Begegnung mit den Adlons: Ein Gräf & Stift SR3

Bevor ich hier morgen den Fund des Monats Oktober 2022 präsentiere – einen denkbar kleinen, gedacht für die sogenannten kleinen Leute – gibt es heute noch einmal großes Kino.

Größer könnte der Kontrast kaum ausfallen. Das betrifft nicht nur die Abmessungen des Fahrzeugs, sondern auch die gesellschaftliche Stellung der einstigen Besitzer.

Ermöglicht hat mir diesen wahrhaft grandiosen Auftritt Erik Flemming aus Berlin. In seinem Besitz befinden sich nämlich zwei bemerkenswerte Zeugnisse, gleichermaßen in automobiler wie in gesellschaftlicher Hinsicht.

Beginnen wir mit dem ersten, das uns unvermittelt in die Sphären der oberen Zehntausend der 1920er Jahre katapultiert – halten Sie sich gut fest:

Gräf & Stift SR3; Originalfoto aus Sammlung Erik Flemming (Berlin)

Man weiß gar nicht, was man hier eindrucksvoller finden soll – die an italienische Renaissance-Architektur erinnernde Kulisse der Potsdamer Orangerie, den kolossalen Tourenwagen oder den ehrfurchtgebietenden Herrn daneben.

Beginnen wir der Einfachheit halber mit ihm, denn dank Erik Flemming wissen wir auf Anhieb, um wen es sich handelt.

Hier sehen wir Louis Adlon – bürgerlich eigentlich Ludwig Anton Adlon – den Eigner des berühmten gleichnamigen Luxushotels am Berliner Boulevard „Unter den Linden“.

Als vielbeschäftigter Mann wird Adlon nicht viele Gelegenheiten gehabt haben zu einer derartigen Ausfahrt – dafür stand ihm aber ein Wagen zur Verfügung, der damals ein schwer überbietbares Prestige auf dem europäischen Kontinent bot.

Erik Flemming hatte mich in der Hoffnung kontaktiert, dass ich das Fabrikat bestimmen könne. Und auch wenn ich in solchen Fällen mitunter passen muss, war die Sache hier klar:

Der stolze Löwe auf dem Spitzkühler mit vorn angebrachter Plakette lässt keinen Zweifel: Dies war ein Gräf & Stift aus der gleichnamigen österreichischen Luxusmanufaktur.

Wem die deutschen Oberklassewagen nicht exklusiv genug waren, griff hierzulande gern auf diese enorm teuren und prestigeträchtigen Automobile zurück, die zudem eine souveräne Motorisierung besaßen.

Denn dieser Gräf & Stift steht eindeutig in der Tradition des ab 1919 gebauten Typs SR mit seinem 7,8 Liter großen Sechszylindermotor. Der leistete anfänglich 75 PS, in der 1924 eingeführten Ausbaustufe SR3 dann sogar 90 PS.

Der Typ SR3 unterscheidet sich durch gestalterische Besonderheiten der Haubenpartie von den Vorgängern, hier zu sehen am Beispiel eines Fotos aus meiner Sammlung:

Gräf & Stift SR3; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bei diesem Exemplar muss es sich um ein spätes (1925/26) handeln, da es zwar noch den traditionellen Spitzkühler trägt, aber schon Vorderradbremsen besitzt.

Der Wagen von Louis Adlon sieht im vorderen Bereich praktisch genauso aus, ihm fehlen aber – wie es scheint – noch die Vorderradbremsen.

Damit wird man ihn in zeitlicher Hinsicht etwas früher verorten, also 1924/25 nach meiner Einschätzung (viel Vergleichsmaterial findet sich bei diesen raren Manufakturautos nicht).

Bevor wir uns dem zweiten Foto des Wagens zuwenden, sei noch auf die Dame am Steuer verwiesen, das war nämlich Louis Adlons Frau Hedda:

Hedda Adlon werden wir gleich wiederbegegnen, und zwar bei einem Ausflug im Gräf & Stift, den sie ohne ihren Mann im Grunewald unternahm, so ist es überliefert.

Übrigens sind Hinweise zu der Plakette willkommen, die rechts vom Ersatzrad zu sehen ist. Sie könnte auf den Karosseriehersteller verweisen, aber ebenso auch auf den Händler, bei dem das sehr vermögende Ehepaar Adlon den Wagen erstand.

Nun auf zur zweiten Ausfahrt mit dem Gräf & Stift.

Bedenken Sie dabei das Privileg, diesen Herrschaften zu begegnen, sei es auch nur virtuell nach bald 100 Jahren:

Gräf & Stift SR3; Originalfoto aus Sammlung Erik Flemming (Berlin)

Bei dieser Gelegenheit vertraute Hedda Adlon den gewaltigen Wagen dem Chauffeur an und posiert hier in sportlich erscheinender Montur neben dem Auto. Sie mustert uns ein wenig kritisch, wie es scheint.

Dabei besteht kein Zweifel daran, dass wir uns in diesen Kreisen zu benehmen wissen. Wir sparen uns bei der unverhofften Begegnung geistlose Fragen nach Höchstgeschwindigkeit und Verbrauch, loben dafür das majestätische Erscheinungsbild.

Und dann trauen wir uns noch etwas: „Verehrte Frau Adlon, verzeihen Sie die unbotmäßige Neugier, aber Ihr prächtiger Gräf & Stift hat jüngst eine Aufwertung erfahren, nicht wahr?“

„Wie kommen Sie darauf, kennen Sie sich etwa aus?“, so ihre kühle Antwort.

„Nun, gnädige Frau, natürlich nicht so gut wie sie“, versuchen wir zu schmeicheln. „Aber wir meinen, Ihr Automobil kürzlich noch ohne Vorderradbremsen vor der Potsdamer Orangerie gesehen zu haben“.

„Da haben Sie tatsächlich recht“, und nun taut sie etwas auf.

„Mein Gatte Louis hat von einem Gast aus Wien erfahren, dass Gräf & Stift den Wagen neuerdings mit Vierradbremse anbietet. Da haben wir ihn über die Berliner Niederlassung nachrüsten lassen. Eine Stoßstange haben wir ihm bei der Gelegenheit auch spendiert. Der Verkehr wird ja immer dichter, seitdem die Amerikaner uns mit ihren Billigwagen überschwemmen. Nun muss ich aber weiter, gesellschaftliche Verpflichtungen!“

„Gewiss, gnä‘ Frau, verbindlichen Dank und gute Fahrt“. Mit diesen Worten ziehen wir Hut oder Mütze und freuen uns, dass wir etwas daheim zu erzählen haben.

So könnte unsere Begegnung abgelaufen sein. Und nun interessiert mich, was Sie, verehrte Leser, zu dem zweiten Foto des Gräf & Stift der Adlons zu sagen haben:

Liege ich mit meiner Interpretation der Metamorphose des Gräf & Stift und dem darauf bezogenen fiktiven Dialog mit Hedda Adlon richtig?

Wem nichts dazu einfällt, als sprachloses Staunen angesichts dieses grandiosen Wagens, der ist natürlich wie immer ebenfalls willkommen. Genießen Sie ruhig auch still diese Bilder, denn schon morgen werden hier entschieden kleinere Brötchen gebacken…

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

4 Gedanken zu „Begegnung mit den Adlons: Ein Gräf & Stift SR3

  1. Wenn man auch noch weiter zurückliegende Beiträge kommentieren darf (?): Der Form nach müßte das ein Plakette von Erdmann & Rossi sein.

  2. Perfekter Dialog und erneut eindrucksvolle Aufnahmen, nun sogar zu prominenten Kreisen ! Bemerkenswert auch die nachgerüsteten Vorderradbremsen bei diesem prachtvollen Fahrzeug ! Ein Gräf & Stift war auch 10 Jahre zuvor im Einsatz, als ein Doppelmord die Urkatastrophe des vorigen Jahrhunderts anbahnte. So steht auch der SR3 für eine Epoche, in der 15 Jahre später abermals eine noch schlimmere Katastrophe ihren Lauf nahm. So haben wir in dieser letzten Oktoberwoche mit dem Laurin & Klement vor dem Großpriesener Brauereischild, dem F.N. wie auch dem Alfa Romeo und nun dem Gräf & Stift nicht nur eine Automobilchronik, sondern in Ihrer textlichen Aufbereitung auch Geschichte pur erlebt !

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