Fund des Monats: Ein Certus 7/32 PS

Als ich zum ersten Mal das Foto des Wagens sah, das ich heute zeigen kann, wusste ich sofort: Das ist ein „sicherer“ Kandidat für die Kategorie „Fund des Monats“.

Das Auto erwies sich nämlich als ein rarer Vertreter der kurzlebigen Firma Certus – benannt nach dem lateinischen Wort „certus“, was neben „sicher“ auch „verlässlich“ bedeuten kann, beides Attribute, die man einem Automobil gern zuspricht.

Mein Dank geht in diesem Zusammenhang an Willem Krämer aus Hamburg, einem ausgesprochen netten Zeitgenossen, der mir nicht nur großzügig den Originalabzug mit dem Certus spendiert, sondern auch noch eine reizende Geschichte mitgeliefert hat.

Doch vor dem vergnüglichen Teil einige trockene Fakten – keine Sorge, viele werden es nicht. Über die Wagen des Certus-Automobil-Werks aus Offenburg (Baden) ist nur wenig bekannt (das Folgende stammt im wesentlichen aus dieser Quelle).

1919 gründeten der gebürtige Thüringer Franz Wroblewski und ein gewisser Wilhelm Dierks in Offenburg eine Werkstatt für Karosseriebau und Reparaturen. Auch als Vertreter für Dürkopp-Automobile war man zeitweise aktiv.

Offenbar liefen diese Geschäfte gut und nachdem man umfassende Erfahrung mit allen konstruktiven und technischen Aspekten des Wagenbaus gesammelt hatte, wurde 1927 der Wunsch nach einer eigenen Autofabrikation Wirklichkeit.

Mit zugelieferten Motoren der französischen Firma Scap entstanden sowohl ein Vierzylinder-Wagen (Typ 7/32 PS) als auch zwei große Achtyzlinder-Typen (8/45 PS bzw. 9/55 PS).

Zwar trat ein Certus im September 1927 sogar bei einem Tourenwagenrennen an und belegte dort den fünften Platz, doch ahnt man schon, wie die Sache ausgehen musste. Nach nur einigen Dutzend Exemplaren ging das Certus-Automobilwerk 1929 pleite.

Damit teilte Certus das Schicksal unzähliger deutscher Kleinserienhersteller und wie diese gehört er längst zu den Namen, die keiner mehr kennt. So gehören Originalaufnahmen von Certus-Automobilen heute zu den ganz großen Raritäten.

Indessen ist es nicht das erste Mal, dass mein Blog für Vorkriegsautos zur Bühne eines Comebacks wird, mit dem man kaum noch rechnen durfte. Und hier haben wir den Altstar mit dem Künstlernamen Certus kaum gealtert vor uns, als sei es erst gestern gewesen:

Certus 7/32 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger (Schenkung von Willem Krämer, Hamburg)

So sieht also ein Wagen aus, der von einer zuvor nicht als Autobauer in Erscheinung getretenen Firma gefertigt wurde – beeindruckend, nicht wahr?

Das Auto konnte es formal mit jedem deutschen Mittelklassefabrikat der späten 1920er Jahre aufnehmen – man sieht, dass der Karosseriebau die Stärke des Unternehmens war. Man vergleiche den Certus einmal mit Basteleien anderer Kleinserienhersteller jener Zeit.

Nie hätte ich gedacht, dass dieser makellos gestaltete Wagen das Produkt eines nur lokal bedeutenden Karosserie- und Reparaturbetriebs war. So stand ich zunächst auch auf dem Schlauch, um was für ein Fabrikat es sich handelt.

Erst eine Ausschnittsvergrößerung förderte Teile des Markennamens zutage, anhand derer mir schließlich mit Hilfe von Claus Wulff aus Berlin die Identifikation gelang – das ist ein Certus, soviel ist sicher!

Derartige Momente sind der Lohn unzähliger Stunden Arbeit, die mir zwar niemand vergütet, die sich aber unbedingt lohnen, wie die Reaktionen meiner stetig wachsenden Leserschaft zeigen.

Da ich im Unterschied zu manchen Sammlern mit besserem Material und mehr Ahnung im Netz visibel bin, erhalte ich immer wieder Anfragen von Menschen, die einfach nur wissen wollen, was das für ein Auto war, auf dem die Uroma oder der Großvater zu sehen sind.

Nicht immer springt etwas dabei für mich heraus im Sinne verwertbaren Bildmaterials. Doch wenn ich wie gerade gestern eine Schweizerin glücklich machen kann, die nun weiß, dass Ihr Großvater einst einen feinen Citroen C6 besaß, der bloß aus ziemlich ungünstiger Perspektive fotografiert worden war, dann bin ich auch zufrieden.

Geradezu begeistert bin ich freilich dann, wenn Schätze wie dieser Certus an den Gestaden meiner virtuellen Heimstatt im Netz stranden. Und ich bin wunschlos glücklich, wenn ich genau weiß, wem das Auto gehörte und wer einst mit ihm abgelichtet wurde:

Der junge Mann, der hier mit einer Coolness posiert, die man erst einmal erreichen muss, war der Vater jenes Willem Krämer, dem ich dieses Dokument verdanke – und nicht nur dies.

Willem Krämer hat mir nämlich noch etwas über seinen alten Herrn aus der Zeit erzählt, als dieser noch im „Halbstarkenalter“ war – das war in den frühen 1930er Jahren.

„Willi ist links zu sehen und sein Kumpel Hermann Schmidt rechts. Die beiden fuhren samstags die Dörfer rund um Kehl, Offenburg und Straßburg ab und sammelten die Mädels ein, die sie dann zum Tanz in Großvaters Gasthof „Zur Linde“ in Stadelhofen bei Kehl kutschierten.“

So lief das einst ganz real mit dem „Dating“ – irgendwie mussten die jungen Leute ja zusammenkommen können, wenn keine Eltern in der Nähe sollten.

Der Certus fungierte also gewissermaßen als „Abschleppwagen“, bis er irgendwann etwas Modernerem wich – mehr weiß auch Willem Krämer leider nicht über das Auto. Dabei dürfte es sich der Größe nach zu urteilen übrigens um das Vierzylindermodell 7/32 PS gehandelt haben. Die beiden Achtzylinder besaßen eine wesentlich längere Haube.

Immerhin konnte mir Willem Krämer aber berichten, was aus seines Opas Gasthof und Tanzschuppen „Zur Linde“ wurde. Der war offenbar dem örtlichen katholischen Pfarrer ein Dorn im Auge – wohl nicht nur, weil der Wirt ein Protestant war, sondern auch, weil viele Männer am Sonntag den Besuch des Gasthauses dem der Kirche vorzogen.

Dagegen wetterte der Gottesmann nicht nur von der Kanzel, angeblich bewerkstelligte er es auch, dass dem Gasthof auf bürokratischem Wege der Garaus gemacht war – ein früher Fall von „Cancel Culture“ also.

Das sind die Geschichten, die einst das Leben schrieb und wir ersehen daraus, dass manche Dinge sich wohl nie ändern, andere dagegen vergänglich sind wie der Certus.

Gegen die Vergänglichkeit und das Vergessen tun kann indessen jeder etwas, dessen Herz an der Welt von gestern hängt – ich tue das auf meine Weise mit diesem Blog und werde es noch lange tun, soviel ist sicher!

© Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

4 Gedanken zu „Fund des Monats: Ein Certus 7/32 PS

  1. Die 4. Kategorie ist sicherlich die Anspruchsvollste, wenn eben kein Fahrzeug und auch keinerlei hinreichende Dokumentation vorhanden ist. Die anderen Kategorien überschneiden sich aber auch – ein Wanderer W40 käme in Gruppe 2, und ebenso ein DKW F7 – ein Audi 225 aber in Gruppe 1, obwohl er seltener ist. Oder der Zündapp Janus, dessen Konzept ein aktuelles Microcar der Elektromobilität wieder aufgreift : Zündapp baute Krafträder von 50 bis 750ccm, vom Mofa bis zum Wehrmachtsgespann, und wie auch bei Hercules existiert der Markenname samt Logo heute noch – für Fahrräder und e-Bikes. In diesem Sinne käme auch der Janus in die Kategorie 1, und obwohl er ein einmaliger Ausflug in die Welt des Vierrädrigen blieb, entstanden über 6000 Exemplare – also vergleichbar mit der DKW Schwebeklasse, die hier schon zusammen mit der hübschen „Flamme“ besprochen wurde.

    https://www.edle-oldtimer.de/zuendapp-janus
    https://brennabor.bike

    In Bauzeit und Stückzahl vergleichbar wäre auch z.B. der Brennabor Ideal … und auch Brennabor baute zunächst Fahrräder, so wie Opel.
    Was nicht mal ein Jahrzehnt lang aufblühte, und dann gebeutelt von Hochinflation und Weltwirtschaftskrise wieder zusammenbrach, war kaum dokumentiert – und was an Konstruktionsplänen und Geschäftsunterlagen womöglich noch 15 oder 20 Jahre lang verwahrt wurde, war nach 1945 verbrannt und vernichtet – und gehört nun meist zur Kategorie 4, so wie der hier vorgestellte Certus 7/32 PS.

  2. Hallo Michael,

    ich bin besonders fasziniert, wenn Du Fotos von Marken vorstellst. die vollständig aus dem Bewußtsein quasi aller verschwunden sind, also selbst bei Oldtimerfreunden nur Achselzucken auslösen.
    Ich unterscheide dabei 4 Kategorien:
    Kategorie 1: Oldtimer von Marken, die heute noch existieren, wie Mercedes, Opel,FIAT, Peugeot, etc, weshalb diese im Bewußtsein von allen Autointeressierten sind.
    Kategorie 2: Oldtimer von untergegangenen Marken, die aber früher so erfolgreich waren, dass es heute noch markenspezifische Clubs oder IGs etc gibt, wie zB bei Borgward, Adler, Brennabor, Stoewer, HANOMAG, DIXI etc.
    Kategorie 3: Oldtimer, von seltenen Marken, wo so wenige Fahrzeuge überlebt haben – manchmal nurein einziges, aber immerhin ein einziges, dass es keine markenspezifischen Clubs etc . gibt, wie zB bei LEY, PROTOS, PRESTO, BOB, HATAZ etc.
    Kategorie 4: Marken von denen – nach heutigem Kenntnisstand – nicht ein Fahrzeug überlebt hat, zB. Lindcar, Peter & Moritz, Hildebrand, B.F.A. etc. Und in diese vierte Kategorie fällt CERTUS. Hier Informationen – wie zeitgenössische Fotos – zu zeigen und damit zugänglich zu machen ist großartig.
    Die vierte Kategorie ist meine persönliche Lieblingskategorie und ich wünsche mir gerade hier noch einige Entdeckungen. Deshalb weiter so !
    Mit den besten Grüßen aus Bärlin
    Claus

  3. Erwartungsvoll betrachtete ich auch heute Ihren Blog, und „Certus“ machte mich schon deshalb neugierig, weil
    es auch 2 Fotogeräte mit ganz ähnlichem Namen, produziert vom Certo-Camerawerk gibt : Einen Entfernungsmesser und einen Vergrößerungsapparat namens „Certos“, die von dieser Dresdner Firma hergestellt wurden.
    Nun machte ich mir erste Gedanken zur Einordnung dieses Certus 7/32 PS in seine Epoche, und da freut es mich, daß Sie hier wieder einen Vierzylinder vorstellen, auch wenn zu dieser mit 3 Seitenfenstern versehenen Limousine auch ein Sechszylinder gut gepaßt hätte :
    Aufgrund der in den 20er Jahren üblichen Doppelformel zur (vorangestellt steuerlichen) Angabe der Motorleistung 7/32 PS nutzte ich die Suche von 9/30 bis 6/32, und so fand ich zu 8/32 gerade einen früheren Fund des Monats, den Ansaldo mit ebenfalls in 3 Seitenfenstern aufgebauten Reutter-Karosserie, den Sie uns vor 4 Jahren vorstellten. Wo mit dem Aufkommen der Stromlinie Karosseriedesigns „aus einem Guß“ entstanden, die das Erkennen auf den ersten Blick ermöglichten, finde ich diese scheinbare Gleichförmigkeit so interessant, die sich erst in so makellos präziser Detailarbeit wie an den Kotflügeln dieses Certus von der zum Ende der 20er Jahre mitunter nahezu baugleich erscheinenden Konkurrenz abhebt, während die damaligen Scheinwerfer kaum eine Zuordnung ermöglichten. Details, die – ich gehe mal in den Modellbau – in 1:18 oder 1:24 noch angemessen zur Geltung kommen, aber in 1:72 oder im H0-Eisenbahnmaßstab 1:87 nicht mehr darstellbar sind, ohne die Proportionen zu verzerren.
    So mag man einige Anklänge in der Formung der Motorhaube samt Kühlergrill erkennen (und die römische Namensgebung ließ vielleicht auch für das Design den Blick nach Süden schweifen); und wenn es heute auch wieder eines zweiten Blicks bedarf, um einen Audi von einem Hyundai oder gar einem Wey Coffee zu unterscheiden, wenn man nur ein Kühlergrill ohne Markenemblem vorgelegt bekäme, so steht der Certus auch für eine Epoche, in der eine bestimmte Marke unter der Vielzahl der Fabrikate erst nach genauester Betrachtung zu unterscheiden war.
    Vielen Dank Herr Schlenger für diese abermals sehr interessante Bildpräsentation !

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