Der Charme der frühen 1920er Jahre: Benz 10/30 PS

Vor rund 100 Jahren – im November 1918 – unterzeichneten die Vertreter des Deutschen Reichs den Waffenstillstand mit Frankreich und Großbritannien, der die Kämpfe des 1. Weltkriegs beendete.

Die Bedingungen sahen vor, dass die deutschen Truppen alle Gebiete in Frankreich und Belgien räumen, dass Elsass-Lothringen abgetreten wird und dass Frankreich die linksrheinischen Gebiete Deutschlands besetzt.

Nach einem fairen Vertrag klingt das nicht gerade, aber es geht noch weiter:

Neben Waffen, Flugzeugen und Kriegsschiffen waren auch Lokomotiven und Eisenbahnwagen zu übergeben. Die völkerrechtswidrige Seeblockade neutraler Lebensmitteltransporte an das Deutsche Reich wurde aufrechterhalten.

Erst nach Auslieferung auch der deutschen Handelsflotte durfte Monate später – im März 1919 – das erste Schiff mit Lebensmitteln einen deutschen Hafen anlaufen. Wieviele Opfer diese Hungerblockade gekostet hat, ist nicht mehr zu beziffern.

Warum dieser Einstieg? Man sieht vor dem Hintergrund die Automobilbilder der frühen 1920er Jahren mit anderen Augen. Sie erzählen von heiteren Momenten, die nur einer hauchdünnen, wohlhabenden Schicht vergönnt waren:

Benz_10-30_PS_ab_1921_Galerie

Benz 10/30 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die schöne Aufnahme lässt nichts ahnen vom Elend der Massen, die nach dem Ende des 1. Weltkriegs unter den noch drastischeren Auflagen des „Friedensvertrags“ von Versailles zu leiden hatten.

Bei allem Charme, den die „Goldenen Zwanziger“ in Dokumenten wie diesen ausstrahlen, sollte man nicht vergessen, wie exklusiv der Besitz eines Automobils war – erst recht, wenn es sich um einen Benz-Tourenwagen handelte.

Was macht uns aber so sicher, dass wir einen Benz vor uns haben? Tourenwagen mit solchen Spitzkühlern wurden schließlich von zahlreichen Marken angeboten.

Zugegeben: Der Abzug ist technisch von mäßiger Qualität und zeigt keine lesbaren Markenschriftzüge auf Kühler oder Nabenkappe:

Festhalten lassen sich an dem Wagen mit Hamburger Zulassung aber vier Dinge:

  • Benz-typischer Spitzkühler mit mittigem Markenemblem,
  • flache Frontscheibe, obere Hälfte nach hinten neigbar,
  • 16 Luftschlitze in der Motorhaube,
  • oben abgerundete Schwellerpartie mit seitlichen Schubfächern,

Präzise diese Kombination findet man auf der folgenden, etwas schärferen Aufnahme:

Benz 10/30 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Einziger Unterschied sind die Drahtspeichenräder, die bei den meisten deutschen Wagen jener Zeit als Extra zu bekommen waren.

Dieser Abzug liefert den entscheidenden Hinweis auf Benz als Hersteller.

Denn auch wenn der Abzug fleckig und die hier nicht abgebildete Heckpartie stark beschädigt ist, ist in der Ausschnittsvergrößerung das Kühleremblem teilweise lesbar:

Die Buchstaben „NZ“ sind auf dem runden Emblem erkennbar, damit kommt nur Benz als Hersteller in Frage. Auch auf der Nabenkappe zeichnet sich im Original der Markenschriftzug ab.

Tatsächlich genügen diese Details, um mit hoher Wahrscheinlichkeit den Wagen als Benz des Vierzylindertyps 10/30 PS anzusprechen, der ab 1921 gebaut wurde.

Die äußerlich sehr ähnlichen Sechszylindertypene 11/40 PS und 16/50 PS wiesen nicht nur längere Radstände auf, sie besaßen auch wesentlich mehr Haubenschlitze, was dem größeren Kühlungsbedarf geschuldet war.

Der Typ 10/30 PS mit seinem 2,6 Liter-Aggregat war eines der Standbeine der Firma Benz von Anfang der 1920er Jahre bis zum Zusammenschluss mit Daimler 1925.

Speziell die mit Vierradbremsen ausgestatteten späten Typen mit auf 35 PS gesteigerter Leistung und 85 km/h Höchstgeschwindigkeit hatten einiges Prestige.

Mit so einem Benz ließ man sich auch in der geschlossenen Version gern ablichten, das dachten offenbar die drei Herren, die hier mit ihrem Wagen posieren:

Benz 10/30 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

An diesem Benz mit Aufbau als luxuriöser Sechsfenster-Limousine finden wir alle wesentlichen Details wieder:

Spitzkühler mit mittig angebrachtem Emblem, 16 Luftschlitze, oben abgerundeter Schweller mit ausziehbaren Fächern.

Die drei gut aufgelegten Herren haben sich nicht lumpen lassen und haben uns eine weitere Aufnahme des Benz 10/30 PS aus anderer Perspektive spendiert:

Das ist der Charme der frühen 1920er Jahre, den wir Spätgeborenen lieben – so unerfreulich das Dasein unserer Vorfahren auch sonst anmuten mag.

Man wusste, was sich in der Öffentlichkeit schickte. Gleichzeitig wirkt keiner der drei Porträtierten wie ein Abziehbild aus einem Zeitgeistmagazin. Vielmehr sieht man hier eine sympathische Individualität und kalkulierte Lässigkeit.

Um so unterwegs zu sein wie diese drei Typen, bräuchte es heute einige „Coolness“, ganz abgesehen davon, dass ein modernes Automobil einfach nicht mehr die Möglichkeit bietet, sich so in Szene zu setzen.

Breitbeinig auf dem Kühler sitzen – heute unmöglich. Zudem könnte der Lack Schaden nehmen! Dabei ließen sich mit solchen historischen Aufnahmen Bücher füllen.

Man sieht: Ein Automobil war in den Hungerjahren nach dem 1. Weltkrieg einerseits eine enorm exklusive Angelegenheit – vom Benz 10/30 PS sind in der hier gezeigten Form wohl nur einige hundert Exemplare entstanden.

Andererseits gingen die glücklichen Besitzer damit oft bemerkenswert rücksichtslos um – wer den 1. Weltkrieg überlebt hatte, verfügte offenbar in vielerlei Hinsicht über andere Maßstäbe als die Generation Fahrradhelm…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen