Spitzkühler einmal anders: Ein Avions Voisin C14

Heute widmen wir uns ausführlicher dem Thema Spitzkühler – von dem es in der Vorkriegszeit einst so viele Variationen gab – speziell im deutschen Sprachraum.

Klar denkt der Veteranenfreund zuerst an die rassigen Mercedes-Modelle, die als Begründer dieser Mode gelten:

Mercedes_15_70_100_PS_Galerie

Mercedes 15/70/100 PS; Original

Man muss kein Anhänger der Stuttgarter Traditionsmarke sein, um dieses 15/70/100 PS-Modell beeindruckend zu finden. Das einem hohen Offizier der Reichswehr dienende Prachtexemplar, neben dem der Fahrer posiert, haben wir hier vorgestellt.

Mercedes-Wagen wie dieser begründeten einst einen weltweiten Nimbus, der bis heute anhält. Hoffen wir, dass sich die Hüter der Marke ab und zu vergewissern, was für ein Erbe sie da verwalten – denn nicht alles im aktuellen Angebot verdient einen Stern…

Nach diesem Einstieg kann nicht mehr viel kommen, mag nun mancher denken. Weit gefehlt, wir haben noch einiges in petto. Da wäre beispielsweise ein Vertreter der Marke, die tatsächlich als erste Spitzkühler serienmäßig verbaute, und zwar 1908.

Die Rede ist von Metallurgique aus Belgien; kennt heute keiner mehr, war aber einst eine hochangesehene Manufaktur von Oberklassewagen. Es gab auch eine deutsche Lizenzproduktion von Bergmann.

Metallurgique-Wagen sind zwar leicht als solche zu identifizieren, die genaue Typenansprache bereitet aber noch Probleme. Wenn hier Klarheit gewonnen ist, kommen auch die entsprechenden Fotos aus dem Fundus an die Reihe.

Einstweilen muss ein Blick auf diesen Metallurgique genügen, der im Mai 1913 bei einer Ausfahrt aufgenommen wurde:

Man sieht, es muss nicht immer ein Mercedes sein – und auch kein Benz, um die andere berühmte Firma zu erwähnen, die Spitzkühlermodelle baute.

Hier eine Benz-Originalreklame, die vor rund 100 Jahren veröffentlicht wurde – in der Spätphase des 1. Weltkriegs:

Benz-Reklame aus „Der Motorfahrer“ von Dezember 1917; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Reklamen von Benz und Mercedes sind die Hinweise auf den Krieg hier sehr dezent. Wären da nicht der Doppeldecker und der Hinweis auf Flugmotoren, könnte man meinen, es herrschte tiefster Frieden.

Bemerkenswert sind die Kronen auf den Scheinwerfern des oberen Wagens – übrigens von Aufbau und Proportionen dem Metallurgique vergleichbar. So etwas war den Fahrzeugen im kaiserlichen Fuhrpark vorbehalten.

Doch wir wollen das Thema Spitzkühler nicht aus dem Auge verlieren. Interessant ist, wie viele Fotos unidentifizierter Wagen sich finden, die einen Mercedes- oder Benz-Kühler zu tragen scheinen, aber keiner dieser Marken zuzuordnen sind.

Dazu gehört diese schöne Aufnahme:

Unbekannter Tourenwagen um 1920; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Über Vorschläge zur mutmaßlichen Marke würde sich der Verfasser freuen.

Bevor wir uns einer anderen Variante des Spitzkühlers zuwenden, mit der wir uns zugleich dem Star des heutigen Blogeintrags nähern, sollen die noch schnittigeren Ausführungen nicht unerwähnt bleiben, die Steyr in Österreich verbaute:

Steyr Typ VII; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Statt solcher kantigen Vertreter verwendeten mehrere Firmen Spitzkühler mit abgerundeter Form, übrigens nicht nur im deutschsprachigen Raum.

Der legendäre Bentley 3 Litre (1924-29) besaß ebenfalls solch einen Kühler, der bei oberflächlicher Betrachtung mit dem der Sportversion eines zeitgenössischen deutschen Wagens verwechselt werden kann.

So war der erste Gedanke des Verfassers, als er folgende Aufnahme fand: ein Bentley! 

Nun, der Irrtum klärte sich schnell auf – es handelt sich um einen Sporttyp C4 der Berliner Marke NAG – aber man muss zugeben, zumindest optisch näher an Bentley kam wohl kein deutscher Wagen jener Zeit.

Die typischen Spitzkühler von NAG sind Lesern dieses Blogs sicher vertraut – diese leider weitgehend vergessene Marke wird hier immer wieder gern gewürdigt.

Das Gleiche gilt für die Stoewer-Wagen, die in den frühen 1920er Jahren ebenfalls Spitzkühler mit abgerundeten Formen besaßen. Folgendes Exemplar haben wir hier bereits präsentiert:

Stoewer D12 13/55 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ein Foto des Stoewer D12 in dieser Qualität ist eine große Rarität. Wem es aus einem anderen Kontext bekannt vorkommt, hat es wohl als Bild des Monats auf der Website des Stoewer-Museums gesehen, das der Verfasser hin und wieder „versorgt“.

Man präge sich die Form der Kühlermaske mit dem auf der abschüssigen Oberseite angebrachten ovalen Stoewer-Emblem ein – wir kommen darauf zurück.

Nach diesem hoffentlich nicht allzu ermüdenden Umweg kommen wir zum eigentlichen Objekt der Begierde – das einen solchen Spannungsaufbau absolut verdient.

Allerdings ist der Kontrast im wahrsten Sinne des Wortes krass – wenn man vom Kühler absieht:

Avions Voisin C14; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Was ist das für eine eigenwillige Kreation – ein Prototyp oder ein Umbau, vielleicht?

Nun, man muss bei diesem aus Sicht des Verfassers großartigen Wagen ganz andere Maßstäbe anlegen als an alle Fahrzeuge, die wir bislang besprochen haben.

Denn dieses Auto ist die Schöpfung einer der ganz großen Figuren des französischen Automobilbaus: Gabriel Voisin.

Luftfahrtpionier und Lebemann, Unternehmer und Erfinder, Ingenieur und Künstler, Individualist und Verächter industrieller Massenware – so lassen sich die Qualitäten eines enorm begabten Menschen zusammenfassen.

Bevor wir auf die Besonderheiten dieses Meisterwerks von Automobil eingehen, kurz einige Hinweise zur Identifikation. Natürlich erinnert die Frontpartie mit dem abgerundeten Spitzkühler stark an Stoewer:

Auch hier ahnt man ein Emblem auf der Oberseite der Kühlermaske, auch hier ist die Vorderkante des Kühlergrills leicht nach hinten geneigt.

Dort enden die Gemeinsamkeiten. Wir brauchen hier gar nicht Zahl und Form der Luftschlitze zu thematisieren – die gesamte formale Konstruktion der Karosserie ist radikal anders.

Alle funktionellen Elemente – Schutzbleche, Motorhaube, Windlauf, Passagierraumsind klar voneinander abgegrenzt und wirken wie absichtlich aneinandergeheftet.

Dieser Aufbau wirkt wie die Blaupause eines Automobils, alles tritt klar hervor, nichts wirkt geschönt, auf Zierrat wird fast vollständig verzichtet. Nur die zugelieferten Scheinwerfer wollen sich nicht so recht dieser Logik unterwerfen.

Den Eindruck einer streng alle Strukturen offenlegenden Architektur macht auch der übrige Aufbau:

In technischer Hinsicht war der Avions Voisin C14 ebenfalls eine außergewöhnliche Kreation.

Wie der Vorgängertyp C11 verfügte der Wagen über einen 2,3 Liter großen 6-Zylinder-Motor mit laufruhiger Schieber-Steuerung (Knight-Patent).

Das Getriebe wurde durch eine elektrisch zuschaltbare Übersetzung (Cotal-Patent) ergänzt, mit der in jedem (!) der 3 Gänge ein weiteres Übersetzungsverhältnis gewählt werden konnte – ähnlich dem später bei britischen Fahrzeugen üblichen Overdrive. Angeboten wurde zudem eine der frühesten Servo-Unterstützungen für die Lenkung.

Der Verbesserung der Gewichtsverteilung dienten auf den Trittbrettern montierten Gepäckkisten. Das Fahrzeuggewicht profitierte von der Verwendung von Aluminium für den Aufbau.

Wer sich der Begeisterung des Verfassers über dieses automobile Meisterstück nicht so recht anschließen kann, hat so ein Fabeltier noch nicht in freier Wildbahn erlebt. Der Concours d’Elegance 2015 auf Schloss Chantilly bei Paris gab Gelegenheit dazu:

Avions Voisin C14; Bildrechte: Michael Schlenger

Dieses herrliche Exemplar weicht in einigen Details von dem Wagen auf der historischen Aufnahme ab, was nicht viel heißen will. Autos wurden bei Avions Voisin in Manufaktur gefertigt, da sah keines wie das andere aus.

Zudem dürfte der in Chantilly gezeigte Wagen überrestauriert gewesen sein. Zum Glück stand daneben ein unberührt gebliebenes Exemplar:

Avions Voisin C14; Bildrechte: Michael Schlenger

Ein Blick auf den „Zuschnitt“ der in Aluminium ausgeführten Vorderschutzbleche und den über die Jahrzehnte matt gewordenen, doch noch komplett vorhandenen Lack verrät: Dieser Wagen hat nie so ausgesehen wie sein „restauriertes“ Gegenstück.

Und noch etwas, was diese Fotos leider nicht transportieren können:

Der Verfasser kann sich genau erinnern, wie ihn an jenem warmen Spätsommertag im weitläufigen Park von Schloss Chantilly plötzlich ein intensiver Geruch aus altem Fett und Öl anwehte.

Tja, der Magie des unrestaurierten Originals haben moderne Neuaufbauten nun einmal nichts entgegenzusetzen.

Patina will über Jahrzehnte geduldig erarbeitet oder „erstanden“ sein. Das erst macht den Zeitzeugen aus, den authentischen Boten aus einer Vergangenheit, von der schon bald kein lebender Mensch mehr berichten kann.

Auf ihre Weise haben historische Automobilfotos eine ähnliche Qualität. Sie transportieren uns in eine Vergangenheit zurück, in der noch alles neu und aufregend war, was wir heutigen Autofahrer oft gedankenlos nutzen.

Brillianten Köpfen und schrägen Vögeln wie Gabriel Voisin verdanken wir unsere Mobilität, nicht angepassten und ideenlosen Leitenden Angestellten in den Automobilkonzernen von heute…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen