Fund des Monats: Ein „Velie“ von 1925 in Wiesbaden

US-Automobilhersteller waren bereits kurz nach 1900 am deutschen Markt präsent. Die ersten Unternehmen aus Übersee, deren Fahrzeuge sich hierzulande verkauften bzw. die in Lizenz nachgebaut wurden, waren vermutlich Oldsmobile und Locomobile.

Hier haben wir eine auf etwa 1902 datierbare Anzeige, mit der ein von Locomobile entwickelter Dampfwagen beworben wurde. Damals redeten noch keine fachfremden Bürokraten in die technologische Entwicklung hinein, weshalb in der Frühzeit Autos mit Elektro-, Benzin- oder Dampfantrieb frei konkurrieren konnten:

Locomobile-Reklame um 1902; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Ab etwa Mitte der 1920er Jahre war praktisch jeder US-Hersteller von mehr als nur regionalem Rang am deutschen Markt aktiv.

Teils importierte man komplette Fahrzeuge, teils montierte man sie in Deutschland, oft in Verbindung mit einer im Inland gefertigten Karosserie.

Ende der 1920er Jahre waren US-Fabrikate auf deutschen Straßen allgegenwärtig; die entwicklungs- und produktionstechnisch damals noch rückständige deutsche Autoindustrie vermochte die rasch zunehmende Nachfrage nicht annähernd zu stillen.

Doch es gab noch einen weiteren Weg, auf dem amerikanische Autos nach Deutschland gelangen konnten, nämlich im „Bordgepäck“ gut situierter Reisender aus den Staaten.

Dass es keineswegs ungewöhnlich war, den eigenen Wagen auf Deutschlandtour mitzunehmen, belegt eine Broschüre, die seinerzeit über die deutsche Touristeninformation in New York vertrieben wurde und sich gezielt an US-Reisende wandte, welche die Sehenswürdigkeiten auf eigener Achse erfahren wollten:

Broschüre der Reichsbahnzentrale für den deutschen Reiseverkehr von 1934; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Das mir vorliegende Exemplar stammt zwar aus dem Jahr 1934 – es erwähnt unter anderem das Autobahnprojekt des nationalsozialistischen Regimes und die Planungen für die Olympischen Spiele 1936.

Doch basiert es erkennbar auf einer früheren Ausgabe der 1920er Jahre. Darauf weisen neben dem weitgehenden Fehlen von Staatspropaganda auch einige Abbildungen hin.

So findet sich auf der folgenden Darstellung der Reise über den Atlantik links unten ein Chevrolet des Modelljahrs 1928, der wenige Jahre später in den USA heillos veraltet war:

Broschüre der Reichsbahnzentrale für den deutschen Reiseverkehr von 1934; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Zu den Höhepunkten einer Deutschlandreise, die in dieser Broschüre angepriesen werden, gehören neben den historischen Städten, den modernistischen Bauten der 1920er Jahre, der großen Musiktradition und -stätten auch die zahlreichen mondänen Kurorte.

Neben Baden-Baden werden hier – kaum überraschend – Bad Nauheim (meine Heimatstadt) und Wiesbaden angeführt, die damals noch Bäder von internationalem Rang waren.

Nicht nur aus Lokalpatriotismus will ich auch die entsprechende Seite aus der erwähnten Broschüre zeigen:

Broschüre der Reichsbahnzentrale für den deutschen Reiseverkehr von 1934; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Tatsächlich lässt sich von hier – konkret von Wiesbaden aus – eine treffliche Brücke zu dem Fahrzeug schlagen, das ich heute als Fund des Monats März 2023 präsentiere.

Auf den ersten Blick handelt es sich um ein völlig unscheinbares Fahrzeug, doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es perfekt das illustriert, worum es in der obigen Broschüre geht – nämlich als US-Tourist mit dem eigenen Wagen in Deutschland unterwegs zu sein.

Wer Wiesbaden kennt, wird sogleich erkennen, dass diese Aufnahme auf dem hoch über der alten Römerstadt gelegenenen Neroberg entstanden sein muss, wo noch heute der klassizistische Rundtempel steht, der hier im Hintergrund zu sehen ist:

Velie von 1925; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Das im Original stark verblasste Foto dürfte der Komposition und technischen Qualität nach zu urteilen von einem vor Ort tätigen Berufsfotografen angefertigt worden sein.

Der großgewachsene Herr mit dem breitkrempigen Hut ist aus meiner Sicht der „reiche Onkel“ aus Amerika, der seine Deutschlandreise vermutlich zum Verwandtenbesuch nutzte. Dier vier übrigen Personen sind wohl Einheimische.

Zunächst war mir die Sache mit dem hierzulande in dieser Ausführung untypischen Hut gar nicht aufgefallen. Das bemerkte ich erst, als ich den Wagen als US-Fabrikat identifiziert hatte.

Möglich war mir das übrigens nur, weil man auf der Nabenkappe des Vorderrads ein auf dem Kopf stehendes „V“ erkennen kann und ich mangels Kandidaten aus dem deutschsprachigen Raum vermutete, dass es sich um einen amerikanischen Wagen handeln könnte:

Zum Glück umfasst der Abschnitt im „Standard Catalog of American Cars“ von Kimes/Clark, der sich US-Marken mit Anfangsbuchstaben „V“ widmet, nur rund ein Dutzend Seiten.

So landete ich rasch bei der 1908 von Willard L. Velie in Moline (Illinois) gegründeten Marke, von der ich zuvor noch nie gehört hatte.

Velie hatte als Hersteller landwirtschaftlicher Wagen angefangen und dank des Geldes seiner Mutter – Erbin des Landmaschinenriesen John Deere – gelang der Einstieg in die Serienproduktion von Automobilen.

Auf Einbaumotoren folgten später selbstkonstruierte Vierzylinderaggregate mit um die 40 bis 50 PS. Ab 1914 bot man außerdem kleine 6-Zylinder an, ab 1920 auch große. Die Produktion war zwar rentabel, aber stückzahlenmäßig nach US-Maßstäben unbedeutend.

Nach einem Hoch von 7.000 Fahrzeugen im Jahr 1920 pendelte sich die Produktion bei gut 4.000 Wagen jährlich ein. Daher halte ich es für weniger wahrscheinlich, dass Velie einst einen Vertrieb in Deutschland unterhielt.

Beweisen kann ich natürlich nicht, dass der einst auf dem Wiesbadener Neroberg für die Nachwelt festgehaltene Velie tatsächlich mit dem Herr mit breitkrempigen Hut über den Großen Teich gekommen war, doch plausibel erscheint es.

Datieren lässt sich das Fahrzeug, dessen eigenwillig gestalteter hinterer Rahmenausleger die Identifikation erleichterte, auf etwa 1925. Als Motor dürfte ein knapp 50 PS leistender 6-Zylinder verbaut gewesen sein.

Bereits 1929 endete die PKW-Produktion von Velie, nachdem Firmengründer Willard L. Velie und sein gleichnamiger Sohn kurz hintereinander verstorben waren.

Auch vor diesem Hintergrund dürfte dieses schöne Foto mit einem Velie aus deutschen Landen ziemlich exklusiven Charakter haben. Wer mehr über etwaige Europa-Aktivitäten dieser Marke weiß, möge dies über die Kommentarfunktion kundtun.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

3 Gedanken zu „Fund des Monats: Ein „Velie“ von 1925 in Wiesbaden

  1. Damals konnte man nicht einfach mit dem Auto eine Langesgrenze passieren, wegen der teilweise recht hohen Einfuhrzölle hatte man Angst, dass Reisende das Fahrzeug im Gastland verkaufen. Man musste an der Grenze eine temporäre Verzollung vornehmen, wobei man die hinterlegten Einfuhrabgaben bei der Ausreise zurück bekam. Um das zu vereinfachen wurde die AIACR (Association Internationale des Automobile Clubs Reconnus) in Paris gegründet, welche als eine Art Clearing-Stelle fungierte. Die nationalen Automobilclubs stellten ein sogenanntes Triptik aus, eine Art Zollpass für Fahrzeuge, in welchem sie die Übernahme der potentiellen Zölle garantierte sollten diese denn anfallen. Ein Triptik war in der Regel 3 Monate gültig, konnte bei Bedarf aber auch für einen längeren Zeitraum ausgestellt werden (natürlich zu höheren Kosten).

    Überquerte man nun eine Ländergrenze wurden vom Zoll die Angaben im Triptik mit dem des Fahrzeugs abgeglichen, das Fahrzeug wurde im Reisepass des Fahrers/Besitzers vermerkt, und eine Kopie des Triptiks verblieb beim Zoll. Bei der Ausreise wurde wieder kontrolliert, der Vermerk im Reisepass neutralisiert, und eine weitere Triptik-Kopie einbehalten. Gab es sowohl eine Ein- wie auch Ausreisekopie war der Fall erledigt.
    Ein Triptik konnte auch für mehrere Länder ausgestellt werden mit ausreichenden Kopien, wenn man z.B. Länder im Transit durchquerte. Versuchte man ein Land ohne – oder mit einem anderen – Fahrzeug, aber mit Passeintrag, zu verlassen, wurde der Einfuhrzoll fällig, und wenn der Reisende nicht über ausreichende Zahlungsmittel verfügte wurde eben die AIACR-Karte gezogen. Über den nationalen Automobilclub des Gastlandes wurde die Forderung an die AIACR übermittelt, welche diese dann an den Club des Reisenden weiterleitete. Der konnte dann in einem rein nationalen Verfahren den Betrag beim Clubmitglied kassieren. Die AIACR rechnete dann die Forderungen der jeweiligen Länder soweit möglich gegeneinander auf. Das Verfahren wurde auch dann eingeleitet, wenn eine Triptik-Kopie nach Ablauf der Gültigkeit nicht eingelöst wurde.

    Das Verfahren wird übrigens auch heute noch angewendet, heisst jetzt Carnet CPD (Carnet de Passages en Douanes). Sollte man mit dem Gedanken spielen Länder ausserhalb Europas auf Achse zu bereisen ist es ratsam, die jeweiligen Zollvorschriften vorher zu Rate zu ziehen.

    Die Funktion der AIACR als globale Motorsporthoheit kam erst einige Jahre später hinzu, nach 1945 wurde die Vereinigung in FIA unbenannt. Heute kennt man die FIA meistens nur als Motorsporthoheit, die wenigsten wissen, dass dort immer noch touristische Aufgaben wahrgenommen werden.

    Die AAA in den USA war der AIACR angeschlossen, übernahm also die Ausstellung von Triptiks und die damit verbundene Zollgarantie.

  2. Zu Velie kann ich spontan nichts beitragen, aber Ihr Bericht ist einfach genial ! Einmal die offenbar in Abstimmung mit der AAA (American Automobile Association), deren Plakette schon desöfteren auf US-Autos zu sehen war, durchgeführte Logistik, wie auch die von der Reichsbahnzentrale getroffene Ortsauswahl : Hannover, Bonn und Frankfurt fehlen, dafür sind Heidelberg und Eisenach genannt, und nachfolgend Bad Kissingen und Bad Ems, Bad Nauheim und Bad Oeynhausen abgebildet. Wiesbaden und den Nerobergtempel im Hintergrund der Hauptmotive … das alles ist wahrlich ein Fund des Monats !

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