Dem Zenit ganz nahe: Ein Oldsmobile von 1935

Dass alles Menschenwerk vergänglich ist und das große Rad der Zeit alles unter sich zermalmt, ist kein schöner Gedanke – aber einer, der dem Einzelnen dabei hilft, von ihm nicht beeinflussbares Geschehen mit Fassung zu tragen.

So wie die Errungenschaften einer Hochkultur wieder verlorengehen, wenn die sie tragenden Kräfte nachlassen oder verdrängt werden, so ist auch auf der Ebene der technischen Zivilisation keine Führungsposition von Dauer.

Über kurz oder lang erlahmt auf dem Zenit des Erfolgs der Leistungswille, Bequemlichkeit und Nachlässigkeit halten Einzug – machen Platz für junge, hungrige und rücksichtslos Schwächen ausnutzende Konkurrenten.

Das Bild trifft auch auf die US-Automobilindustrie zu, die in den 1930er Jahren einen uneinholbar erscheinenden Vorsprung hatte. Niemand sonst baute so großzügige, leistungsfähige und modern gestaltete Wagen für den Massenmarkt.

Wer damals in Europa ein souverän motorisiertes, prestigeträchtiges Auto suchte, aber nicht die Mittel für die teuren Manufakturwagen hatte, die viele lokale Anbieter im Programm hatten, kam an den „Amerikaner“-Wagen kaum vorbei.

Das galt erst recht für Länder, die über keine nennenswerte heimische Automobilindustrie verfügten. Ein schönes Beispiel dafür ist dieser eindrucksvolle Oldsmobile von 1934, den es einst in die Bergwelt der Schweiz verschlagen hatte:

Oldsmobile_1934_Schweiz_Ausschnitt

Oldsmobile von 1934; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Regelmäßige Leser dieses Vorkriegsauto-Blogs werden sich an den Wagen erinnern – wir haben ihn erst kürzlich ausführlich vorgestellt (Bildbericht).

Man präge sich bei dieser Gelegenheit die Linienführung des Wagens ein: den schrägstehenden Kühlergrill und die damit in Kontrast stehende, fast vertikale Frontscheibe. Auch auf die tropfenförmigen Positionsleuchten und die kantigen Formen des hinteren Kotflügels sei verwiesen.

So sah – wie gesagt – der Oldsmobile des Modelljahres 1934 aus. Wie es der Zufall will, verdanken wir einer Leserin ein zauberhaftes zeitgenössisches Foto aus Familienbesitz, das den Nachfolger aus dem Jahr 1935 zeigt:

Oldsmobile von 1935; Originalfoto aus Privatbesitz

Natürlich ist das Auto hier nur Staffage, der Fotograf hatte es auf die beiden jungen Damen abgesehen und sie perfekt im Schärfebereich des Objektivs platziert. Ob die beiden Verwandte oder Freundinnen waren, wissen wir nicht.

So sehr sich ihre Kleidung ähnelt, so unterschiedlich sind sie vom Typ her – die eine freundlich-verhalten, beinahe schüchtern und auf sich selbst bezogen, die andere gewinnend, selbstbewusst und raumgreifend.

Zurück zum Auto im Hintergrund. Wie bei der eingangs gezeigten Aufnahme des Oldsmobile von 1934 aus der Schweiz bedurfte es einiger Recherchen, um den Hersteller dieses Wagens und das Modelljahr zu identifizieren.

Am Ende stellte sich das Gefährt als Oldsmobile aus dem Jahr 1935 heraus. Der Vergleich mit dem nur ein Jahr älteren Modell zeigt, was sich alles getan hatte:

Zwar steht der Kühlergrill nicht mehr ganz so schräg im Wind und hat einige der Zierstreben verloren. Doch ist er deutlich gerundeter und besser an die Karosserie angepasst.

Damit korrespondiert die nun stärker geneigte und pfeilförmig geteilte Frontscheibe, die man am Vorgänger vermisst. Die Kotflügel sind rundlicher und voluminöser  – sie lassen die Radhäuser der späteren 1930er Jahre ahnen, die mit der Karosserie zu verschmelzen begannen.

Wenig getan hatte sich bei den tropfenförmigen Scheinwerfern und der windschnittigen Gestaltung der seitlichen Öffnung in der Motorhaube.

Doch die Positionslampen auf den Vorderschutzblechen künden vom Einfluss eines Entwurfs, der viele Elemente vorwegnahm, die man später am Chrysler Airflow und den Stromlinienwagen von Tatra und Volkswagen wiederfindet.

Die Rede ist vom Briggs-Prototyp von 1933, den wir hier vor längerem anhand eines originalen Pressefotos vorgestellt haben:

Briggs Prototype; Pressefoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wie gesagt – hier geht es nur um den Einfluss, den die Gestaltung der Scheinwerfer bei diesem in Europa kaum bekannten, doch für die Entwicklung der Stromlinienautos hochbedeutenden Wagen ausübte.

Bei Oldsmobile beließ man es zwar 1935 bei freistehenden Tropfenscheinwerfern, aber die Positionsleuchten auf den Kotflügeln wurden im selben Stil wie beim Briggs Prototype ausgeführt:

Auf zwei Dinge sei bei dieser Ausschnittsvergrößerung noch hingewiesen:

Das eine ist das eigentümliche Emblem auf dem Kühlergrill, auf dem die Buchstabenfolge „…ACAR“ sicher zu lesen ist. Hier kann vielleicht ein sachkundiger Leser weiterhelfen.

Keine Probleme dagegen bereitet die Interpretation des Schattenwurfs der Stoßstange des Oldsmobile. Demnach muss diese Aufnahme zur Mittagszeit entstanden sein, als die Sonne ihren sommerlichen Höchststand erreichte.

So hoch im Zenit steht die Sonne jedoch in unseren Gefilden nie. Tatsächlich entstand dieses Foto weiter südlich – in Siebenbürgen, das mehrheitlich von Deutschen bewohnt wurde, aber nach dem 1. Weltkrieg von den Siegermächten Rumänien zugesprochen wurde.

Unsere adretten Fotomodelle konnten sich damals glücklich schätzen, dort in offensichtlich wohlhabenden Verhältnissen aufzuwachsen. Denn so ein Oldsmobile verfügte je nach Austattung über kraftvolle 6- oder 8-Zylindermotoren mit über 80 PS und eine luxuriöse Ausstattung.

Das wird die beiden Blondinen nicht im Detail interessiert haben, doch Haushalte mit Automobilen waren dermaßen selten, dass sie wussten, wie gut es ihnen ging:

Womöglich hält diese Aufnahme aber auch den Zenit ihres Daseins fest, denn wenige Jahre später begann der 2. Weltkrieg, in dem Rumänien anfangs mit Deutschland verbündet war, doch später die Seiten wechselte.

Das Kriegsende und die Jahre unter rumänischer Herrschaft bedeutete für die Deutschen in Siebenbürgen bittere Zeiten, über die hierzulande Aufgewachsene kaum etwas erfahren haben, wenn nicht die eigene Familie betroffen war.

So erinnert das alte Foto eines Oldsmobile daran, wie vergänglich das Glück und vermeintlich gesicherte Positionen sein können.

Auch die US-Autoindustrie war damals ihrem Zenit nahe. Nach dem dank überlegener Industriekapazität und Logistik gewonnenen Krieg sollte der unaufhaltsame Abstieg beginnen…

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

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