Schöne Bescherung: Oma Käthe im Opel von 1908/09

Nach ein paar Tagen Funkstille, die einem verschärften Arbeitspensum geschuldet waren, geht es nun weiter mit meinen Streifzügen durch die Wunderwelt des Vorkriegsautomobils.

Um meine regelmäßigen Leser (und mich) für entgangenen Genuss zu entschädigen, habe ich mich pünktlich zu Weihnachten für etwas entschieden, das zweifellos eine schöne Bescherung für die ganze Familie darstellt:

Opel Tourenwagen von 1908/09; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer einst dieses Automobil besaß, hatte sich damit bereits vor Weihnachten eine schöne Bescherung gegönnt und wusste genau, was er da für ein Prachtstück sein eigen nannte.

Entsprechend wirkungsvoll wurde das Fahrzeug inszeniert – ganz offensichtlich von Könnerhand. Privataufnahmen so früher Wagen aus derartiger Perspektive sind nur schwer zu finden – schon das stellt für uns eine schöne Bescherung dar.

„Eine schöne Bescherung“ – das trifft auf das Foto allerdings auch in anderer Hinsicht zu, diesmal als Seufzer gemeint. Denn der Originalabzug befindet sich in sehr schlechtem Zustand, an sehr vielen Stellen hat sich die Oberfläche abgelöst.

Die Situation erschien mir aber zu reizvoll, um sie dem Vergessen anheimzugeben und so begann ich in langwieriger Arbeit die digitalisierte Aufnahme zu retuschieren. Das bescherte mir besinnliche Stunden des Auffüllens von Fehlstellen.

Nur im Bereich der Vorderachse habe ich bewusst einen Teil der Schäden beibehalten, die sich genau in dieser Form über den ganzen Wagen und die Insassen hinwegzogen:

Der Aufwand hat sich gelohnt, finde ich, denn wo findet man ein solches Dokument, bei dem sogar die Herstellerplakette auf der Schottwand hinter der Motorhaube lesbar ist?

Markenkenner hätten wohl auch so erkannt, dass wir hier einen frühen Opel vor uns haben. Die Form des Kühlers mit dem charakteristisch gestalteten Einfüllstutzen ist jedenfalls ein starkes Indiz für ein Fabrikat aus Rüsselsheim aus der Zeit deutlich vor dem 1. Weltkrieg.

Der „OPEL“-Schriftzug auf besagter Plakette bestätigt diese Annahme, sodass man sich im nächsten Schritt der Identifikation des Typs zuwenden kann. Doch bei Sichtung der in Frage kommenden Modelle gilt einmal mehr: „Das ist ja eine schöne Bescherung“.

Denn die Firma Opel, deren damaligen Rang man nicht ermessen kann, wenn man das ernüchternde heutige Erscheinungsbild der Marke zugrundelegt, bot schon vor 1910 eine große Vielfalt an Motorisierungen, die vom legendären „Doktorwagen“ mit 8 PS über etliche Mittelklassemodelle bis hin zu veritablen Luxustypen mit bis zu 60 PS reichten.

Äußerlich waren diese unterschiedlichen Opel-Wagen meist nur an den Proportionen unterscheidbar. Im vorliegenden Fall kommt wohl ein Mittelklassemodell in Frage.

Genauer lässt sich dagegen das Baujahr eingrenzen, wobei Vergleiche mit datierten Abbildungen helfen, wie sie die treffliche „Opel Fahrzeug-Chronik, Band 1“ (Barthels/Manthey, Verlag Podszun, 2012) sehr zahlreich enthält.

Demnach tauchen bei Opel direkt ins Trittbrett übergehende Vorderkotflügel erstmals 1908 auf. Da ab 1910 bei den meisten deutschen Fabrikaten, so auch bei Opel, die Partie zwischen Motorhaube und Schottwand von einem strömungsgünstigen Blech – Windlauf, Windkappe oder Torpedo genannt – kaschiert wurde, spricht viel für 1908/09 als Baujahr.

Das ist ein schönes Ergebnis nach all den Mühen, die mir dieses Foto beschert hat. Wer sich dafür interessiert, wie ein Opel aus genau dieser Zeit mit praktisch identischem Aufbau aussieht, der wird auf der Website von Tobias Wenzel (Wiesbaden) fündig:

Opel 10/18 PS von 1908; bearbeitete Version des Originalfotos von Tobias Wenzel (Bildquelle)

Von wenigen Details abgesehen entspricht dieser überlebende Opel 10/18 PS von 1908 exakt dem Fahrzeug auf meinem historischen Originalfoto.

Wer genau hinschaut, wird bemerken, dass der Motor des Opel 10/18 PS offenbar weniger Platz in Anspruch nahm als das Aggregat des eingangs gezeigten Wagens. So ragt dort die Motorhaube bis zur Oberkante der Schottwand, außerdem ist unter dem Kühler ein verziertes Blech angebracht, das beim Opel 10/18 PS fehlt.

Ich neige daher dazu, „meinen“ Opel eher in der Leistungsklasse oberhalb von 20 PS anzusiedeln; in Frage käme beispielsweise der Typ 18/30 PS. Genau wird man das aber wohl nicht mehr sagen können.

Genau bekannt ist dafür ein weiteres Detail dieses großzügigen Tourenwagens, nämlich der Name einer Insassin: „Oma Käthe“ steht von alter Hand auf der Rückseite des Originalabzugs und vermutlich war sie mit einem Kreuz auf dem Foto markiert.

Die großflächigen Zerstörungen haben leider etwaige Hinweise darauf getilgt, wer nun „Oma Käthe“ war. In Frage kommt neben der Beifahrerin auch das Mädchen auf dem Rücksitz, dessen Gesicht sich leider nur noch teilweise wiederherstellen ließ:

Rund 110 Jahre dürften mittlerweile vergangen sein, seitdem diese schöne Aufnahme an einem unbekannten Ort entstand.

Von den Insassen ist das vielleicht das letzte Zeugnis, das es ins 21. Jahrhundert geschafft hat. Der Opel ist sicher ebenfalls längst den Weg alles Irdischen gegangen.

Wenn Sie, liebe Leser, nun an Weihnachten Fotos mit der Familie machen – wenn auch vermutlich ohne Auto – dann bedenken Sie dabei, dass es passieren kann, dass jemand dereinst im Jahr 2130 die Situation und die Gesichter studiert.

Ob dann noch jemand ausruft – „Das ist ja eine schöne Bescherung!“ – das bleibt der Qualität des Fotos und dem Gang der Geschichte überlassen…

Und nun wünsche ich allen treuen Lesern und Besuchern meines Blogs „Fröhliche Weihnachten“!

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

4 Gedanken zu „Schöne Bescherung: Oma Käthe im Opel von 1908/09

  1. Frohe Weihnachten und herzlichen Dank, Herr Billicsich – das hilft mir bereits sehr! So werde ich auch 2021 den einen oder anderen Beitrag zu österreichischen (inkl KuK) Fahrzeugen bringen können.

  2. Sehr geehrter Herr Schlenger,

    die Literatur über österreichische Fahrzeuge ist dünn. Dieser Club beschäftigt sich mit Gräf&Stift. http://www.historische-fahrzeuge.eu/index.html Herr Stefan Reitgruber ( Kontakt auf der Impressum Seite) kennt sich am Besten aus. Im Shop gibt es Bücherangebote zu Gräf&Stift.

    Schöne Feiertage und einen guten Rutsch ins Neue Jahr. Thomas Billicsich

    >

  3. Herzlichen Dank, Herr Billicsich! Etwas in der Richtung hatte ich vermutet, aber für die Recherche war nicht genügend Zeit. Schöne Feiertage wünsche ich Ihnen! P.S. Über einen Literatur- oder Web-Tipp in Sachen Gräf & Stift würde ich mich freuen, da mir die 6-Zylindertypen der frühen 1920er Jahre Probleme bereiten – es gibt kaum zuverlässig beschriftete Abbildungen dazu…

  4. Sehr geehrter Herr Schlenger,
    einen zusätzlichen interessanten Aspekt ergeben die 2 Kennzeichen am Fahrzeug.
    Das Kennzeichen provisorisch mit Draht befestigt und wahrscheinlich aus Pappe mit O ist ein österreichisches Kennzeichen für Böhmen. Das Z bezeichnet ein Zollkennzeichen. Es handelt sich also um einen in Deutschland zugelassenen Opel der längere Zeit in Böhmen gefahren ist wo auch das Foto entstanden sein dürfte.
    Mit freundlichen Grüßen
    Thomas Billicsich

Kommentar verfassenAntwort abbrechen