Eine Frau will nach oben: Horch 10/50 PS Tourer

Nein, der Titel meines heutigen Blogeintrags ist keine Anspielung auf gewisse Personalverschiebungen in der Brüsseler EU-Bürokratie.

Er hat auch nichts mit der künftigen Kommandantin der Operettenarmee zu tun, für deren offenbar gewollte Inkompetenz der (von Politikern gern bemühten) deutschen Krankenschwester, dem Polizisten oder der Verkäuferin (und weiteren ungenannt bleibenden Untertanen) rund 43,5 Mrd. Euro jährlich abgepresst werden (Stand: 2019).

Um der Gefahr zu entgehen, mich angesichts gegenwärtiger politischer Realsatiren totlachen zu müssen, begebe ich mich lieber auf Zeitreise. Vor 90 Jahren konnte eine Frau tatsächlich nach oben gelangen, wenn sie denn wollte und wenn sie es konnte.

Zugegeben, ganz einfach war das nicht und dann noch gegen so zahlreiche männliche Konkurrenz. Aber sie hat es geschafft, aus eigenen Kräften und zur Freude (fast) aller:

Horch_10-50_PS_Tourer_Gruppenaufnahme_Galerie

Horch 10/50 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Da thront sie nun, souverän in die Ferne blickend – und kein Zittern ist ihr anzusehen in Anbetracht ihrer herausgehobenen Position.

Die Herren in ihrem Gefolge scheinen sich überwiegend mit ihrer Rolle als Staffage abzufinden, nur einer von ihnen scheint die Situation zu missbilligen. Auch wenn er sich hier im Hintergrund hält, ist er die Schlüsselperson, wie wir gleich sehen werden.

Was aber ist das für ein eindrucksvoller Tourenwagen, der hier das Bühnenbild abgibt? Das wäre schwer zu ermitteln, wenn der Fotograf die Szene nicht aus einem günstigen Blickwinkel aufgenommen hätte:

Hinter unserer Dame, die es bis „ganz nach oben“ geschafft hat und sich triumphierend gibt, schaut eine erkennbar missgelaunte Person in die Kamera:

„Verdammt, dass die Herrschaften sich hier präsentieren können, ist allein mein Verdienst. Ich halte die Fuhre sieben Tage die Woche am Laufen und was bleibt mir vom Verdienst? Wenigstens die Schirmmütze konnte ich mir noch leisten, aber sonst? Wohne zur Miete, habe kein Vermögen und bekomme eine Mini-Rente, wenn ich Glück habe…“.

Dieses Lamento eines namenlosen Abgabenknechts darf man hierzulande als zeitlos ansehen (die kaiserliche Sektsteuer lässt grüßen…). Doch eines muss man dem guten Mann lassen: Er wusste zumindest noch, wofür es sich lohnte, sich ins Zeug zu legen.

Das verrät das gekrönte „H“ auf seiner Schirmmütze – ein Verweis auf die sächsische Nobelmarke Horch, deren Typ 10/50 PS wir hier vor uns haben. Das Emblem findet sich auf der Kühlereinfassung des Wagens schemenhaft wieder.

Auch die übrigen Details passen vollkommen zum nüchtern gestalteten Horch, der Mitte der 1920er Jahre (Bauzeit: 1924-26) noch mit einem Vierzylindermotor auskommen musste – immerhin moderner Bauart mit kopfgesteuerten Ventilen.

Auch die Stoßdämpfer und Bremsen an allen vier Rädern weisen den Horch 10/50 PS als zeitgemäße Konstruktion aus.

In meiner Horch-Galerie sind inzwischen etliche Fotos dieses in mehr als 2.000 Exemplaren gebauten Wagens vertreten.

Doch zur Veranschaulichung des Aussehens der Tourenwagenausführung ganz ohne Entourage möchte ich eine Aufnahme präsentieren, die mir Leser Matthias Schmidt dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat:

Horch 10/50 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt

Sieht man von den hier fehlenden Positionslichtern auf den Frontschutzblechen ab, stimmen die beiden Wagen in allen Details überein.

Markant ist nicht nur die Kühlersilhouette, sondern auch die mittig unterteilte Windschutzscheibe, die man bei den meisten offenen Versionen des Horch 10/50 PS antrifft.

Ein weiteres Erkennungsmerkmal sind die recht weit unten in der Motorhaube angebrachten Luftschlitze – eine ganz ähnliche Anordnung findet man beim zeitgenössischen Fiat 512.

Hier zum Vergleich der Frontpartie eine Ausschnittsvergrößerung aus dem Foto von Matthias Schmidt:

Am vorderen Ende des Rahmens, wo die Innenseite des Schutzblechs ausläuft, sieht man das runde Gehäuse der vorderen Bandstoßdämpfer, die auf vielen Fotos kaum oder gar nicht erkennbar sind. Ob sie serienmäßig verbaut wurden, mag baujahrabhängig gewesen sein.

Günstig ist bei dieser Aufnahme, dass das Ersatzrad nicht montiert ist, denn so kann man die wie gemeißelt wirkenden Linien des Vorderwagens studieren. Die Ähnlichkeit mit den klassisch klar gezeichneten Fiats jener Zeit ist frappierend.

Solche nüchternen Linien lagen Mitte der 1920er Jahre in der Luft und Horch fand mit seinem blitzsauber gezeichneten – wenn auch äußerlich beliebig wirkenden – Typ 10/50 PS Anklang bei den wenigen Deutschen, die sich damals überhaupt ein solches Auto leisten konnten.

Heute verbinden die meisten Vorkriegsautofreunde mit der Marke Horch Wagen der Luxusklasse – angetrieben von raffinierten Acht- und Zwölzylindermotoren. Umso rarer sind überlebende Exemplare des Vierzylindertyps 10/50 PS:

Hier ist eines, von mir aufgenommen 2018 bei den „Classic Days“ auf Schloss Dyck:

Horch 10/50 PS; Bildrechte: Michael Schlenger

So unauffällig ein solcher Horch auf diesen Fotos wirkt – in natura ist ein derartiges Automobil für uns Betrachter im 21. Jahrhundert eine Offenbarung.

An diesen großartigen Relikten einer zunehmend fernen Vergangenheit ist beinahe alles anders, als wir es heute bei Autos kennen. Doch für mich macht gerade die Andersartigkeit den besonderen Reiz von Vorkriegsautos aus.

Zudem kann man mit dem Studium dieser Zeugen menschlichen Erfindungsgeistes und handwerklichen Könnens einer Gegenwart entfliehen, in denen man zunehmend den Eindruck hat, dass mittlerweile Nichtskönner (m/w) es ganz nach oben schaffen

Meine aktuelle Empfehlung dafür sind die Classic Days auf Schloss Dyck. Vielleicht sehen wir uns ja dort – ich bin von Freitag bis Sonntag vor Ort!

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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