Relikt aus einer anderen Welt: Renault „Suprastella“

Vor einiger Zeit erhielt der Verfasser dieses Oldtimerblogs persönlich an ihn adressierte Post von Renault Deutschland. 

Angepriesen wurde darin das Modell mit dem wohlklingenden Namen „Koleos“, das auf diesem Blog wiederholt als abschreckendes Beispiel für die Hervorbringungen zeitgenössischer Autobauer herhalten musste.

Offenbar hatte ein mit „künstlicher Intelligenz“ ausgestatteter virtueller Praktikant daraus gefolgert, dass der Verfasser sich besonders für dieses Gefährt interessiert, das einem der Schrottpresse gerade noch einmal entkommenen Panzer ähnelt.

Mit dieser brachialen gestalterischen Logik liegt die Firma Renault beim Verfasser ebenso daneben wie mit ihrem pseudopersonalisierten Anschreiben.

Lehnen wir uns zurück und genießen einfach, was wahre Könner einst hervorgebracht haben – auch im Hause Renault:

Renault_Suprastella_Buick_1938_Grindelwald_1951_Galerie

Renault Suprastella; Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir es ausnahmsweise nicht mit einer Privataufnahme zu tun, sondern mit einer Ansichtskarte von 1951.

Die Postkarte zeigt ein in bester Nachkriegsmanier „modernisiertes“ traditionsreiches Hotel in Grindelwald in der Schweiz. 

Das Erdgeschoss lässt noch Elemente aus dem 19. Jh. erkennen, seither haben mehrere sanierungsfreudige Generationen ihre Spuren an dem Bau hinterlassen.

Der eigentliche Star vor dieser Unterkunft ist der Renault „Suprastella“, der dort einst mit abgelichtet wurde. Vermutlich ahnte der Fotograf der Ansichtskarte, was für ein Klassefahrzeug dort stand und bezog es in die Bildgestaltung ein:

Man mag gar nicht glauben, dass dieses zweisitzige Cabriolet ein Renault oder überhaupt ein französisches Fahrzeug sein soll.

Tatsächlich folgt der ab 1938 gebaute Wagen formal eng amerikanischen Vorbildern aus der Mitte der 1930er Jahre.

Typisch für diese Linie waren folgende Elemente:

  • V-förmig gestalteter, nach oben breiter werdender Kühlergrill,
  • ansatzweise mit den Kotflügeln verschmelzende Frontscheinwerfer,
  • den unteren Karosserieabschluss betonende Zierleiste,
  • strömungsgünstige Abdeckungen der Hinterräder.

Erstmals tauchen diese Details beim Lincoln „Zephyr“ von 1936 auf, den wir auf folgender Aufnahme (gespiegelt) sehen:

Lincoln „Zephyr“; Werksfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bei diesem Wagen hatte die zum Ford-Konzern gehörende Marke formale Ideen von John Tjaarda aus den frühen 1930er Jahren sehr überzeugend verarbeitet (ausführlicher Bericht).

Der Lincoln „Zephyr“ war mit einem 12-Zylinder-Motor ausgestattet, der allerdings wie das Fahrwerk konstruktiv rückständig war. Damals begann sich die technische Stagnation der US-Autoindustrie abzuzeichnen, während sie in formaler Hinsicht noch einige Jahre tonangebend bleiben sollte.

Auf der Postkarte sieht man übrigens hinter dem Renault einen Buick von 1938, der bereits die nächste Stufe der Designentwicklung repräsentiert:

Demnach war Renault mit der gestalterischen Anleihe beim Lincoln „Zephyr“ zwar nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Doch hatte man offenbar bewusst diesen schnittigen Wagen zum Vorbild gewählt, mit dem Lincoln der Durchbruch im US-Luxussegment gelungen war.

Auch motorenseitig wollte Renault seine Kompetenz in der Oberklasse beweisen. So erhielt der „Suprastella“ einen 5,4 Liter großen Reihenachtzylinder, dessen 110 PS Spitzenleistung ein Tempo von bis zu 130 km/h ermöglichte.

In formaler Hinsicht überzeugt der Renault „Suprastella“ weniger als das amerikanische Vorbild, das leichter und eleganter daherkommt. Auch wurden bloß  einige Dutzend dieser Wagen mit verschiedenen Aufbauten gefertigt.

Doch im nachhinein betrachtet war das Luxusgefährt ein würdevoller Abschluss der Vorkriegsgeschichte der traditionsreichen Marke. Nie wieder sollte Renault einen Wagen dieser Klasse bauen.

1945 wurde die Firma, die im Krieg gute Geschäfte mit der deutschen Wehrmacht gemacht hatte, verstaatlicht. Fortan konzentrierte man sich auf Klein- und Mittelklassewagen, die sich zwar bestens verkauften, aber gestalterisch oft belanglos bis irritierend wirkten.

So erscheint der Renault Suprastella – ähnlich Spitzenprodukten anderer französischer Hersteller – heute wie ein Überbleibsel aus einer untergegangenen Welt.

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

 

 

 

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