Horch 10/50 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Fast könnte man meinen, Bauhaus-Diktator Gropius habe sich bereits hier einmal an einem Automobil versucht und nicht erst 1930 am Adler Standard 6 bzw. 8.

Ähnlich schlichte Kühlerformen fanden sich damals auch bei anderen Herstellern, zum Beispiel Fiat. Doch dort waren sie mit klassischen Proportionen verknüpft, die Linien waren konzentrierter und das Ganze saß wie ein italienischer Maßanzug.

In England oder gar Frankreich wäre ein Hersteller von Luxuswagen mit so einem „Kohlenkasten“ jedenfalls durchgefallen, und auch in Deutschland fanden sich bei Nischenherstellern wie Simson und Steiger weit raffiniertere Linien. 

Doch möglicherweise kam gerade die Schlichtheit des ersten Horchs, der nach dem 1. Weltkrieg einen Flachkühler statt des zuvor modischen Spitzkühlers trug, gut an. Denn mit diesem unscheinbaren Auto wirkte man nicht wie ein „Kriegs- und Krisengewinnler“, was im politisch spannungsreichen Alltag der 1920er Jahre Vorteile hatte.

Auch wenn das Modell weit von den späteren Großtaten der Karosseriegestalter bei Horch entfernt ist, werfen wir einen näheren Blick auf die Frontpartie, an der sich die typischen Elemente gut nachvollziehen lassen:

Förmlich ins Auge springt auf diesem Ausschnitt das Markenemblem, ein gekröntes H, das Horch bei diesem Modell erstmals verwendete.

Ein weiteres Merkmal, das bei der Identifikation hilft, ist die sehr weit unten angebrachte Reihe an Luftschlitzen in den Flanken der Motorhaube. Horch-typisch, zumindest um diese Zeit, sind außerdem die pilzförmigen Nabenkappen.

Auffallend ist der stark gebrauchte Zustand des in Sachsen (Kennung „IM“) zugelassenen Horch 10/50 PS. Offenbar bereitete es den Besitzern des Wagens keine Probleme, mit einem verbogenen Schutzblech herumzufahren.

Zu solcher Gleichgültigkeit erzogen die damaligen Straßenverhältnisse mit reichlich Dreck auf den Chausseen und ein entspannteres Verhältnis zu Spuren des Gebrauchs.

Der eigentliche Luxus bestand darin, über ein derartiges Vehikel zu verfügen, das einen unabhängig von Zugfahrplänen und vom Wetter machte.

Besitzer solcher Wagen reisten viel, denn dabei entfaltete sich der eigentliche Nutzen – nach Gusto durch die Welt fahren zu können, sei es über gepflasterte Alleen an die Strände der Ostsee oder über geschotterte Alpenpässe an den Gardasee.

Das malträtierte Schutzblech verrät auch, dass diese Karosserie möglicherweise nicht im Werk gefertigt wurde. Die Kühlerpartie ist zwar typisch für das Modell und dürfte kaum variiert worden sein, aber der übrige Aufbau scheint woanders entstanden sein.

Dafür sprechen die vorn flach und abgerundet auslaufenden Schutzbleche. Bei Werkskarosserien sah das nämlich so aus:

Neben den spitz zulaufenden Kotflügeln sehen wir die mächtigen Trommeln der Vorderradbremsen, die sich Mitte der 1920er Jahre durchzusetzen begannen.

Interessant ist auch, dass die typischen Nabenkappen hier verchromt sind. Könnte das ein Hinweis auf eine spätere Entstehung des eingangs gezeigten Horch 10/50 PS sein?

Bei solchen Details muss man sich jedoch bewusst sein, dass man es mit Manufakturwagen zu tun hat. Da darf man nicht erwarten, dass einer wie der andere aussah, schon gar nicht nach ein paar Jahren der Nutzung.

Außerdem wurden Automobile schon immer gern „individualisiert“ oder auf „aktuell“ getrimmt. Das abschließende Foto eines Horch 10/50 PS-Tourers ist ein Beispiel:

Horch 10/50 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Was man hier schön nachvollziehen kann, ist die schiere Größe des Horch 10/50 PS. Selten ist das kolossale Platzangebot eines großen Tourenwagens so gut zu erkennen.

Hier finden sechs Personen mühelos Platz, was auch bei Limousinen dieser Klasse Standard war. Auf Reisen war immer noch Platz genug für das Gepäck von vier Insassen.

Am vergessenen Konzept des Tourenwagens, der bis Mitte der 1920er Jahre das Automobil schlechthin darstellte, lässt sich vielleicht am ehesten veranschaulichen, was sich in den letzten 90 Jahren in punkto Mobilität geändert hat.

Aus dem für die Wunder von Stadt und Land offenen Wagen, die ein zuvor undenkbar privilegiertes Reisen ermöglichten, wurden geschlossene, unübersichtliche Kabinen auf vier Rädern, die vor allem dem individuellen Transport abhängig Beschäftigter zum Arbeitsplatz dienen.

Kein Wunder, dass die Besitzer heutiger Gefährte, die bizarre Bezeichnungen wie „Captur“ und „Cactus“ tragen und eine wirre Formensprache aufweisen, kein Bedürfnis verspüren, ihre zum baldigen Austausch bestimmten Mobile zu verschönern.

Dagegen meinte der einstige Besitzer der Horch 10/50 PS Tourenwagens, zumindest in einem Detail mit der Zeit gehen zu müssen:

Dieser Horch, dessen Bleche ebenfalls etliche Veränderungen erfahren haben, die moderne Besitzer zur Weißglut bringen würden, ist eindeutig ein 10/50 PS-Modell.

Doch auf dem Kühler trägt er die 1928 für die 8-Zylinder-Typen eingeführte Kühlerfigur, einen geflügelten Pfeil – heute der Alptraum aller TÜV-Prüfer.

Auch diese Aufnahme gibt Anlass, über die Originalitäts-Ideologie nachzudenken, die hierzulande oft zur Rückrüstung auf den Auslieferungszustand führt – auch bei Autos, die komplett und strukturell intakt die Zeiten überdauert haben.

Im Fall des Horch 10/50 PS scheint die Frage „Restaurieren oder Erhalten?“ aber ohnehin eine eher theoretische zu sein. Denn von diesem einstigen Erfolgsmodell haben wohl kaum welche die Zeiten überdauert.

Hinweise auf noch existierende Wagen dieses Typs – ganz gleich in welchem Zustand – sind daher hochwillkommen.

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and http://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

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