Für heilige Männer in Eile: Fiat 509 Tourer

Mit dem letzten Blog-Eintrag hatte ich mich ins auch im Hochsommer zuverlässig grüne Umbrien verabschiedet – zwar nicht im NAG „Puck“ nach Todi im Tibertal, aber ins nur rund 50 km nordöstlich gelegene Collepino oberhalb von Spello in der Nähe von Assisi.

Dort, einige hundert Meter oberhalb der großartigen Kulturlandschaft der „Valle Umbra“ findet man in einem über 1000 Jahre alten Ort, der einst als Festung ausgebaut war, bis heute ein über die Jahrhunderte kaum verändertes malerisches Bild:

Collepino (Umbrien); Bildrechte: Alessio Balbo, 2023

Exakt in der Mitte dieser Aufnahme, die ich Alessio Balbo von den „Amici di Collepino“ bei Facebook verdanke, erkennt man das mittelalterliche Stadttor, das im Folgenden noch eine wichtige Rolle spielen wird.

Collepino ist über eine sechs Kilometer lange, stetig ansteigende Straße mit dem im Tal liegenden weit älteren Spello verbunden. Wer von dort kommt, muss entweder gut zu Fuß sein, stramme Radlerwaden haben oder – über ein Automobil verfügen!

Die lokale Radlerfraktion attackiert den anspruchsvollen Anstieg meist mit der Rennmaschine, genießt dann die grandiose Aussicht auf die Valle Umbra über Foligno und Trevi bis hin nach Spoleto, gönnt sich einen Kaffee oder eine Piadina in Flavios Bar auf der winzigen Piazza und macht sich wieder auf den Weg ins Tal.

Vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert blieb den Leuten dagegen nur die Wahl zwischen „per pedes“, mit dem Esel oder dem Ochsenkarren.

Die vom Volk verehrten Eremiten in den umliegenden kleinen Klosteranlagen wie dem unweit befindlichen Eremo di San Silvestro dürften mit Kutte und Sandalen bekleidet zu Fuß unterwegs gewesen sein, wenn sie überhaupt einmal ihre Refugien verließen.

Indessen die hohe Geistlichkeit, deren Hang zur Opulenz über die Jahrhunderte immer wieder wahrhaft frommen Männern und Frauen aufstieß, wird wohl schon immer das beste jeweils verfügbare Transportmittel gewählt haben.

Denn je heiliger man sich vorkam – jedenfalls hierarchietechnisch gesehen – desto eiliger hatte man es als Vertreter des gehobenen Klerus. Gewiss werden findige Bibel-Exegeten frühzeitig herausgefunden haben, dass der Gebrauch des neu erfundenen Automobils keineswegs unchristlich sei, jedenfalls nicht bei Vorliegen (h)eiliger Anliegen.

Und so mussten sich diese für die damalige Zeit ausgesprochen wohlgenährten und mit sich selbst zufriedenen Kirchenmänner keineswegs sündig vorkommen, wenn sie den Besuch im 600 Meter hoch gelegenen Collepino mit dem Tourenwagen absolvierten:

Fiat 509 A vor dem Stadttor von Collepino; Originalfoto via Alessio Balbo, 2023

Dass die Aufnahme vor dem erwähnten Stadttor von Collepino entstanden sein muss, das verrät der seit Jahrhunderten dahinter quer angebrachte mächtige Holzbalken. Er befindet sich auch heute noch an Ort und Stelle, dazu später.

Die Aufnahme stammt aus einer kleinen Sammlung zeitgenössischer Aufnahmen, die in Collepino und Umgebung Anfang der 1930er Jahre entstanden und die mir wiederum Alessio Balbo von den Amici di Collepino in digitaler Kopie übersandt hat.

Der auf diesem Foto zu sehende Wagen war damals schon einige Jahre alt – er ist an der Gestaltung der Haubenpartie als Fiat der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu erkennen.

Sehr wahrscheinlich haben wir es mit einem viertürigen Tourenwagen auf Basis des 1925 eingeführten Vierzylindertyps 509 zu tun. Trotz des Hubraums von nur 1 Liter entwickelte der Wagen dank obenliegender Nockenwelle standfeste 22 PS (Sportversionen schafften sogar an die 30 Pferdestärken).

Das seinerzeit enorm erfolgreiche Modell begegnete einem im Europa der Vorkriegszeit auf Schritt und Tritt – so auch im deutschsprachigen Raum. Hier haben wir die ursprünglich nur zweitürige Tourenwagenausführung:

Fiat 509 Tourer; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Im Zuge der Weiterentwicklung des Erfolgstyps brachte man den Tourer später auch mit vier Türen heraus.

Diese Ausführung besaß höhere und kürzere Türen, die einen nur geringen Abstand voneinander aufwiesen (bei größerem Abstand hat man es mit dem stärkeren Modell 503 zu tun).

Ein solches viertüriges Exemplar durfte ich vor einigen Jahren anhand dieser Aufnahme besprechen, die 1927 im österreichischen Graz entstanden war:

Fiat 509 Tourer; Originalfoto mit freundlicher Genehmigung von Thomas Frewein

Sicher können Sie trotz der gänzlich anderen Situation die Übereinstimmung mit dem einst vor dem Stadttor von Collepino abgelichteten Fiat einiger (h)eiliger Kirchenmänner nachvollziehen.

Wenn Sie nun noch das Tor mit dem erwähnten Balken begutachten wollen, dann nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit und machen Sie einen kurzen Rundgang durch Collepino außerhalb der Saison, wenn Sie dort mehr Katzen als Besucher antreffen.

Zu Beginn und am Ende sehen Sie das erwähnte Stadttor vor dem vor rund 90 Jahren einige zweifellos gewichtige Vertreter der Kirche nebst Fiat posierten. Man mag bezweifeln, ob sie sonderlich heilig waren, doch eilig hatten sie es zweifellos…

Videoquelle: YouTube.com; hochgeladen von: Eleonora Proietti Costa

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

4 Gedanken zu „Für heilige Männer in Eile: Fiat 509 Tourer

  1. Ein klasse Fund, zweifellos, danke dafür! Ich würde gern (schlicht aus Zeitgründen) weiter meinen Schwerpunkt auf den Autos lassen, wenn dann jemand noch Interessantes zum Kennzeichen, Besitzer oder den Umständen beisteuern kann, dann nur zu! Von Ihnen kommen ja ohnehin oft die für mich erkenntnisreichsten Kommentare, die dann auch Teil des Blogs werden.

  2. Bitte nicht unterschätzen, dass die Menschen damals viel kleiner waren als heute, vor allem in Italien – daher wirken selbst kompakte Autos von damals oft recht groß. Die Vorderpartie entspricht vollkommen dem 509 und beim etwas stärkeren Typ 503 ist der Abstand zwischen den Türen größer. Also: 509 ist schon der wahrscheinlichste Kandidat. Aber wie immer danke auch für kritische Kommentare!

  3. Ich hatte diesen blog geoeffnet , und nachdem ligen lassen, dauernd ein Bild vor Augen von eines grossen Fiat. Und der 509 aehnt sich ziemlich grosser aus als fuer ein 1000 cc-er gelplant war.

  4. Hallo, Herr Schlenger,
    schön sie wieder unter uns Daheimgebliebenen zu wissen !

    Heute nur eine wichtige Fund- meldung:
    Kürzlich stieß ich auf eine Archivalie der Bibliothek der TU Braunschweig – das ist doch der
    Knaller:
    „Die deutschen Kraftfahrzeug- Besitzer in der Reihenfolge der
    Pol. Kennzeichen“
    „Deutsches Automobil- Adressbuch“
    Stgt. Dez.1909 (!)

    Da macht die Recherche doch im Einzelfall richtig Spaß !

    Leider scheint der vorhandene Jahrgang ein Zufallsfund und somit werden wohl keine weiteren Jahrgänge – in BS zumindest – existieren.
    Da müsste man an allen infrage kommenden Stellen und Archiven nachfragen.
    Interessant finde ich vor allem
    Die Aussagekräftigjeit hinsichtlich der sozialen Gliederung und Schichtung der
    genannten Eigentümer.
    Ich habe gesucht und gefunden:
    Als Kind selbst noch erlebt habe ich den Fahrlehrer Josef Wendel
    bei dem meine Mutter 1958 noch mit 36 den Führerschein
    erwarb. Wendel war damals 83
    und betrieb seine segensreiche Tätigkeit auch in dem Alter noch an seinem Alterssitz in Stegen am Ammersee. Er fuhr damals immer das letzte Modell Opel Rekord, schwarz mit rundem Blechschild, blau mit weißer Schrift (die bayrischen Farben):
    Fahrs hule Josef Wendl Stegen a. A.
    Ich kann mich erinnern, daß Wendl in den 60er Jahren bei Hans Rosentals „Allein gegen Alle“ genannt wurde. Gefragt wurde nach dem ersten Fahrlehrer in Deutschland.
    Er konkurriert mit einem Berliner
    (selbstverständlich!) – im Nachklapp ließ sich jedoch nicht
    eindeutig klären, wer von den beiden – 1903 – nun wirklich eher dran war weil wohl die Anmeldung nur wenige Tage auseinander lag .
    Josef Wendl wird in München
    als Halter 3er Fahrzeuge genannt: 1 KrR, 2 BW, für berufl
    genutzte Wagen .
    Selbstverständlich tauchen auch
    August Horch, Gottlieb Daimler
    und die ganze übrige Gründer- Generation auf !

    Da sollte sich doch was draus machen lassen ?

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