War einst auch in Schlesien zuhaus: Stoewer „Greif“

Heute ist in meinem Blog wieder ein deutsches Vorkriegsauto an der Reihe, das trotz geringer Stückzahlen (rund 4.000) auf alten Fotos eine erstaunliche Präsenz entfaltet.

Die Rede ist vom Stoewer „Greif“, mit dem die Traditionsmarke aus Stettin ab 1935 den „Röhr Junior“ weiterentwickelte, den die zuvor untergegangene Marke aus dem hessischen Ober-Ramstadt nach Lizenz von Tatra gebaut hatte.

Die Vorgeschichte und die technischen Details des Stoewer „Greif“ habe ich vor längerer Zeit umfassend hier dargestellt. Daher beschränke ich mich heute darauf, einige „neue“ Bilder dieses Typs Revue passieren zu lassen.

Sie erzählen davon, wo man überall dem Stoewer „Greif“ aus dem fernen Stettin begegnen konnte. Einer der Orte gibt zum Schluss Anlass für eine persönliche Geschichte – Liegnitz in Schlesien. Diese Geschichte endet nach dem 2. Weltkrieg in Hessen.

Wie es der Zufall will, entstand dort auch das jüngste Foto eines Stoewer „Greif“ aus meiner Sammlung, welcher in der amerikanischen Besatzungszone Hessen trotz einiger unübersehbarer Spuren der Zeit ein geschätztes Familienmitglied war:

Stoewer „Greif“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Stoewer wird der matten Lackierung nach zu urteilen im Krieg bei einer Militäreinheit im Einsatz gewesen sein. Danach erhielt er auf heute meist nicht mehr nachvollziehbaren Wegen neue Papiere und neue Besitzer.

Die wechselhafte Geschichte verband den Wagen vielleicht mit seinen neuen Eignern, die hier bei einem Ausflug ins Grüne posieren. Mit dem kleinen Stoewer war diese Familie auf jeden Fall am oberen Ende der sozialen Stufenleiter angesiedelt.

Ganz gleich, was die Damen hinter sich hatten, wuchsen die beiden Buben in materiell gesicherten Verhältnissen auf. Nicht vergessen darf man dabei, dass der Besitz eines Autos für den Durchschnittsbürger hierzulande erst in den 1960er Jahren in Reichweite kam.

Der Stoewer mit seinem 34 PS-Boxermotor, Hydraulikbremsen und gutem Platzangebot war bis dahin trotz des Alters seiner Konstruktion ohne Weiteres konkurrenzfähig mit dem Volkswagen – der erst nach dem Krieg eine zivile Karriere machen sollte.

Das Modell war bei Stoewer optisch wie technisch überarbeitet worden und hatte mit dem ursprünglichen Tatra 75 nur noch das Grundkonzept gemein. Mit der windschnittigen Frontpartie und den tropfenförmigen Scheinwerfern wirkte er zweifellos sehr adrett:

Stoewer Greif; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Dieses Exemplar war laut Nummernschild in Berlin zuhause, wo in automobiler Hinsicht alles versammelt war, was es an in- und ausländischen Exoten in Deutschland zu kaufen gab.

Hier ist übrigens das hintere Ausstellfenster zu sehen, das auch an dem in Hessen zugelassenen Stoewer „Greif“ ansatzweise zu erkennen ist. Dieses Detail verschwand bei der weiteren Modellpflege ebenso wie der Namenszusatz „Junior“, den man noch von Röhr übernommen hatte.

Ab 1937 prangte auf dem eleganten Kühler nur noch der Schriftzug „Stoewer Greif“ – passend zum Wappentier von Pommern und dem Markenemblem der Stettiner Marke.

Recht gut zu erkennen ist dies auf folgender Aufnahme:

Stoewer Greif; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese hübsche Cabrio-Limousine war ausweislich des Nummernschilds im badischen Landkreis Pforzheim zugelassen.

Trotz der insgesamt recht geringen Zahl an Stoewer-Wagen des Typs Greif sieht man daran, wie verbreitet diese doch in der Fläche waren – dank eines über Jahrzehnte aufgebauten Händernetzes.

Auch wenn die Gebrüder Stoewer zu dem Zeitpunkt das lange von ihnen persönlich geführte Unternehmen verlassen hatten, zehrte die Marke immer noch von dem ausgezeichneten Ruf, der ihrem Engagement und Können zu verdanken war.

So findet man den Stoewer „Greif“ auch auf Fotos aus Deutschlands Osten – hier eines aufgenommen 1937 im niederschlesischen Liegnitz:

Stoewer Greif; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die junge Dame mit der sportlichen Figur posiert hier vermutlich neben dem Wagen ihres Vaters, der – etwas fülliger – schemenhaft hinter dem Lenkrad zu erkennen ist.

Da der Stoewer trotz seiner kompakten Ausmaße nicht gerade billig war, konnten ihn sich nur betuchte Bürger leisten. In Liegnitz – immerhin nach Breslau die zweitgrößte Stadt Schlesiens mit eigenem Autobahnanschluss – kamen dafür vor allem die gutsituierten Bewohner der Villengebiete in Betracht, die nach der Jahrhundertwende entstanden waren.

Doch der Wohlstand sollte schon bald der Sorge um die blanke Existenz weichen. Zwar war Liegnitz im Krieg von Bombenangriffen verschont geblieben, doch näherte sich im Januar 1945 von Osten unaufhaltsam die Front.

Der jungen Dame muss es noch vor der Besetzung der Stadt am 8. Februar gelungen sein, mit ein paar Habseligkeiten zu entkommen, sonst hätte es diese Aufnahme nicht ins 21. Jahrhundert geschafft. Eventuell leistete dabei der Stoewer der Familie einen letzten Dienst, mit Benzin aus Sonderzuteilungen, das man aufbewahrt hatte.

Zur gleichen Zeit packte in der Liegnitzer Baumgartstraße ein Mädchen seinen Koffer. „Nimm‘ nur das Nötigste mit, wir sind bestimmt nicht lange weg“, rief die Mutter von nebenan, als sie die Militärpistole aus dem Schreibtisch nahm, die ihr Sohn beim letzten Fronturlaub wohlweislich dagelassen hatte.

Kurz zuvor hatte sich eine ältere Nachbarin im Haus erschossen – sie war Kriegerwitwe ohne Verwandte und sah sich mit einem ausweglosen Schicksal konfrontiert.

„Denk‘ an die Schulzeugnisse, das Sparbuch und Dein Fotoalbum. Sonst nur warme Kleidung und Wäsche zum Wechseln.“

Kurze Zeit später fiel die Haustür ins Schloss. Die Mutter drehte den Schlüssel, prüfte nochmals den festen Sitz der Tür. Dann ging es die Treppe hinunter und zu Fuß zum Bahnhof, wie so oft, wenn man auf Verwandtenbesuch nach Breslau oder Berlin fuhr.

Diesmal war es anders. Irgendwo endete die Fahrt des mit Frauen, Kindern und alten Leuten vollgestopften Zuges. „Nach Westen, unbedingt nach Westen“, hieß es.

Von nun an ging es zu Fuß weiter, Hinweisen von Verwandten vor der Flucht und Gerüchten folgend. Während sich Mutter und Tochter über Böhmen nach Bayern durchschlugen, sorgten unterwegs wildfremde Mitmenschen für Unterkunft und Essen. Als die beiden den amerikanischen Linien näherkamen, vergruben sie die Pistole in einem Waldstück.

Irgendwo auf diesem Weg in ein neues Leben – auf dem das Mädchen das Schlafen in der Badewanne und das Hüten von Kühen auf einem bayrischen Bauernhof kennenlernen durfte – erlebte es am 15. März 1945 seinen 14. Geburtstag. Das Mädchen war meine Mutter – genau heute wäre sie 90 Jahre alt geworden.

Die in alle Winde verstreute Familie fand sich nach einiger Zeit in Stuttgart wieder. Das Mädchen aus Liegnitz baute dort sein Abitur, studierte Fremdsprachen und absolvierte eine ansehnliche Karriere, bis sie selbst Mutter wurde.

Den Rest ihres Lebens verbrachte sie in äußerlich soliden Verhältnissen in der hessischen Wetterau, doch heimisch und glücklich geworden ist sie dort nicht. Den Verlust des Zuhauses der Kindheit hat sie nie verwunden, wie viele ihrer Generation auf allen Seiten.

Heute leben kaum noch Zeitgenossen, die sich daran erinnern. Deshalb sind Vorkriegswagen nicht irgendwelche alten Autos. Sie sind die letzten Zeugen jener Zeit und mit jedem überlebenden Fahrzeug sind Schicksale verbunden, von denen wir nur das wenige wissen, was Teil der Familiengeschichte wurde – längst nicht alles wurde erzählt….

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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