1927: Vier Mann und ein UNIC auf Pilgerfahrt

Zugegeben, der Titel dieses Blogeintrags klingt ein wenig mysteriös – aber er trifft genau das, worum es heute geht.

Wer bei „Oldtimern“ nur an Bentley, Bugatti, Mercedes oder Porsche denkt, wird mit dem Markennamen UNIC kaum etwas anfangen. Das ist kein Vorwurf, eher Ergebnis der beschränkten Sichtweise einschlägiger Publikationen hierzulande.

Ein vollständigeres Bild der unglaublichen Vielfalt auf den Straßen Europas in der Vorkriegszeit ergibt sich, wenn man die Bilder sprechen lässt, die uns die aktuell abtretende Generation in ihren Fotoalben hinterlässt.

Da findet man beispielsweise so etwas:

Unic_L-Type_c.1925_Galerie

UNIC L-Type; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist eine Aufnahme, wie sie vollkommener kaum sein könnte – ein klassischer Tourenwagen in dramatischer Landschaft perfekt in Szene gesetzt, der Abzug kontrastreich und knackig scharf.

Hier hat jemand vor über 90 Jahren ganze Arbeit geleistet – solche formale und technische Qualität mit einer analogen Kamera abzuliefern, erinnert daran, dass digitale Technik kein Ersatz für Geschmack und Können ist.

Diese Aufnahme hat es – abgesehen von ihrer phänomenalen Qualität – auch sonst in sich. Am einfachsten ist noch die Identifikation des Wagens auf dem Foto:

UNIC steht vorn auf dem Grill, der von einer markanten Kühlermaske eingefasst ist. UNIC, das war einer von über tausend Autoherstellern, die es einst in Frankreich gab. Über tausend? In der Tat, kein Schreibfehler…

Die Firma UNIC wurde 1905 in einem Vorort von Paris von George Richard  gegründet, der seit der Jahrhundertwende zusammen mit einem gewissen Henri Brasier Rennwagen gebaut hatte.

UNIC war eine ganze Weile erfolgreich mit dem Bau von Tourenwagen und Taxis. 1925 veröffentlichte man in Frankreich diese schöne Reklame:

UNIC-Reklame in „L’Illustration“, 1925; aus Sammlung Michael Schlenger

Ungeachtet der stark stilisierten Darstellung des UNIC in dieser Werbeanzeige erkennt man die formale Übereinstimmung mit dem Wagen auf unserem Foto.

Wahrscheinlich haben wir es mit einem UNIC L-Typ zu tun, der Mitte der 1920er Jahre mit 4-Zylindermotoren mit bis zu 3,5 Liter Hubraum angeboten wurde.

Aggregate mit mehr Zylindern stellte UNIC erst ab 1928 vor, und zwar Reihenachter mit 2,5 Liter Hubraum. Ab 1934 beschränkte sich UNIC wieder auf Vierzylinder.

Die sorgfältige Verarbeitung der UNIC-Wagen und die geringen Stückzahlen hatten einen hohen Kaufpreis zur Folge, den immer weniger Kunden zu zahlen bereit waren. 1938 entstanden die letzten UNIC-PKW.

Zurück zu unserer Aufnahme der 1920er Jahre. Wo könnte das Foto einst entstanden sein? Der Verfasser tippte anhand der kargen Landschaft auf die Balkanregion oder Spanien.

Gewissheit brachte die Vorstellung der Aufnahme auf der führenden europäischen Vorkriegsauto-Website www.prewarcar.com. Ein Leser konnte aufgrund folgenden Bildausschnitts den entscheidenden Hinweis geben:

Die seitlich offenen Passagierwaggons im Hintergrund, die von einer Dampflok geschoben werden, ermöglichten die Identifikation der Örtlichkeit.

Das Foto entstand demnach an der Strecke der Zahnradbahn, die seit 1892 zum Benediktinerkloster Montserrat in Katalonien (Spanien) hinaufführt, das bis heute ein bedeutender Wallfahrtsort ist.

Die Strecke ist inzwischen elektrifiziert, folgt aber noch der alten Trasse durch die spektakuläre Berglandschaft. Anhand von Google-Earth lässt sich die Strecke, die in Monistrol de Montserrat beginnt, gut nachverfolgen.

Nur einmal kreuzt die Schienentrasse eine Straße, und an dieser Stelle (Koordinaten: 41°36’42.6″N 1°50’08.9″E) entstand vor über 90 Jahren unser Foto.

Verändert hat sich bloß eines: Die Eisenbahn überquert die Straße heute auf einer Brücke rund 50 Meter unterhalb der einstigen Kreuzung von Schienen- und Fahrweg. Doch der alte Streckenverlauf ist noch zu sehen.

Bei Google-Earth sind dreidimensionale Aufnahmen verfügbar, auf denen sogar die alte Böschungsmauer zu erkennen ist, die auf unserem Foto links abgebildet ist.

Dass wir den einstigen Aufnahmeort eines Vorkriegsautofotos auf ein paar Meter genau bestimmen können, ist ganz außergewöhnlich. Bemerkenswert ist aber noch etwas: Auf dem Schild an der Frontscheibe des UNIC steht vorn „Reserviert“.

Das spricht dafür, dass dieser Wagen für einen Ausflug deutschsprachiger Reisender vorgesehen war, die wohl im 40 km entfernten Barcelona wohnten. Die Zulassung des UNIC verweist jedenfalls aus Barcelona und das Jahr 1927.

Ob die Insassen an diesem Tag auch eine Pilgerfahrt zum Kloster absolviert haben, muss offenbleiben. Die Straße – die BP-1121 – führt jedenfalls nicht direkt dorthin.

Dass die vier Herren mit ihrem Fahrer aber nur zufällig in dieser unwirtlichen Gegend unterwegs waren, ist unwahrscheinlich. Vielleicht weiß ja ein Leser etwas mit dem Hinweisschild anzufangen, das auf dem Foto von hinten zu sehen ist:

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and http://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

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