Spitzkühler-Ästhetik in Reinform: Benz 14/30 PS

Die Welt der Vorkriegswagen bietet auch im 21. Jahrhundert ein unerschöpfliches Feld an Betätigungsmöglichkeiten – es macht bloß kaum jemand kaum Gebrauch davon hierzulande.

Während im britischen Vintage Car-Magazin „The Automobile“ fast jeden Monat neue englische oder auch französische Literatur zu obskuren Marken und Persönlichkeiten der automobilen Welt der Vorkriegszeit vorgestellt wird, herrscht im deutschsprachigen Raum diesbezüglich von Ausnahmen abgesehen Sendepause.

Dabei gibt es unaufgearbeitetes Material ohne Ende, wie der Verfasser aus eigener Anschauung weiß. Hunderte historische Aufnahmen bislang nicht identifizierbarer Vorkriegsfahrzeuge schlummern in seinem Fundus.

Wir sprechen hier nicht von reizvollen Fällen wie dem folgenden, wo vom Auto praktisch kaum etwas zu erkennen ist:

unbek_Tourer_Thüringen_1927_Galerie

unbekannter Tourenwagen, aufgenommen 1927 in Thüringen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn es vom eigentlichen Thema ablenkt – Veteranenfreunde haben doch Zeit, oder? – ist das eine hinreißende Aufnahme, die zu studieren sich lohnt. So gingen unsere Großeltern und Urgroßeltern mit ihren Autos um, wenn sie denn eins besaßen…

Doch selbst bei Aufnahmen, die alle Details des Fahrzeugs erkennen lassen, bleibt oft völlig offen, was da einst abgelichtet wurde.

Das gilt beispielsweise für zahlreiche deutsche Wagen, die nach dem 1. Weltkrieg einen der modischen Spitzkühler nach Vorbild von Benz verpasst bekamen – entweder ab Werk oder als nachträglich montiertes Zubehörteil.

Damit verwandelten sich brave Automobile von Herstellern der zweiten Reihe mit einem Mal in schnittige Gefährte, die vom unbedarften Betrachter gleich eine Kategorie höher eingeschätzt wurden.

Ein typisches Beispiel dafür zeigt folgende Aufnahme:

unbekannter Tourenwagen der frühen 1920er Jahre; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Nein, das ist kein Benz, denn es fehlt die markentypische Plakette auf der Vorderseite des Kühleroberteils – ein Beispiel dafür, wie das aussehen muss, folgt gleich.

Vier kurze Luftschlitze in der Motorhaube sind ansatzweise zu erkennen. Dann wäre da noch das markante Blech zwischen den beiden vorderen Rahmenauslegern, das möglicherweise den Kühler vor Steinschlag schützen sollte.

Hat ein Leser eine Idee, um was für einen Wagen eines wohl deutschen Herstellers aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre es sich hier handeln könnte? Dann würden wir dieses formal durchaus überzeugende Fahrzeug gelegentlich eigens vorstellen.

Sucht man nach den Vorbildern für solche Spitzkühler-Tourenwagen einstiger Nischenhersteller, landet man unweigerlich bei der ehrwürdigen Traditionsmarke Benz, die bis zur Fusion mit Daimler 1926 eigenständig war.

Noch 1914 – kurz vor Beginn des 1. Weltkriegs –  hatte man bei Benz wie bei einigen anderen deutschen Herstellern ebenfalls – damit begonnen, seine Modelle mit schnittigen Spitzkühlern auszustatten.

Zwar blieben auf Wunsch weiterhin Flachkühler lieferbar, doch bevorzugten die meisten Kunden die modischen Spitzkühlerversionen, die an den Bug von Schnellbooten erinnerten und die Wagen schon im Stand schnell aussehen ließen.

Ein bislang unveröffentlichtes Foto aus dem Fundus des Verfassers lässt diesen bis Mitte der 1920er Jahre gepflegten Stil in Reinform erkennen:

Benz 14/30 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Sehr wahrscheinlich haben wie hier den Chauffeur des offenbar fast neuen Benz vor uns, der vor dem repräsentativen Portal des herrschaftlichen Hauses abgelichtet wurde, in dem die Besitzer des Wagens residierten.

Derartige Aufnahmen wurden häufig bei Ankunft eines neuen Wagens beim Eigentümer angefertigt und der Fahrer erhielt ebenfalls einen Abzug davon.

Das wissen wir aus Beispielen, wo solche Fotos in den Alben der einstigen Chauffeure überlebt haben. Was aber macht nun diese Aufnahme zum perfekten Beispiel für einen Spitzkühler-Benz?

Dazu werfen wir einen Blick auf folgenden Bildausschnitt:

Bislang ist dem Verfasser noch keine Aufnahme ins Netz gegangen, auf der ein derartig vollkommen gezeichneter Benz-Tourenwagen der frühen 1920er Jahre zu sehen ist.

Die scharfen Konturen des Spitzkühlers werden hier in den wie gemeißelt wirkenden Linien der Motorhaube weitergeführt und spiegeln sich in der gepfeilten Windschutzscheibe wider.

Eine so dynamische, schlüssige und zugleich reizvolle Gestaltung findet man nach dem Abschied vom Spitzkühler in den oft arg sachlichen späten 1920er Jahren kaum.

Übrigens sind hier auch die acht Luftschlitze zu erkennen, die das letzte – im Jahr 1922 gebaute 14/30-Modell von Benz kennzeichneten, dessen rückwärtiger Aufbau freilich moderner ausfiel (vgl. Benz & Cie, Zum 150. Geburtstag von Karl Benz, hrsg. von der Mercedes-Benz AG, 1994, S. 108).

Daher dürfen wir annehmen, dass „unser“ Benz entweder kurz nach dem 1. Weltkrieg  oder möglicherweise noch 1914 entstand und dann später mit elektrischen Scheinwerfern ausgestattet worden war.

Ein noch vollkommeneres Beispiel für eine Spitzkühlerausführung des Benz 14/30-Modells wird man schwerlich finden. Selbst das in der Regel gut bestückte Online-Archiv von Mercedes-Benz liefert kein einziges Beispiel dafür (siehe hier).

Wie eingangs bemerkt: Es gibt genügend Material für die gründliche Aufarbeitung der Geschichte deutscher Vorkriegswagen, selbst im Fall hochkarätiger Marken. Es müsste sich bloß mal einer an den britischen Automobilhistorikern ein Vorbild nehmen…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen