1925: Ein früher Chrysler „Six“ in Deutschland

Chrysler – wer denkt da nicht mit Grausen an die gescheiterte Fusion mit Daimler-Benz vor über 20 Jahren? Kaum weniger gruselig, was heute unter dem gemeinsamen Dach von Fiat-Chrysler auf den Markt kommt.

Dass ehedem große Namen der Automobilindustrie ihre besten Tage hinter sich haben, wird noch deutlicher, vergegenwärtigt man sich deren Rang in der Vorkriegszeit .

Vermutlich ist kaum jemandem heute bewusst, was Walter Chrysler mit seiner 1924 aus dem Nichts geschaffenen Marke für ein unternehmerisches Husarenstück gelang.

Nach diversen Stationen in der US-Automobilindustrie ließ Chrysler von ehemaligen Willys-Ingenieuren einen 6-Zylindertyp entwickeln, der am damaligen Markt seinesgleichen suchte.

Aus 3,3 Liter Hubraum gewann der Chrysler Six eine für amerikanische Verhältnisse sehr hohe Leistung von fast 70 PS. Zum Vergleich: Das erst ab 1927 gebaute Model A von Ford bot bei identischem Hubraum lediglich 40 PS.

Auch die hydraulischen Vierradbremsen am Chrysler waren 1924 bei einem Serienwagen außergewöhnlich – damals besaßen viele deutsche Autos noch nicht einmal mechanische Vorderradbremsen.

Kein Wunder, dass Chrysler von dem nur 1.500 Dollar kostenden Wagen noch im ersten Modelljahr über 30.000 Stück absetzte. Mit amerikanischer Geschäftstüchtigkeit erschloss Chrysler in Windeseile auch den internationalen Markt.

So fand schon 1925 – ein Jahr nach Firmengründung – sogar am darniederliegenden deutschen Automarkt ein Chrysler „Six“ einen Käufer, und zwar dieser:

Chrysler_Six_1925_Galerie

Chrysler „Six“ von 1925; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme ist ein gutes Beispiel dafür, welche Aussagekraft eine auf den ersten Blick belanglose Privataufnahme haben kann.

Wer sich fragt, weshalb im Wachstumsmarkt des 21. Jahrhunderts – der Informations- und Kommunikationstechnik – amerikanische Anbieter die Nase vorn haben, obwohl es auch vielversprechende Ansätze hierzulande gab, findet hier einen Vorläufer.

Die US-Firmen fackelten schon in den 1920er Jahren nicht lange und gingen sofort zum Angriff auf ungesättigte Märkte über, an denen einheimische Hersteller die inländische Nachfrage nicht stillen konnten.

Die Geschwindigkeit, mit der eine neugeschaffene Automarke wie Chrysler vor fast 100 Jahren ausgerechnet auf dem entlegenen deutschen Markt Fuß fasste, nötigt dem heutigen Betrachter Respekt ab.

Zugleich wirft es ein bezeichnendes Licht auf den Zustand der einheimischen Autobauer, wenn Kunden auf Tradition und „deutsche Wertarbeit“ pfiffen und stattdessen das Produkt eines amerikanischen Newcomers bevorzugten.

Dabei reden wir nicht von einem banalen Konsumgegenstand, bei dem man sich auch einmal einen Fehlgriff leisten kann, sondern von einem damals hochexklusiven Fortbewegungsmittel, das für die meisten einen unerreichbaren Luxus darstellte.

Woran erkennt man aber nun so einen frühen Chrysler? Nun, das verrät das heute vorgestellte Foto trotz einiger technischer Mängel:

Dass wir es mit einem Chrysler der 1920er Jahre zu tun haben, verrät schon einmal die Kühlerfigur – ein geflügelter Helm.

Die Trommelscheinwerfer, die Positionsleuchten vor der Frontscheibe, die Trittschutzbleche am Schweller unterhalb der Türen und die Ausführung der seitlichen Zierleisten und Türgriffe finden sich präzise so wieder auf dem Foto einer 1925er Chrysler „Six“ Limousine im Standard Catalog of American Cars von Kimes/Clark (Ausgabe von 1985, S. 307).

Die Holzspeichenräder mit abnehmbaren Felgen passen ebenfalls (nur der Tourer besaß Scheibenräder).

Aufpreispflichtiges Zubehör wie Doppelstoßstangen, Weißwandreifen und seitlich montiertes Ersatzrad sparte sich der Besitzer dieser Chrysler Limousine des Typs B-70 offenbar, abgesehen von den erwähnten „Step Plates“.

Angesichts des technischen Befunds lässt dieser Chrysler „Six“ von 1925 wenig zu wünschen übrig. Der damalige Käufer wusste, dass er damit ein auf dem deutschen Markt in dieser Klasse konkurrenzloses Auto erhielt.

Nur eine Sache würde ich gern noch wissen: Wo ist die Aufnahme mit der Chrysler-Limousine von 1925 einst entstanden?

Der Gebäudekomplex mit mittelalterlicher Befestigung im Vordergrund und hochaufragendem gotischem Kirchturm dahinter müsste doch identifizierbar sein:

Nachtrag: Dank eines Leserhinweises ließ sich die anlage als Kloster Bebenhausen in Bade-Württemberg identifizieren – heute sieht es dort noch genauso aus: https://www.luftbildsuche.de/info/luftbilder/das-kloster-bebenhausen-thuebingen-baden-wuerttemberg-163697.html?fbclid=IwAR2kzM_ZAqiW4JtCjzrxXHZzF4lv4KnrEaFYVBmLcl385h_SWNZnWy58hNk

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „1925: Ein früher Chrysler „Six“ in Deutschland

  1. Hallo Michael,
    ich bin mir ziemlich sicher, dass das Foto vor dem Kloster Bebenhausen im wunderschönen Schönbuch, nahe Tübingen aufgenommen wurde. Eine ähnliche Ansicht erschließt sich heute noch dem Besucher, welcher aus dem Naturpark Schönbuch auf den Ort zugeht (oder -fährt). Ein Bild aus genau der selben Perspektive habe ich zwar nicht, aber hier kann man die Kirche bzw. den Vorturm gut erkennen (leider ohne Chrysler Six):
    http://www.gablenberger-klaus.de/2012/06/19/sonntagsprogramm-in-kloster-bebenhausen-24-06-2012/

    http://blog.shop-im-schloss-ludwigsburg.de/kloster-und-schloss-bebenhausen

    Viele Grüße René

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