„Downsizing“ im Jahr 1914: Audi Typ G 8/22 PS

Bei der Beschäftigung mit der Frühzeit des Automobils stößt man immer wieder auf Phänomene, die heutzutage von Werbeleuten – korrigiere: Marketing-Professionals – als großer Geistesblitz verkauft werden.

So standen der aktuell vielgerühmten „E-Mobility“ vor über 100 Jahren in den USA jede Menge Elektroautos gegenüber, die den damaligen Bedürfnissen perfekt entsprachen.

Die bis heute ungelösten Probleme wie hohes Gewicht, exorbitante Kosten, lange Ladedauer, geringe Energiedichte und Reichweite sowie abnehmende Batteriekapazität spielten damals keine Rolle.

Ein Automobil war ohnehin ein Luxusgegenstand. Überhaupt autonom unterwegs sein zu können, war ein Privileg und gegenüber den frühen Benzinkutschen waren Elektroautos ausgereift und einfach zu bedienen – wie gesagt, vor über 100 Jahren.

Ein anderes Schlagwort ist das „Downsizing“ – im Prinzip der Versuch, Bauteile oder ganze Aggregate ohne nennenswerte Nutzeneinbußen zu verkleinern und damit wirtschaftlicher zu machen.

In die Hose geht das Ganze, wenn man über Jahrzehnte errungene Standards wie großzügige Kofferräume, reichlich Beinfreiheit und gute Übersichtlichkeit für gestalterische Exzesse opfert, wie das in der Gegenwart der Fall ist.

Kein Wunder, dass so viele Leute im Alltag Wagen der 1980/90er Jahre nutzen, die moderne Fahrwerke, Sicherheit und viel Platz bieten…

In der Frühzeit des Automobils bedeutete „Downsizing“ dagegen, dass man versuchte, Standards der Oberklasse in kleinerem Format zu verwirklichen. Das galt für Proportionen, Verarbeitung und Leistungsfähigkeit.

Mitunter waren die Wagen, die dabei herauskamen, in mancher Hinsicht besser als das auf den ersten Blick höherwertige und teurere Vorbild. Ein Beispiel dafür sehen wir auf folgender historischen Aufnahme:

Audi_Typ_G_8-22_PS_um_1920_1_Ausschnitt

Audi Typ G 8/22 PS; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn die genaue Identifikation kühn erscheint, lässt sich dieser Tourenwagen als Audi des Typs G 8/22 PS ansprechen. Den Beweis führen wir noch anhand einer zweiten Aufnahme desselben Wagens, also etwas Geduld.

Nach der Gründung durch August Horch im Jahr 1910 brachte Audi eine Reihe konstruktiv und äußerlich ähnliche Modelle auf den Markt, die sich durch stetig wachsende Leistung auszeichneten.

Auf den Erstling, den Audi A mit 22 PS, folgten die Typen B (28 PS), C (35 PS), D (45 PS) und E (55 PS). Damit ging ein Hubraumwachstum auf zuletzt 5,7 Liter einher, bei gleichbleibender Zylinderzahl (4) und im Prinzip unveränderter Bauweise.

Doch 1914 entschied man sich zu einem radikalen Schritt: Auf einem technisch weitgehend identischen, aber verkleinerten und leichteren Fahrgestell montierte man einen neukonstruierten Motor mit einem Hubraum von nur 2,1 Liter.

Dieses Aggregat sollte bis in die frühen 1920er Jahre der modernste Antrieb bleiben, den Audi im Angebot hatte. Hier wurden erstmals alle vier Zylinder in einem glattflächigen Block zusammengefasst.

Den 1. Weltkrieg über und bis 1926 baute Audi über 1.000 Wagen des G-Typs. Nur ein einziger davon soll noch existieren, so das Standardwerk „Audi Automobile 1909-1940“ von Peter Kirchberg und Ralf Hornung.

Umso wertvoller erscheint da jedes Originalfoto dieses Typs. Damit wären wir bei Aufnahme Nr. 2 des hier vorgestellten Wagens:

Auf diesem Foto finden sich die Details, die eine präzise Identifikation des Wagentyps erlauben.

Dass wir es mit einem Audi aus der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg zu tun haben, verrät der eigenwillige Spitzkühler mit dem leicht nach unten geneigten ovalen „Audi“-Emblem an der Front der Kühlermaske.

Damit kommen freilich alle Vorkriegstypen in Frage, die Audi ab 1919 weiterbaute. Leider hilft uns das Audi-Standardwerk von Kirchberg/Hornung in diesem Fall nicht weiter.

Doch vor einigen Tagen kam mit der Post ein Buch, an dessen Entstehung beinahe 40 Jahre zuvor ebenfalls Peter Kirchberg beteiligt war.

Er verfasste 1975 in der damaligen „DDR“ zusammen mit Paul Gränz ein bis heute unerreichtes Werk über die einstigen Automarken auf ostdeutschem Boden: „Ahnen unserer Autos“.

Darin findet sich auf Seite 42 der 2. Ausgabe von 1981 eine Abbildung des Fahrgestells des Audi Typ G 8/22 PS mit Kühler und Motor. In allen Details stimmt diese Aufnahme mit der Ausschnittsvergrößerung auf unserem Foto überein:

Wir sehen hier denselben glattflächigen Motorblock mit den waagerechten Kühlrippen, wie ihn in den ersten Jahren nach dem 1. Weltkrieg nur der kompakte Audi Typ G 8/22 PS besaß.

Auch die markante Formgebung des Kühlwassergehäuses, in der sich die äußere Kühlerform spiegelt, sowie der steil nach unten reichende Schlauch bzw. Flansch am Motor stimmen präzise überein.

Erst 1921 sollte Audi mit dem Typ K einen moderneren Wagen vorstellen, ohne annähernd ähnliche Stückzahlen zu erreichen. Nur die Audi-Frontantriebsmodelle der 1930er Jahre hatten vergleichbaren Erfolg.

Tatsächlich gehören die Vorkriegs-Audis zu den seltensten deutschen Automobilen jener Zeit – man findet in der heutigen Klassikerszene eher einen Horch als einen der konkurrierenden Wagen aus Zwickau (!). Ja, wer bei Audi spontan an Ingolstadt denkt, muss leider nachsitzen…

Solche Aha-Effekte sind beinahe an der Tagesordnung, wenn man sich einmal auf die Welt der Vorkriegsautos einlässt. Dort gab es einst eine Vielfalt, von der wir heute entgegen der offiziellen Propaganda nur träumen können.

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and http://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen