Die größte Pfeife in Luzern: Cottin & Desgouttes

Zurück aus Italien gilt es, in allerlei Routinen zurückzufinden.

Dazu zählen neben dem Mähen des wild gewucherten Rasens die regelmäßige Betätigung des Blinkers und die grobe Einhaltung der Tempolimits (heute stark erleichtert durch einen Mercedes, der mit unter 60 km/h auf der Landstraße vor mir herzockelte).

Es ruft zudem die Pflicht, im Blog wieder in den alten Trott zurückzufinden, denn es gibt ungeduldige Leser (m/w/d), zu deren Tagesablauf es gehört nachzuschauen, was es Neues aus der Welt der Vorkriegsfotos auf alten Autos (oder so ähnlich) gibt.

Tatsächlich habe ich gleich zwei hübsche Sachen aus dem Süden mitgenommen bzw. unterwegs aufgelesen.

Die eine davon hat merkwürdigerweise nicht nur mit Italien, sondern auch mit Belgien zu tun. Irgendwo dazwischen liegt bekanntlich die Schweiz und dort steht zur zusätzlichen Komplikation ein Auto aus Frankreich – sowie die größte aller Pfeifen.

Wie das alles zusammengeht, weiß ich im Moment selbst noch nicht, aber es wird schon gelingen – also halten Sie durch!

Beginnen wir in Italien – immer eine gute Standortwahl:

Fiat 509 Tourenwagen am Gardasee; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Als ich diese schöne Aufnahme aus den 1920er Jahren aufstöberte, sagte mir mein Bauchgefühl gleich, dass diese an einem der oberitalienischen Seen entstanden sein muss. Nur an welchem, das konnte ich zunächst nicht sagen.

Es gibt freilich einen darunter, den ich nur vom Hörensagen und aus Goethes Italienischer Reise kenne – Deutschlands südlichsten See, auch bekannt auch als Lago di Garda.

Er liegt nicht auf meiner bevorzugten Einfallsroute nach Süden, welche statt über den Brenner über den Gotthardpass führt (dorthin begeben wir uns übrigens demnächst).

Jedenfalls bestätigte sich meine Vermutung, dass sich die markant auf einem Kap liegende Burganlage dort befindet – wo genau, habe ich vergessen, aber ein Leser wird es wissen:

Warum die majestätischen Zypressen, die sich in Italien allerorten finden, in deutschen Landen nur geringer Beliebtheit erfreuen, verstehe ich nicht.

Sie sind frostfest, völlig anspruchslos, bedürfen keinerlei Pflege und wachsen einfach ihr ganzes langes Leben immer weiter gen Himmel – zwei davon zieren seit längerem meinen eigenen Garten und sie legen um rund 20 Zentimeter pro Jahr zu.

Wenn kein teutonischer Tannenfetischist sie eines Tages fällt, werden sie noch in 200 Jahren in edler Einfalt und stiller Größe gen Himmel ragen und damit selbst meinen Blog überdauern.

Der Tourenwagen vor dieser dramatischen Kulisse ist schnell als Fiat 509 identifiziert.

Das Turiner Meisterstück – ein in Massenproduktion nach US-Vorbild gefertigter Kleinwagen mit drehfreudigem 1-Liter Motor mit obenliegender Nockenwelle – war zum Zeitpunkt der Einführung anno 1925 konkurrenzlos und wurde auch in Deutschland gern gekauft.

Wo das am Gardasee abgelichtete Exemplar zugelassen war, lässt sich wohl nicht mehr feststellen:

Ja, ist ja alles schön, aber nichts Neues – das Modell hatten wir im Blog schon öfters.

War im Titel nicht etwas französisch Klingendes angekündigt, wenn auch etwas respektlos als „die größte Pfeife“?

Gewiss, aber wie im richtigen Leben wäre es langweilig, wenn man immer gleich zur Sache käme. So muss ich noch einige Zwischenstationen absolvieren, bevor wir ans Ziel gelangen.

Die erste führt uns nach Belgien, wo es eine bemerkenswerte Comic-Tradition gibt (übrigens mit einer ausgeprägten Seitenlinie in Sachen Automobile).

Vermutlich hat die desaströse Anwesenheit deutschen Militärs gleich zweimal im 20. Jh. den Belgiern das starke Bedürfnis eingeprägt, sich dem Schicksal mit gnadenlosem Humor zu stellen. Ein sympathischer Zug, dem wir Meisterwerke wie die Figur „Gaston“ verdanken.

Dieser liebenswerte Chaot bringt zwar in seinem Bürodasein nichts Konstruktives zuwege, aber er fährt einen Fiat 509 und das zeugte Mitte der 1950er Jahre, als der Comic entstand, von echtem Charakter.

Wie der Autor von „Gaston“ darauf gekommen war, der immerhin 40 Jahre lang seine Kunstfigur durch die Absurditäten des Daseins begleitete, weiß ich nicht. Er wird wohl selbst einen Bezug dazu gehabt haben – vielleicht weiß auch dazu ein Leser mehr.

Mit dem Fiat 509 von Gaston und dem vom Gardasee verlassen wir nun freilich den Süden. Auf dem Heimweg liegt – jedenfalls für mich – die Schweiz. Dort wurde in etwa zur gleichen Zeit das im Titel angekündigte französische Gefährt aufgenommen.

Tja, wie kriegt man nun die Kurve von Fiat-Enthusiast Gaston aus Belgien zu einem Franzosen in der Eidgenossenschaft – und das noch dazu auf dem Rückweg aus Italien?

Ganz einfach, man muss nur einen kleinen Sprung zu Gastons „alter ego“ machen – einer ebenfalls belgischen Parodie auf den sympathischen Loser. Allein das kündet schon von Humor, eine Karikatur zu karikieren.

Ich weiß wenig darüber, außer dass diese Figur statt „Gaston“ nun „Baston“ hieß und von etlichen namhaften Vertretern der Comic-Kunst in die skurrilsten Rollen hineinpersifliert wurde wie etwa Rocker, Firmenpatriarch, Weiberheld usw.

Das weiß ich aber alles nur zufällig, denn von diesem Genre habe ich wenig Ahnung. Ich bin darauf gestoßen, weil das erwähnte Machwerk den hübschen deutschen Titel „Baston, die größte Pfeife aller Zeiten“ trägt.

Mit den größten Pfeifen kenne ich mich wiederum recht gut aus – aber nicht weil ich Raucher wäre oder mir Mitglieder der selbsternannten Priesterkaste in Brüssel nahestünden. Nein, mich faszinieren schlicht große Orgeln und deren einzigartige physische Überwältigungsmacht.

Statt eines Riesenorchesters braucht es im besten Fall nur eine Person an den Manualen und Pedalen, um über ein Instrumentarium zu gebieten, das in die tausende gehen kann.

Nicht zufällig gibt es nur kaum befriedigende Aufnahmen von Orgelmusik. Selbst die teuersten Hifi-Anlagen scheitern an der physikalischen Herausforderung, das den gewaltigen Basspfeifen entsprechende Luftvolumen hinreichend hörbar in Bewegung zu setzen. Die Frequenz als solche ist dabei nicht das Problem, sondern die erforderliche Energie.

Wem das zu abstrakt ist, dem kann geholfen werden, und zwar anhand der größten Pfeife aller Zeiten. Die ist nun nicht mehr eine kuriose Kunstfigur aus Belgien namens Baston.

Um ihr zu begegnen und sie zu erleben, muss man sich vielmehr an einen Ort in der Schweiz begeben, wo einst dieser Tourer parkierte:

Cottin & Desgouttes in Luzern; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Aha, da haben wir endlich den angekündigten Cottin & Desgouttes! Sicher werden Sie jetzt das eine oder andere über ihn erfahren wollen.

Nun, da muss ich Sie enttäuschen und kann nur auf das Porträt eines anderen Wagen dieses Herstellers verweisen, das in meinem Blog hier zu finden ist. Sehr ergiebig ist das aber nicht.

Ist das vielleicht der Grund für das abschätzige Urteil „die größte Pfeife“ nach dem Motto: Über den Wagen lässt sich nichts irgendwie Interessantes sagen?

Nein, das gewiss nicht. Ich habe bloß nicht die geringste Ahnung, was diese Marke der zweiten Reihe (und hunderte andere aus Frankreich) angeht.

Also muss ich auf das Orgelthema zurückkommen und zuvor kurz auf historische Architektur:

Cottin & Desgouttes in Luzern; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Der Cottin & Desgouttes war nämlich vor einer Kirche abgestellt, die mittelalterliche Türme mit einem Renaissance-Portal und einen barocken Giebel darüber vereint.

Umwerfend ist das Ergebnis zwar nicht, aber immerhin sehen wir hier rund 500 Jahre stilistischer Entwicklung in einem einzigen Bauwerk, das dennoch harmonisch wirkt.

Vielleicht sollte man „moderne“ Architekten erst einmal die Standards der Vergangenheit beherrschen lassen, bevor sich sich an etwas Eigenes wagen – sonst kommen weiterhin immer nur diese banalen Schuhkartons in Beton mit Glas heraus wie seit 100 Jahren.

Das eigentlich Interessante befindet sich ohnehin in der Kirche selbst, die manche unter Ihnen bereits als die Hofkirche im schweizerischen Luzern erkannt haben. Diese weiß nicht nur durch ihre kühnen Turmhauben zu beeindrucken, welche ihresgleichen suchen:

Cottin & Desgouttes in Luzern; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Drinnen befindet sich die in Teilen noch originale Orgel aus dem 17. Jahrhundert, welche trotz Umbauten über die Zeit mit einer Sensation aufwarten kann: Der größten Orgelpfeife der Welt.

Dieses am Ende des 30-jährigen Kriegs (1648) entstandene Monstrum misst über 10 Meter an Höhe. Wer mag, kann einmal recherchieren, welche Bassfrequenz damit erzeugt wird und welches kolossale Luftvolumen darin in Schwingung versetzt wird.

Das Erlebnis des Originals entzieht sich jedenfalls der technischen Reproduktion mit heutigen Mitteln. Da gibt es nichts zu „digitalisieren“ und auch die KI wird Ihnen sagen: „Nö, zwecklos.“

Genauso verhält es sich mit Automobilen aus längst vergangenen Zeiten – das Original ist nicht zu ersetzen und ist es einmal verloren, kann man es nicht mehr herstellen, nur sich ihm rein oberflächlich annähern.

Bloß auf alten Fotos können die verschwundenen Zeugen der Vergangenheit noch ein bisweilen spannendes Schattendasein in Schwarz-Weiß weiterführen…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Zimmer mit Aussicht: Ein Horch 853 Cabriolet

Na, welche Assoziation weckt „Zimmer mit Aussicht“ bei Ihnen?

Fällt Ihnen spontan die in Italien und England spielende Filmschmonzette „Room with a view“ der 1980er ein? Oder summen Sie plötzlich den gleichnamigen Ohrwurm von Tony Carey aus derselben Zeit?

So oder so bleiben wir nicht in der Zeit hängen, die aus meiner Sicht die beste war, die Deutschland vielleicht je erlebt hat – eine Einschätzung, die nicht nur daran liegt, dass ich damals noch ein Teenie war. Ich könnte auf Internet & Co. verzichten, wenn es noch einmal so ultraliberal und zugleich so stilbewusst zuginge wie im Westen des Landes in den 80ern.

Doch stattdessen geht es mit dem „Zimmer mit Aussicht“ zurück in eine Zeit, die wir in vielerlei Hinsicht auf keinen Fall zurückhaben wollen. Nur die Autos von damals, die wollen alle haben, jedenfalls wenn es das Kleingeld erlaubt.

Die Rede ist von einem der sensationellsten Entwürfe der 1930er Jahre überhaupt – dem Horch 853 Sport-Cabriolet, das von 1935-37 in knapp 700 Exemplaren entstand. Leser meines Blogs durften dieses betörende Geschöpf schon einige Male bewundern.

Hier haben wir beispielsweise eine Aufnahme, die Leser Matthias Schmidt aus Dresden aus seinem Fundus beigesteuert hat:

Horch 853 Sport Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Der Kontrast zwischen diesem Traumwagen und der brutalen politischen Realität im Deutschland jener Tage könnte nicht größer sein.

Vielleicht war es gerade das Gefühl, in Zeiten zu leben, in denen die Freiheiten der Bürger in allen Bereichen unter die Räder kamen, welches die Gestalter und Karosseriebauer zu diesen Spitzenleistungen motivierte.

Um diese Betrachtung zu vertiefen, ist heute keine Zeit und hier auch nicht der rechte Ort – zu komplex ist dieses Thema, das einen als geschichtsbewussten und freiheitsliebenden Deutschen lebenslang beschäftigt und mitunter verfolgt.

Also beschränken wir uns heute – anstatt das große Bild zeichnen zu wollen und daran zu verzweifeln – auf die kleinteilige Perspektive, denn auch diese bietet bisweilen großartige Ein- und Ansichten, etwa in dieser Form:

Horch 853 Sport Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wann hat man zuletzt ein deutsches Auto mit solchen extremen Proportionen gesehen? Auf eine endlos wirkende Motorhaube folgt ein bewusst niedrig und kompakt gehaltenes Passagierabteil, direkt danach fällt die Linie steil ab – hier gibt es nichts mehr zu sehen…

Erinnern Sie sich an meine kürzliche Kritik des primitiven Funktionalismus, welcher sich um die Mitte der 1920er Jahre speziell in Deutschland in gestalterischer Hinsicht breit machte?

Dass es in den 30er Jahren für eine kurze Zeit speziell im Autodesign zu einer Renaissance der reinen Unvernunft kommen sollte, das ist für mich ein zivilisatorisches Wunder.

Der sensationelle Mercedes 300 SL-Flügeltürer der Nachkriegszeit war der letzte Nachklang dieses kurzlebigen Aufflammens des Wunsches nach dem ganz großen Kino – danach kam hierzulande bis heute nichts mehr, was das Attribut „opulent“ oder „umwerfend“ verdiente.

Wäre das anders, würde ich mich nicht seit Jahren schon an dem Phänomen Vorkriegsautomobil abarbeiten und Sie würden nicht ebenfalls diese Leidenschaft teilen.

Genug geschwelgt. Wie war das noch einmal mit dem „Zimmer mit Aussicht“? Nun, das ist einfach – hier haben wir es:

Horch 853 Sport Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Offenbar hat jemand das Prachtstück von Horch aus dem Fenster der gegenüberliegenden Wohnung fotografiert. Links sieht man den Mittelpfosten des zweiflügeligen Fensters, rechts den zur Seite geschobenen Vorhang.

Aber wir sehen hier noch mehr – auch wenn der Wagen so nicht optimal zur Geltung kommt. Gegenüber befindet sich ein monumentales Gebäude im Stil der Neorenaissance mit riesigen Fenstern. Doch scheinen diese zerstört zu sein.

Man erkennt links oben Reste von Fensterglas im Rahmen und rechts scheint selbst dieser teilweise zu fehlen. Mein erster Gedanke war der an die Wirkung der Druckwelle nach einer Bombenexplosion in der Nähe im 2. Weltkrieg.

Doch der Horch trägt nicht die damals vorgeschriebenen Tarnüberzüge auf den Scheinwerfern. Könnte das Foto kurz nach dem Krieg entstanden sein? Doch dann wäre ein Wagen dieses Kalibers sicher von den Besatzungsmächten einkassiert worden.

Also was könnte die Erklärung sein?

Vielleicht doch eine Aufnahme aus Kriegszeiten, in denen sich die privilegierten Besitzer solcher Repräsentationswagen Freiheiten nehmen konnten, welche anderen „Volksgenossen“ nicht vergönnt waren, deren Autos nicht für’s Militär beschlagnahmt worden waren?

Ich muss zugeben, dass ich bei aller Meinungsstärke diesmal zögere, mich auf ein wahrscheinliche Interpretation festzulegen. Sie sehen: „Zimmer mit Aussicht“ kann weit anregender sein als ein Kinofilm oder ein Schlager aus den 80er Jahren.

Und jetzt sind Sie gefragt: Was war das für ein Zimmer mit Aussicht, wann und wo?

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Die Richtung stimmt! Steyr II oder V in Matrei

Heute nehme ich es mal nicht so buchhalterisch genau – denn es werden keine Luftschlitze oder Speichen gezählt, keine Radstände abgeschätzt und es wird keine Datierung alten Blechs auf ein, zwei Jahre genau versucht.

Heute lässt mich das alles kalt – ganz hippiemäßig komme ich mir vor, wenn ich mich dem preußischen Arbeitsgebot unbedingter Präzison verweigere und frech behaupte: „Ach was, Hauptsache die Richtung stimmt!“

Daran schuld ist aber weder die Freigabe von Cannabis in haushaltsüblichen Mengen – die Lösung eines dringenden „Problems“, an dem sich wahre Regierungskunst zeigt – oder gar eine fundamentale Wandlung in meinen Prioritäten.

Zugegeben, nachdem die Wochen seit Jahrebeginn beruflich aufreibender waren als sonst und die Sonne fast nie zu sehen war, kann es sein, dass ich ein wenig müder bin als sonst, wenn ich zu später Stunde noch einen Eintrag im Blog angehe.

Aber der eigentliche Grund für meine ungewohnte Großzügigkeit ist ein anderer.

So kann ich mir nicht merken, wie man die Modelle II und V der österreichischen Qualitätsschmiede Steyr aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre auseinanderhält.

Und das obwohl Leser und Markenspezialist Thomas Billicsich es mir schon einigemal erklärt hat. So wird er wohl auch diesmal einschreiten müssen und auf den Unterschied der beiden Typen hinweisen – wenn ich mich recht entsinne, kam es auf den Kühlergrill an:

Steyr Typ II oder V; Postkarte von 1931 aus Matrei am Brenner; Original: Sammlung Michael Schlenger

Wie gesagt, mir genügt es vollkommen, hier einen prächtigen Steyr-Tourer der frühen 20er mit dem markanten Emblem am Spitzkühler zu sehen – das leichte Motorrad am Bildrand gefällt mir nebenbei auch.

So ein Dokument ist ganz nach meinem Geschmack – ich würde sagen: Die Richtung stimmt.

Apropos Richtung: Diese schöne Ansicht reiste im Juli 1931 als Postkarte nach Bremen – auch diese Richtung stimmt, wie ein geschätzter anderer Leser sicher bestätigen wird.

Allerdings zieht es mich aktuell doch in genau die gegenteilige Richtung und zwar eine, die für mich immer stimmt – auch wenn ich dabei eine andere Route bevorzuge.

Das Foto entstand nämlich auf halber Strecke zwischen Innsbruck und dem Brennerpass, welcher bekanntlich nach Italien führt. Die Römer bauten um 200 nach Christus die erste befestigte Straße über den Brenner, womit man einigermaßen kommod von Verona nach Augsburg reisen konnte – oder umgekehrt, was ich schon damals bevorzugt hätte.

Am Aufnahmeort gab es im 4. Jahrhundert eine römische Straßenstation, deren Name Matreium lautete. Er hat sich bis in unsere Tage erhalten – dort findet sich heute das Straßendorf Matrei am Brenner.

Allerdings sollte man in diesem Fall landläufige Vorstellungen von einer Dorfansicht vergessen, denn Matrei präsentiert sich trotz gewohnt „schonender“ US-Bombenangriffe kurz vor Kriegsende im März 1945 mit prachtvollen Bürgerhäusern, welche für mich wieder einmal die Frage aufwerfen, welche Berufe moderne Architekten eigentlich erlernt haben:

Steyr Typ II oder V; Postkarte von 1931 aus Matrei am Brenner; Original: Sammlung Michael Schlenger

Angesichts dieser Szenerie ist mir nun wirklich völlig gleichgültig, ob der Steyr ein Typ II oder V war – denn die Richtung stimmt so oder so: Entweder zeigt seine Kühlerfront in Richtung Italien oder unser Blick geht dorthin.

Und das ist das Entscheidende: dass die Richtung stimmt. Denn unzufrieden mit den Fortschritten des Frühlings in hessischen Gefilden geht es morgen gen Süden über die Alpen. Dass ich dabei wie gewohnt den Gotthardpass nehme – geschenkt.

Das wussten schon unsere barbarischen Vorfahren, die es am Ende der Antike nach Italien drängte: Ob Brenner oder Gotthard – Hauptsache, die Richtung stimmt!

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Muss das sein? Ja, es muss! Maybach W6 Cabriolet

Es gibt zwei Formen des „Müssens“ im Sinne von Notwendigkeit: Die eine resultiert aus den Naturgesetzen, die etwa verlangen, dass man der Schwerkraft nachgeben muss oder irgendeine Form des Auftriebs haben muss, um sich ihr zu entziehen.

Die andere ergibt sich aus den Gesetzen unseres menschlichen Daseins: Wir müssen atmen, esen und trinken, um am Leben zu bleiben. Am Ende müssen wir sterben. Scherzbolde pflegen hinzuzusetzen, dass wir vorher jede Menge Steuern zahlen müssen.

Alle anderen vorgeblichen Notwendigkeiten entpuppen sich bei näherer Betrachtung als rein subjektive Werturteile. Da gibt es beispielsweise Zeitgenossen, die fragen, ob es wirklich sein „muss“, dass jemand einen SUV oder einen Geländewagen fährt.

Nein, muss es nicht. Es muss nach unserer eingangs gelieferten Definition aber niemand überhaupt nur irgendein Auto fahren. Ging ja schließlich auch Jahrtausende ohne – ergo: nicht notwendig!

Man sieht daran, wie unbrauchbar diese Kategorie vermeintlicher Notwendigkeit ist. Wer legt überhaupt fest, welche Form der persönlichen Fortbewegung die „richtige“ und „erlaubte“ ist? Fußgänger? Radfahrer? Motorradfahrer? Kleinwagenfahrer? Minivan-Fahrer?

Oder dürfen die Besitzer größerer oder stärkerer PKW auch ihre individuelle Entscheidung treffen? Einer der beliebtesten SUVs in Deutschland – der Dacia Duster – ist weit kompakter als ein VW-Bulli, der noch von niemandem als überflüssig klassifiziert wurde.

Und die paar Leute, die sich das große Mercedes G-Modell leisten können, verstopfen damit nicht die Innenstädte. Selbst die zunehmend beliebten Pickups werden nach meinem Eindruck meist von Leuten gefahren, die damit auch etwas Praktisches anfangen.

Diese sehr deutsche Diskussion – Leben und leben lassen ist für viele hierzulande nach einigen liberalen Jahrzehnten zunehmend ein Fremdwort – dieser anmaßende Furor hat zum Glück noch nicht den Bereich der Oldtimerei erreicht.

Denn nicht nur ist der Besitz heillos veralteter Vehikel „nicht notwendig“, es „muss“ doch auch nicht sein, dass diese im Fall von Fahrzeugen der Luxusklasse so dermaßen kolossal ausfallen wie dieses Exemplar hier:

Maybach W6 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Dieses mächtige viertürige Cabriolet, das locker zwei Kleinwagenplätze „blockiert“, ist auf einem Foto von Mitte der 1930er Jahre festgehalten, welches mir Leser Matthias Schmidt aus Dresden in digitaler Form übersandt hat.

Der Eindruck einer nicht enden wollenden Motorhaube wird durch die bewusst niedrig gehaltene Windschutzscheibe noch verstärkt. Bei geschlossenem Verdeck sah man zwar nicht viel, aber bei einem solchen Repräsentationswagen zählt die Wirkung.

Auch ohne besondere Kenntnisse lässt sich dieses Fahrzeug als Kreation aus dem Hause Maybach identifizieren – das Markenemblem ist auf den Radkappen recht gut zu erkennen.

Die Luxuswagen aus Friedrichshafen am Bodensee besaßen zwar durchweg individuelle Manufakturufbauten, dennoch glaube ich, dieses Exemplar als Typ W6 identifizieren zu können, wie er ab 1931 gebaut wurde.

So abwegig es hier erscheint, war der Maybach quasi die „vernünftig“ motorisierte Variante der legendären 12-Zylinder-Wagen, die seit 1929 gebaut wurden. Der W6 begnügte sich nämlich mit einem Sechszylinderaggregat, das „nur“ 120 PS aus knapp 7 Litern schöpfte.

Die Besitzer des Wagens auf dem Foto von Matthias Schmidt hätten also vermutlich auf die Frage „Muss das sein?“ geantwortet „Ja, das muss es, denn die Zeiten sind schlecht und wir konnten uns die 12-Zylinder-Versionen mit 150 bzw. 200 PS wirklich nicht leisten“.

Man sieht, alles außerhalb der Gesetze der Natur und des Daseins ist eine Frage des Standpunkts. Wer behauptet, er wisse, was notwendig sei und was nicht, was andere müssen und was nicht, der will schlicht private Maßstäbe zum Gesetz machen.

Dieser anmaßenden Mentalität gilt es entgegenzuhalten: Kultur beginnt da, wo man die Ebene der Notwendigkeit verlassen hat. Also: schöne Literatur, Musik, bildende Kunst, Sportwagen – muss das alles sein, wo es doch „unnötig“ Ressourcen und Zeit bindet?

Ja, das muss sein, und das gilt genauso wie für modische Übertreibungen oder persönliche Spleens, solange sie nicht klar und erheblich zulasten anderer gehen. Wer sich echauffiert, wenn er mal unter hunderten braven Alltagsautos ein hypertrophes Poserauto bemerkt, der muss sich fragen lassen: „In Urlaub fliegen, Haustiere halten, auf über 20 Grad heizen, auswärts essen gehen, sich neue Möbel oder Kleidung kaufen – muss das sein?“

Ja, es muss und warum, das weiß jeder Einzelne viel besser als die verbiesterten Tugendwächter und Verzichtsfanatiker, die einem das kurze Dasein vermiesen.

Würde ich mich aufregen, wenn ein 5,50 Meter langer Maybach W6 – mit 1,8 Tonnen nebenbei leichter als manche „nachhaltige“ Batteriekutsche – mir gleich zwei Parkplätze wegnimmt oder mit seinem Wendekreis von 14 Metern den Weg versperrt?

Ganz gewiss nicht, obwohl ich das persönlich nicht so extrem haben wollte. Aber ich würde es den Leuten gönnen, die sich den Spaß genehmigen und dafür den Gegenwert eines Hauses hinblätterten – damals wie heute…

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Vor 100 Jahren ein seltener Gast: Daimler 16/45 PS

Autos der Marke Daimler vor dem Zusammenschluss mit Benz Mitte der 1920er Jahre sind ein seltener Gast in meinem Blog.

Das liegt allerdings nicht daran, dass ich nicht über entsprechendes Bildmaterial verfüge. Vielmehr ist mir keine Literatur bekannt, welche die frühen Modelle dieser Marke wirklich erschöpfend behandelt und die Details der einzelnen Typen und Aufbauten minutiös beschreibt.

Das ultimative Werk über die „Mercedes“-Wagen von Daimler muss meines Erachtens noch geschrieben werden. Warum das bisher nicht geschehen ist, weiß ich nicht.

Ich kann mir das nur mit mangelnder Unterstützung des Herstellers erklären – denn was auf dem Sektor möglich ist, das zeigen die gleich vier Standardwerke zu den einstigen Marken der Auto-Union, dere Traditionspflege dankenswerterweise Audi übernommen hat.

Sollte es „die“ Daimler-Bibel wider Erwarten tatsächlich doch geben, dann lasse ich mich gern vom Stern der Erkenntnis erleuchten. Bis dahin muss ich mich damit begnügen, begründete Mutmaßungen über Wagen der Marke wie diesen anzustellen:

Mercedes-Tourenwagen der frühen 1920er Jahre; Originalfoto. Sammlung Michael Schlenger

Entstanden ist diese reizvolle Aufnahme Anfang August 1924 vor einem Wirtshaus in Bayern, so ist es jedenfalls auf dem Abzug überliefert.

Dort war ein solches Fahrzeug ganz gewiss ein noch seltenerer Gast als in meinem Blog. Denn ganz gleich, um welchen Typ es sich genau handelt, wurden von Daimler in der ersten Hälfte der 1920er Jahre nur einige tausend Automobile gebaut.

Am häufigsten gefertigt worden zu sein scheint der noch vor dem 1. Weltkrieg entwickelte 4-Liter-Typ mit Hülsenschiebermotor nach „Knight“-Patent. Diese ventillosen Konstruktionen hatten zwar ihre Tücken, ihr geräuscharmer Lauf ließ sie dennoch zu einem Erfolg werden.

So blieben die Mercedes-„Knight“-Modelle rund 15 Jahre im Programm und speziel vom 16/45 PS-Typ entstanden über 5.000 Stück – für deutsche Verhältnisse eine durchaus beachtliche, wenn auch nicht außergewöhnliche Stückzahl.

Mein Verdacht ist, dass wir es hier mit solch einem der Mercedes „Knight“-Wagen der frühen 1920er Jahre zu tun haben:

Zwar wirkte der Mercedes 6/25 PS – der erste Kompressortyp der Marke – aus dieser Perspektive recht ähnlich, doch lassen mich die riesigen Scheinwerfer und die Proportionen des Kühlers annehmen, dass wir ein deutlich stärkeres Modell vor uns haben.

Beim Typ 10/40 PS – ebenfalls mit Kompressor – würde ich hier zumindest die Ansätze der in Fahrtrichtungen außen liegenden Auspuffrohre erwarten. Dabei unterstelle ich, dass dieser Typ überwiegend oder durchgängig mit diesem prestigeträchtigen Detail daherkam.

So bleibt meines Erachtens der kompressorlose Typ 16/45 PS mit „Knight“-Schiebermotor der wahrscheinlichste Kandidat. Vielleicht weiß ein sachkundiger Leser mehr.

Da mich die Mercedes-Autos der Zwischenkriegszeit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ziemlich kalt lassen (ich halte etliche Typen für untermotorisiert und überschätzt), will ich zum Abschluss ohnehin den Blick auf etwas ganz anderes lenken.

Das eine ist die Schönheit dieses traditionellen bayrischen Wirtschaftshauses, die sich garantiert keinem „Star“-Architekten zuschreiben lässt:

Die Fassade selbst kommt völlig ohne Zierrat aus – es ist nur die Proportion und Geometrie der Sprossenfenster nebst Fensterläden, welche in Verbindung mit liebevoll gepflegten Blumen die wohltuende Harmonie dieses Gebäudes ausmacht.

Spätere, sich modern dünkende Generationen, haben diesen zeitlos schönen Bauten oft schweren Schaden zugefügt – sei es durch Beseitigen der Fensterläden, Einbau sprossenloser Kunststoffenster und allerlei An- oder Umbauten mit geschmacklosen Elementen, wie sie von gewieften Verkäufern angepriesen wurden.

Ob Eternitplatten, Glasbausteine, Aluminiumtüren, Hochglanzziegel oder sonstige Scheußlichkeiten – keinesfalls wurde damit eine Verbesserung erzielt. Ich wüsste auch kein Land, wo nach dem Krieg dermaßen flächendeckend solcher Schindluder mit der historischen Bausubstanz getrieben wurde und wird.

Kommen wir zu dem zweiten Aspekt, den ich nicht unerwähnt lassen wollte – und das ist die kaum minder erbauliche Rückseite des heute vorgestellten Fotos.

Dieses wurde nämlich aus einem alten Album herausgeschnitten und dabei wurde das umseitig aufgeklebte Foto mit überliefert:

Der Hutform der jungen Dame nach zu urteilen, entstand diese Aufnahme ebenfalls in den frühen 1920er Jahren. Damals waren noch Automobile aus der unmittelbaren Vorkriegszeit unterwegs wie die eindrucksvolle Chauffeur-Limousine auf der linken Seite.

Doch auch die traditionelle Pferdekutsche war noch nicht ganz ausgestorben. Das dürfte speziell in Städten der Fall gewesen sein, in denen etweder Touristen gern eine gemütliche Rundreise mit der Kutsche unternahmen oder man sich abends kostengünstiger als mit dem Automobil ins Theater oder in die Oper kutschieren lassen wollte.

Wo dieses zufällig erhaltene Foto aufgenommen wurde, konnte ich auf die schnelle nicht herausfinden. Das repräsentative Gebäude im Stil der Neo-Renaissance im Hintergrund ist regional schwer einzuordnen, wie das bei Bauten des Historismus oft der Fall ist.

Vielleicht gibt der spektakuläre Brunnen davor einen Hinweis auf den Ort – nebenbei ein Exemplar, wie es das in der Neuzeit nicht mehr gibt, ebenso wie gelungene Platzanlagen. Aber deshalb verbringen wir ja Zeit mit den besten Hervorbringungen unserer Altvordereren und das waren wahrlich nicht nur ihre Automobile.

So gibt am Ende ein seltener Gast vor einem bayrischen Wirtshaus Anlass dazu, sich zu fragen, was noch alles verlorengegangen ist und was davon wir vielleicht besser würdigen und sorgfältiger bewahren sollten, damit auch die Welt von morgen etwas davon hat.

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Mühelos vom Gestern ins Heute: Fiat 1100

Die Zeit zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel ist für viele eine besondere. Einmal doch soll die Uhr langsamer gehen, wenn schon nicht stillstehen.

Liegengebliebenes ohne Hektik erledigen, Zeit mit Freunden, Kindern und Haustieren zubringen oder vielleicht gar nichts im eigentlichen Sinne tun – allenfalls ein Buch lesen, Musik hören oder: sich Gedanken machen.

Ich habe zwar noch einiges an Arbeit zu erledigen, aber bevor Sie mich bedauern: das erledige ich von meinem Refugium im italienischen Umbrien aus. Als Schreibtischtäter bin ich in der glücklichen Lage, von überall aus arbeiten zu können, Internetanschluss vorausgesetzt.

Seit November verfügt das Häuschen auf 600 Meter Höhe über eine Antenne, welche mir ebenso rasanten Internetverkehr wie daheim ermöglicht – ohne Glasfaser-Hokuspokus, horrende Grundgebühren usw. Berechnet wird nur der Verbrauch. Der Anbieter ist auf Ferienimmobilien spezialisiert und ein Musterbeispiel für italienische Infrastrukturkompetenz.

Das hat eine Tradition, die weit zurückreicht – der Nachbarort Spello bezieht sein hervorragendes Trinkwasser noch heute über einen kilometerlangen römischen Aquädukt. Wer mag, kann sich dort außerdem kostenlos für den Privatbedarf abzapfen, was er möchte.

Wieso ich den vermeintlichen Umweg über die Antike ins Hier und Jetzt wähle, wo es doch bloß etwas vom Fiat 1100 der späten 1930er Jahre zu erzählen gibt? Nun, das sehen Sie noch.

Vielleicht haben Sie sich dieser Tage ja in einem nachdenklichen Moment bei dem Gefühl erwischt, dass Ihnen das Heute zunehmend fremd wird, Gewohnheiten zum Problem werden, Gewissheiten zertrümmert daliegen.

Viele meiner Leser können auf einige Jahrzehnte zurückblicken und ich kann mich an eine überwiegend heile Welt der 1970/80er Jahre (in Westdeutschland) zurückerinnern. Damals konnte sich eine vierköpfige Familie mit einem Gehalt ein eigenes Haus mit Garten, zwei Autos und einen Urlaub im Süden leisten.

Zwar ging es nicht mehr so rasant aufwärts wie in der Wiederaufbauzeit und es gab schwierige Phasen mit hoher Inflation, hohen Zinsen und Arbeitslosigkeit. Doch über kurz oder lang bekam die damals nur wenig gegängelte Marktwirtschaft wieder die Kurve.

Der Kalte Krieg war zwar allgegenwärtig, aber das Vertrauen auf die gegenseitige Abschreckung überwog. Trotz enorm hoher Militärbudgets blieb den Leuten genug vom Einkommen und ansonsten hat man sie ihr Alltagsleben leben lassen.

Warum erzähle ich das ? Weil einem angst werden kann bei dem Tempo, mit dem diese Welt von gestern verschwindet und die von heute ihr zunehmend autoritäres und zunehmend hässliches Antlitz zeigt.

Wir vergewissern uns heute, dass der Abstand zwischen gestern und heute gar nicht so groß sein muss, dass sich mühelos beides vereinbaren lässt. Bei der Beschäftigung mit Vorkriegsautos kann das sogar gelingen, wenn diese selbst schon längst verschwunden sind.

Nach dieser langen Vorrede können Sie sich jetzt hier visuell erholen, hoffe ich:

Assisi (Umbrien), Piazza del Comune; Postkarte der späten 1940er Jahre; Sammlung Michael Schlenger

Hier stehen wir auf dem zentralen Platz der berühmten Pilgerstadt Assisi, in welcher seit dem Mittelalter der Heilige Franziskus verehrt wird. Der verdient das auch dann, wenn man nicht dem christlichen Glauben anhängt – seine Faszination ist jedenfalls ungebrochen.

Das kleine Assisi verdankt seinen enormen Reichtum an Kunstschätzen der Anziehungskraft von San Francesco und der Tatsache, dass sich die Stationen seines Lebens mit bestimmten Orten und Bauten verbinden, die alle noch existieren.

Als Goethe 1786 auf seiner ersten Italienischen Reise Assisi besuchte, begeisterte er sich indessen nur für ein Gebäude: den herrlichen Minervatempel aus der römischen Kaiserzeit. Dessen Fassade ist das Kronjuwel in dieser Platzanlage – da mag der angrenzende mittelalterliche Torre del Popolo noch so hoch sein.

Und so wie römische Tempel einst auf das Forum von „Asisium“ ausgerichtet war, so wacht er auch auf dieser Aufnahme auf den neuzeitlichen Treffpunkt der Bürger:

Schon hier relativiert sich der Abstand zwischen dem Gestern und Heute auf erstaunliche Weise – eine Kontinuität, wie sie sich in Italien vielerorts erhalten hat.

Das gilt vor allem für Regionen wie Umbrien, durch die zwar immer wieder Eroberer zogen, in denen aber kein nennenswerter Bevölkerungsaustausch stattgefunden hat. Diese Aufnahme ist übrigens zu einem Zeitpunkt entstanden, kurz nachdem die Region das letzte Mal Ort kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen war.

Der Kleidung nach zu urteilen, ist die Situation in den späten 1940er Jahren aufgenommen worden – zu einer Zeit, als noch ausschließlich Vorkriegsautos verfügbar waren. Die Leute sind alle gertenschlank, hier und da haben die Anzüge der Herren mehr „Luft“ als erforderlich.

Noch kurz zuvor war die Region Kriegsgebiet. Zwar hatten die Italiener es 1943 geschafft, das Mussolini-Regime zu kippen und Deutschland die Waffenbrüderschaft aufzukündigen. Doch so richtig das strategisch war, so schmerzhaft waren die unmittelbaren Folgen:

Erstens behandelte die deutsche Wehrmacht die ehemaligen Kameraden nun als Feinde und unzählige italienische Soldaten wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert. Zweitens wurden in den von deutschen Truppen kontrollierten Gebieten Italiens rigide alle Ressourcen geplündert, um die Kriegsmaschine am Laufen zu halten.

Und drittens nahmen die aus Süden vorrückenden alliierten Truppen nur wenig Rücksicht auf die italienische Zivilbevölkerung. So waren nun auch die Italiener wehrlos angloamerikanischen Bomberangriffen ausgesetzt, die weder Zivilisten noch Architektur schonten.

Außerhalb Italiens ist dieses dunkle Kapitel kaum bekannt, doch aus eigener Anschauung weiß ich, dass die Erinnerung an die vielen Opfer und oft irreparablen Schäden immer noch wach ist und die Jahrestage der Bombenangriffe würdevoll begangen werden.

Assisi ist nur deshalb verschont worden, weil es einem deutschen Offizier gelungen war, die Stadt gegenüber den Alliierten als Lazarettort auszuweisen, an dem auch gegnerische Verwundete behandelt wurden. Das hat die Stadt tatsächlich vor Zerstörungen bewahrt. Eines der Beispiele für ehrenhaftes Verhalten auf deutscher Seite, an die man auch erinnern muss.

Kurz nach dem Krieg wurde dieser Oberst Valentin Müller für seine Tat in Assisi geehrt – und genau in diese Zeit fällt das heute vorgestellte Foto, welches eine heilgebliebene Welt zeigt.

Die Bürger von Assisi konnten sich glücklich schätzen, sie waren davongekommen. Beim Davonkommen hilfreich war auch der Besitz eines Automobils, doch davon gab es nicht viele. Die Wehrmacht hatte die meisten beschlagnahmt und viele wurden zerstört.

Hier haben wir ein Beispiel dafür – ein blutjunger deutscher Soldat posiert irgendwo an der Südfront mit „seinem“ Fiat 1100:

Fiat 1100 im Dienst der Wehrmacht; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

So repräsentierte die Fiat-Limousine in Assisi kurz nach dem Krieg bereits einen Luxusgegenstand. Dabei handelte es sich nur um das 1937 eingeführte Mittelklassemodel 1100 („Millecento“), das auch in Deutschland als NSU-Fiat gebaut wurde.

Bilder und Beschreibungen dieses in seiner Klasse ganz ausgezeichneten Wagens finden sich zuhauf in meinem Blog.

Daher will ich heute gar nicht weiter darauf eingehen, nur auf eines sei hingewiesen: Man erkennt an dem Wagen in Assisi vertikale Türgriffe – ein Merkmal der in Italien gebauten Ausführungen des „Millecento“, welches die deutschen Varianten nicht besaßen.

Ganz schön viel Geschichte und ganz schön wenig Auto. Stimmt, aber vergessen Sie nicht: Ich schreibe hier, was mir in den Sinn kommt und Sie müssen nichts dafür bezahlen.

Da nimmt man schon mal kulturhistorische Abschweifungen und subjektive Sichtweisen auf dies und das in Kauf, nicht wahr? Aber letztlich geht es immer darum, den Zauber von gestern ins heute zu transferieren, das wollen Sie doch auch, oder?

Genau das dachte ich mir heute morgen.

Die Sonne schien, die Arbeit war bald erledigt, sodass ich am Nachmittag nach Assisi aufbrach. Das Städtchen war voller Menschen, doch das waren keine Pilger oder Touristen, sondern einheimische Ausflügler, die sich in der Zeit nach Weihnachten ein paar Tage mit der Familie gönnen und sich der Schönheit ihrer Heimat vergewissern.

Ich war zuversichtlich, dass es mir gelingen würde, den Beweis dafür sicherstellen zu können, dass das Gestern und das Heute mühelos zusammengehen – hier ist er:

Assisi (Umbrien), Piazza del Comune, 27.12.2023; Bildrechte: Michael Schlenger

Hätte ich eine Leiter gehabt, hätte ich die Aufnahmeperspektive ganz exakt nachstellen können – es ist noch alles da, sogar die prächtigen schmiedeeisernen Kandelaber.

An der Bausubstanz hat sich trotz einiger Erdbeben nullkommanichts geändert, außer dass behutsame Restaurierungen stattgefunden haben.

Wo einst der Fiat 1100 parkte, standen heute die Reste eines Weihnachtsmarkts, aber auch die weichen bald wieder der makellosen Schönheit dieses über einen Zeitraum von rund 1.500 Jahren organisch gewachsenen Platzes.

Neu ist nur, dass man nun unterhalb des heutigen Platzes auf Teilen des römischen Forums wandeln kann. Dort kann man sogar den perfekt erhaltenen Sockel des Minervatempels besichtigen, der ja einst wesentlich höher war, als er heute wirkt.

Gestern und heute liegen hier nur wenige Meter auseinander – diesmal in der Vertikalen.

Wem das jetzt immer noch zuviel Kulturgeschichte und Schwärmerei war, der mag endlich Genugtuung im folgenden Porträt eines noch heute munter umherfahrenden Fiat 1100 finden – wenn auch in Form ders ab 1939 gebauten Variante „Musone“.

Solche modellspezifischen Details verblassen angesichts der Harmonie, welche sich auch hier wieder im Nebeneinander historischer Städte und Vorkriegsautos zeigt. Und das ist die eigentliche Botschaft meines heutigen Blog-Eintrags.

Wir müssen die großartigen Seiten des Gestern in die zunehmend unwirtliche Welt des Heute hinüberretten, sie pflegen und beschützen. Und wir müssen uns den Kräften und Tendenzen entgegenstellen, die unsere Landschaften und Städte, unsere Sprache und unsere bürgerlichen Traditionen bedrohen .

In Italien hat die Moderne auch viele Spuren hinterlassen, vor allem im Norden. Aber es gibt sie, die Provinzen und Bürgerschaften, die ihr phänomenales kulturelles Erbe zu schätzen und zu schützen wissen – sich ihre Identität nicht rauben lassen.

Wenn wir das nicht selbst auch tun, dürfen wir uns nicht beklagen, wenn uns die Gegenwart zunehmend fremd wird und entgleitet. Mühelos vom Gestern ins Heute gelangen, das sollte auch gelingen, ohne unverbesserlicher Nostalgiker oder verschrobener Romantiker zu sein.

Das moderne Italien kann in der Hinsicht ein Vorbild sein – es ist nicht perfekt, aber ich wüsste kein Besseres, um zu erkennen, wie man mühelos vom gestern ins heute gelangt…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.   

Königliche Freuden: Buick Series 50 Sedan von 1933

Heute ist ein Tag, an dem mir königlich zumute ist – und das obwohl mir die tägliche Dosis Sonne fehlt. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie lange die kurzen und meist trüben Wintertage noch anhalten werden.

Doch schon die Post bereitete mir heute mittag königliche Freuden: Die Schneeketten der Marke „König“ sind nämlich eingetroffen, mit denen ausgestattet ich zwischen Weihnachten und Neujahr wieder nach Italien fahren werde.

Mein Ziel in Umbrien liegt auf 600 Meter Höhe und dort kann es in der kalten Jahreszeit weitaus winterlicher zugehen als in meiner Heimatregion – der hessischen Wetterau.

Letzten Winter lagen dort zeitweise 30 cm Schnee und die 6 Kilometer vom bzw. zum nächsten größeren Ort werden nicht geräumt. Daher auch die große Häufigkeit an Allrad-Wagen in der Region – einschließlich haufenweise Fiat Panda 4×4 der 1980er Jahre, die ein phänomenal langes Leben haben und bis heute in der Kleinwagenklasse unübertroffen sind.

Der Hausberg – der Monte Subasio – ist über 1.000 Meter hoch und dort kann man im Winter oft sogar mit Langlaufski unterwegs sein. Dabei kann es drunten in der Ebene der „Valle Umbra“ im August bis an die 40 Grad warm werden. Dieses Lokalklima ist sehr speziell – mit einer Fiktion wie dem „Weltklima“ können die bodenständigen Leute dort nichts anfangen.

Mit „König“-Schneeketten hoffe ich also im Zweifelsfall durchzukommen, außerdem verfügt mein Wagen über zuschaltbaren Allradantrieb. Mit einem deutschen Fabrikat wäre das für mich unbezahlbar, also machten die Ausländer das Geschäft – beim Geld hört mein in den letzten Jahren ohnehin auf dem Rückzug befindlicher Rest-Patriotismus auf.

Damit wären wir beim eigentlichen Thema meines heutigen Blog-Eintrags, auch wenn die Einleitung es vielleicht erst nicht erwarten ließ, habe ich noch die Kurve bekommen.

Jetzt geht es in die Gerade – königlichen Freuden entgegen. Denn nun geht es die „Königsallee“ in Düsseldorf entlang und dort begegnet uns etwas, durch dessen Besitz man sich einst zumindest in Deutschland geadelt fühlen durfte:

Buick Series 50 von 1933 auf der Düsseldorfer Königsallee; Originale Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Schon beim Anblick des üppigen Blattwerks an den Bäumen fühlt man sich erhoben – während ich erst kürzlich im Garten die letzten Blätter des dem Ende zurasenden Jahres zusammengerecht habe.

Es mag ein strahlender Tag im Frühling gewesen sein, als der Fotograf von der anderen Straßenseite die zahlreichen fein gekleideten Flaneure aufnahm.

Sicher wird er auf ein angemessenes Gefährt gewartet haben, denn eine leere Straße als Mittelgrund macht sich nicht gut. Und er hat guten Geschmack bewiesen dabei:

Die seitlichen „Schürzen“ an den Vorderkotflügeln waren ein Indiz dafür, dass diese sechsfenstrige Limousine mit den markanten Luftklappen in der Motorhaube kaum vor 1933 entstanden sein kann, als sich dieses Detail von den USA ausgehend rasch durchsetzte.

Kurz erwog ich, ob es sich bei dem Wagen um einen Berliet des Typs 911 bzw 1144 von 1933/34 handeln könnte, doch dessen Kühlermaske war doch etwas anders geformt.

Freilich hatte der französische Hersteller mit dem Modell deutliche Anleihen bei US-Wagen gemacht und im nächsten Schritt recherchierte ich nach amerikanischen Fabrikaten von anno 1933 mit einer solchen Kühlerpartie.

Nach einer knappen Viertelstunde wurde ich fündig: Der Wagen auf der Düsseldorfer Königsallee war eindeutig ein „Buick“ des Modelljahrs 1933.

In der US-Autohierarchie waren Buicks damals in der gehobenen Mitteklasse angesiedelt. Im Deutschland jener Zeit war man dagegen schon ein König. Denn während überhaupt irgendein Auto bereits einen Luxusgegenstand darstellte, der für den Normalbürger im Reich völlig unerschwinglich war, galt dies erst recht für diesen Buick.

Der wartete schon in der Einstiegsvariante (Series 50) mit einem rund 85 PS leistenden Achtzylindermotor auf, daneben gab es mit längerem Radstand noch stärkere Varianten mit 95 PS (Series 60) bzw. gut 100 PS (Series 80 und 90).

Diese Aggregate waren übrigens keine Seitenventiler wie das bei US-Achtzylindern bis in die Nachkriegszeit häufig der Fall war, sondern sie besaßen im Zylinderkopf strömungsgünstig hängende Ventile (ohv-Spezifikation).

Über 40.000 Exemplare des Modeljahrs 1933 baute Buick – nach amerikanischen Maßstäben war das wenig, aber mehr als genug, um auch den europäischen Markt mit zu versorgen. Billiger als einheimische Fahrzeuge derselben Klasse waren sie zudem.

US-Automobile gelangten so damals in großer Stückzahl vor allem nach Skandinavien. Die deutschen Hersteller waren dort allenfalls mit den DKW-Frontantriebsmodellen oder den Opel-Vier- und Sechszylindern in größerem Stil aktiv.

Das übrige Geschäft in Nordeuropa machten vor allem die Amerikaner, welche die richtigen Produkte in der benötigten Stückzahl zum attraktiven Preis liefern konnten. Daher sind US-Vorkriegswagen bei unseren nördlichen Nachbarn noch heute sehr verbreitet.

So fand ich im Netz ein Video, das der junge dänische Besitzer genau eines solchen Achtzylinder-Buicks von 1933 gemacht hat, wie er einst auf der „Kö“ unterwegs war.

Das Dokument ist phasenweise gewöhnungsbedürftig, aber man bekommt einen guten Eindruck davon, wie geschmeidig und ruhig der kraftvolle Motor läuft. Auch ahnt man, wie das prächtige Auto einen beim Fahren förmlich zum König der Landstraße macht.

Genießen Sie diese königlichen Freuden aus Dänemark und halten bis zum Ende durch – Sie können hier genau den gleichen Wagentyp erleben, der in Düsseldorf unterwegs war:

Video hochgeladen von Roger Friberg; Quelle: YouTube.com

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Urahn des Jaguar: Standard Flying von 1936

Der Jaguar gehört – das wissen die Großkatzenfreunde – gemeinsam mit Löwe, Leopard und Tiger zur Familie der „pantherae“, ist aber im Unterschied zu diesen seit fast 1 Million Jahren in Amerika beheimatet. Seine Urahnen freilich stammen aus der Alten Welt.

Und ebendort bleiben wir heute auch, wenn es darum geht, einem Vorläufer des Jaguar nicht auf vier Tatzen, sondern auf vier Rädern auf die Spur zu kommen.

Als Appetithappen hier schon einmal eine Vorschau auf das fragliche Geschöpf:

Standard Flying 12 oder 20 von 1936; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Kennern ist natürlich geläufig, dass die Marke „Jaguar“ sich auf die 1922 gegründete britische Firma „Swallow Sidecar“ zurückführen ließ, welche urspünglich Seitenwagen für Motorräder fertigte. Ab 1927 bot man auch sportliche Karosserien auf Chassis von Fremdherstellern an. Dazu zählte neben Austin die altehrwürdige Firma Standard.

Die auf Rahmen und Motor von Standard basierenden Fahrzeuge von Swallow wurden unter der Marke „SS“ verkauft. Das Kürzel ließ sich als „Swallow Sidecars“, Swallow Standard“ oder „Standard Swallow“ interpretieren – britischer Pragmatismus at its best.

Der erste „SS“, der als Vorläufer der späteren Jaguar-Tradition angesehen werden konnte, war der im Herbst 1935 vorgestellte SS „Jaguar 2.5 litre“. Der 6-Zylinder-Motor und das Chassis dieses ersten als Jaguar bezeichneten Wagens (die Herstellerfirma wurde erst 1945 entsprechend umbenannt) wurden von Standard zugeliefert.

Dieses Detail – dass der erste Jaguar zwar bereits einen 6-Zylinder besaß, wie das bis zum Erscheinen der 12-Zylinder Standard für die Marke bleiben sollte, aber dieses Aggregat gar kein Eigengewächs war – das mag überraschen, oder auch nicht.

Jaguar-Freunde wissen das wahrscheinlich, aber wie der Motorspender des ersten Jaguar aussah, das dürfte vielen dann noch nicht geläufig sein.

Damit sind wir zurück bei dem eingangs gezeigten Foto, welches 1938 in Belgrad entstand. Nun nehmen wir den Wagen näher unter die Lupe:

Auch ohne profunde Kenntnis britischer Vorkriegsautomobile, die in meinem Blog nur eine Randerscheinung darstellen, da sie auf dem Kontinent vergleichsweise selten blieben, ahnt man anhand des hohen und recht schmalen Kühlers, dass es sich um ein englisches Fabrikat handelt.

Der 1934 eingeführte Hansa 1100 bzw. 1700 besaß eine sehr ähnliche Kühlerpartie, doch fiel diese deutlich breiter aus, was freilich nichts daran ändert, dass der Hansa damals wohl der deutsche Wagen mit der „britischsten“ Optik war.

Nach einigen Recherchen kam ich im Fall der Belgrader Limousine auf den „Standard Flying“ von 1935/36. Dieser besaß eine nach damaliger Mode „stromlinienförmig“ gestalteten steil abfallenden Heckpartie mit mittig geteilter Rückscheibe.

Dieses Detail ist hier leider nicht zu sehen, wofür uns die „im Weg stehende“ junge Frau freilich vollauf entschädigt. Wir sind ihr keineswegs böse, ist sie es doch, welche diesem Autofoto das Quentchen Lebendigkeit einhaucht, welches das Sammelgebiet für mich und viele Gleichgesinnte erst so reizvoll macht.

Sie mag zwar nicht die Besitzerin des Wagens gewesen sein, vielleicht war sie sogar bloß eine Passantin, die sich von ihrem Begleiter neben dem Auto ablichten ließ. Vielleicht wusste sie dennoch mehr darüber als wir.

Zumindest ich kann hier nur „Standard“ liefern – also den Hersteller und die Bezeichnung der Modellfamilie „Flying“, welche sich auf das neugestaltete Emblem der Marke bezog.

Fraglich bleibt indessen vorerst, welche Ausführung wir hier vor uns haben. Die drei Vierzylinderversionen 9, 10 und 12 (was sich auf die britischen Steuer-PS bezieht) besaßen nämlich wie der parallel verfügbare 6-Zylindertyp „20“ eine fast identische Karosserie.

Nur der Vorderwagen scheint sich in Details sowie in der Länge unterschieden zu haben. Wie man sich das genau vorzustellen hat, das konnte ich auf die schnelle nicht herausfinden.

Immerhin ist es mir gelungen, ein prächtiges Foto eines praktisch identischen Exemplars von 1936 zu finden, das die an diesem Modell seltenen Scheibenräder besitzt, die auch an dem Belgrader Exemplar zu sehen sind.

Auch die eigenwillige Gestaltung der seitlichen Luftschlitze in der Motorhaube stimmt genau überein. Inwieweit diese einen Hinweis auf die Motorisierung geben, kann vielleicht ein sachkundiger Leser sagen oder ein fleißiger Mitstreiter herausfinden.

Sollte sich am Ende ergeben, dass wir es nur mit dem „großen“ Vierzylindertyp 12, nicht aber mit dem Spitzenmodell 20 mit dem für den ersten Jaguar ausgeborgten Sechszylindermotor zu tun habe, wäre das nicht weiter schlimm.

Meine kleine Geschichte vom Urahn des Jaguar würde auch dann noch passen. Denn SS bot parallel zum 6-zylindrigen „Jaguar 2.5 litre“ 1935/36 auch einen Vierzylindertyp an, den SS „Jaguar 1.5 litre“, dessen Motor ebenfalls von Standard stammte.

Genau das war nun eine für mich erstaunliche Erkenntnis – ganz am Anfang der unter anderem für ihre seidenweichen Sechszylinder legendären Marke Jaguar stand doch tatsächlich für kurze Zeit (auch) ein Vierzylinder…

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Unterschiedliche Ansichten: Opel Modell 90 bzw. 100

Als diskussionsfreudiger und meinungsstarker Mensch habe ich zu unterschiedlichen Ansichten stets eine positive Einstellung gehabt. Erst im Wettstreit gegensätzlicher Sichtweisen und Einschätzungen kann eine Annäherung an das gelingen, was man im Rahmen des uns Menschen Möglichen für wahr und richtig halten kann.

Das ist keine Frage der Mehrheitsmeinung oder gar der Autorität, sondern schlicht der gründlicheren Betrachtung, der überzeugenderen Schlussfolgerungen, letztlich des besseren Arguments.

Wird ex cathedra behauptet, dass eine Sache abschließend geklärt sei, nicht in Frage gestellt oder auf seine Grundlage hin abgeklopft werden dürfe, werden gar bestimmte Ansichten und ihre Vertreter a priori von der Diskussion ausgeschlossen, dann darf man zuverlässig davon ausgehen, dass andere Interessen im Spiel sind.

Denn warum sollte einer sein Bild der Dinge nicht auf den Prüfstand unterschiedlicher Ansichten stellen wollen? Reiner Unsinn entlarvt sich entweder selbst als solcher oder lässt sich leicht durch das bessere Argumente, Evidenz oder schlicht Logik zurückweisen.

Gelingt das nicht, muss man sich wohl oder übel mit unterschiedlichen Ansichten auseinandersetzen – so schön es für manchen sein mag, ungestört seine exklusive Sicht der Welt verbreiten zu können.

Von daher plädiere ich für das unbedingte Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander unterschiedlicher Ansichten in allen Fragen – das gilt sogar für so banale Gegenstände wie alte Autos und ihre Einordnung in der Welt von gestern.

Dass manche Dinge wohl für immer im Nebel der Geschichte bleiben werden, soll uns nicht davon abhalten, uns dennoch damit auseinanderzusetzen, um vielleicht doch zu einer klareren Sicht zu gelangen:

Opel Model 90 (12/50 PS) bzw. 100 (15/60 PS); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Es könnte ein trüber Novembertag vor über 90 Jahren gewesen sein, als diese auf den ersten Blick wenig aufschlussreiche Aufnahme entstand.

Viel mehr als einen Lastkaftwagen, einen Traktor und eine Limousine konnte ich durch den Nebel eines stark verblassten Fotos kaum erkennen, als ich dieses erwarb. Doch mir gefiel die spätherbstliche Stimmung und die ungewöhnliche Konstellation.

Die oben gezeigte, etwas nachbearbeitete Fassung lässt schon mehr erkennen. Tritt man virtuell näher auf den Personenwagen zu – offensichtlich mit großem Sechsfenster-Aufbau – ahnt der Kenner bereits, worum es sich handeln dürfte:

Die Gestaltung der Trittschutzbleche unterhalb der Türen findet sich so nur bei Opels der zweiten Hälfte der 1920er Jahre unabhängig von der Größe des Wagens.

Die schiere Länge des Fahrzeugs ist jedoch bereits ein Hinweis darauf, dass wir es mit einem der beiden mächtigen Sechszylindertypen zu tun haben, die Opel ab 1927 unter Bezugnahme auf die Höchstgeschwindigkeit als Modell 90 bzw. 100 anbot.

Die jeweilige Motorenspezifikation der großen Opels lautete 12/50 PS bzw. 15/60 PS, wobei beide Varianten das gleiche Fahrgestell mit 3,5 Meter Radstand besaßen. Man fühlt sich dabei an den fast identisch dimensionierten Simson Typ R 12/60 PS erinnert, der Gegenstand meines vorherigen Blog-Eintrags war.

Opel musste freilich mit etwas mehr Hubraum für dieselbe Leistung aufwarten, da die von den Rüsselsheimern verwendeten Seitenventile nicht dieselbe Effizienz wie die im Zylinderkopf hängenden Ventile des Simson ermöglichten.

Der Simson mag auch luxuriöser ausgeführt und hochwertiger verarbeitet gewesen sein, war er nochmals teurer als die ohnehin enorm kostspieligen Opel-Sechszylinderwagen. Das kann aber auch darauf zurückzuführen sein, dass Opel bei der Fertigung von seiner Erfahrung als Großserienproduzent (Typ 4 PS „Laubfrosch“) profitierte.

Dennoch blieben auch die Stückzahlen dieser beeindruckenden Opel-Oberklassewagen mit rund 3.500 Exemplare binnen drei Jahren weit unter dem Standard echter Massenproduzenten. Im Vergleich zu Simson waren sie gleichwohl ein großer Erfolg.

Opel Model 90 (12/50 PS) bzw. 100 (15/60 PS); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Man sieht daran, dass bei der Beurteilung eines Fahrzeugtyps durchaus unterschiedliche Ansichten dabei helfen, ein schlüssiges Gesamtbild im einstigen Kontext zu erhalten.

So ist es doch nicht sehr befriedigend, einem solchen großen Opel nur aus der schnöden Seitenansicht zu begegnen, nicht wahr?

Mit Vergnügen kann ich heute gleich zwei unterschiedliche Ansichten dieser beeindruckenden Wagen präsentieren. Ich bin sicher, dass beide etwas für sich haben, so gegensätzlich sie auch sind.

Möglich gemacht hat dies insbesondere Leser Matthias Schmidt (Dresden), der uns großzügig an zwei Fotodokumenten aus seiner Sammlung teilhaben lässt.

Hier haben wir das erste:

Opel Model 90 (12/50 PS) bzw. 100 (15/60 PS); Originalfoto: Matthias Schmidt (Dresden)

Eine phänomenales Foto, das den großen Opel in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Man könnte fast einen amerikanischen Luxuswagen vermuten, wäre da nicht das typische Markenemblem auf dem Kühlergehäuse.

Tatsächlich hatten sich die Rüsselsheimer wie fast alle deutschen Autohersteller jener Zeit an amerikanischen Vorbildern orientiert, die ab 1925 den deutschen Markt eroberten.

Opel hatte sich bei der Kühlergestaltung kühn bei Packard bedient, damals „die“ US-Luxusmarke, die noch oberhalb von Cadillac angesiedelt war.

Dass die Amerikaner daran Anstoß genommen hätten, ist mir nicht bekannt, vermutlich war es ihnen egal, da Opel kein Konkurrent im Premiumsegment war.

In Deutschland jedenfalls war eine solcher großer Opel wie dieses in Hamburg zugelassene Exemplar aufsehenerregend. Mag sein, dass er neben dem Schulhof einer Mädchenschule geparkt hatte, da weit und breit kein Bub zu sehen ist.

Wer daran Anstoß nimmt, weil Autos doch weit überwiegend Männersache waren und man schon ein repräsentatives Bild zeichnen sollte, dem kann geholfen werden – diesmal von Leser Klaas Dierks, der ein ebenso beeindruckendes Fotodokument beisteuern konnte:

Opel Model 90 (12/50 PS) bzw. 100 (15/60 PS); Originalfoto: Klaas Dierks

Auf dieser an der Rheinpromenade in Remagen festgehaltenen Situation ist die Männerwelt wieder in Ordnung, auch wenn der Herr links etwas griesgrämig dreinschaut. Die verkrampfte Haltung seiner rechten Hand kann alle möglichen Ursachen gehab haben – von einem dringenden Bedürfnis über allgemeines Unwohlsein bis hin zu Zahnschmerzen.

Man sieht hier, dass es auch zu den Ursachen menschlicher Befindlichkeiten unterschiedliche Ansichten geben kann. Ihre ist wie stets willkommen.

Doch will ich nicht schließen, um nach diesen Betrachtungen doch noch einen überraschenden Kontrapunkt zu setzen.

Ein guter Geist und kluger Kopf hat nämlich einst dafür gesorgt, dass das Bild auf den großen Sechszylinder-Opel erst dann komplett ist, wen man konträr zum Konsens an die Sache herangeht:

Opel Model 90 (12/50 PS) bzw. 100 (15/60 PS); Originalfoto: Matthias Schmidt (Dresden)

Das ist natürlich derselbe Opel wie auf dem ersten Foto, das mir Matthias Schmidt in digitaler Form zur Verfügung gestellt hat. Dennoch bin ich der Überzeugung: So haben sie diesen Wagen noch nie gesehen!

Das Studium der Details überlasse ich dem Einzelnen. Für mich ist es heute genug, anschaulich gemacht zu haben, dass in unterschiedlichen Ansichten großer Reiz, bisweilen sogar Schönheit und am Ende vielleicht überraschende Erkennntnis liegt.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Na so was! Mobiler Blumenladen: Simson So 8/40 PS

Der Titel meiner heutigen Betrachtung ist aus der Not geboren. Etwas Besseres ist mir spontan nicht eingefallen, und auf die Überschrift ver(sch)wende ich normalerweise nur ein paar Sekunden. Geistesblitze stellen sich entweder sofort ein oder nicht.

So ist es also diesmal ein „mobiler Blumenladen“, den ich Ihnen heute nahebringen will. Ganz abwegig erscheint dies schon deshalb nicht, weil diejenigen, welche es sich leisten konnten, sich auch vor 100 Jahren schon alles Mögliche ins Haus liefern lassen konnten.

Das geschah zunehmend mit dem Lieferwagen, bisweilen aber auch mit einem für eine ansprechende Warenpräsentation besser geeigneten Auto mit offenem Tourenaufbau.

Das folgende Beispiel verdanke ich Leser Matthias Schmidt (Dresden), und er teilte mir auch mit, dass der Originalabzug mit dem Vermerk „Berlin, Juni 1929“ versehen ist:

Simson „Supra“ Typ So 8/40 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Wer sein Leben nicht nur von Notwendigkeiten geleitet gestaltet – solche Zeitgenossen gibt es auch oberhalb der Armutsgrenze – der hat nicht nur ein Herz für den großen Freiheitsbeförderer in Form des Automobils, sondern schätzt auch die Gaben der Natur.

So verbinden sich auf dieser Aufnahme beide Welten vorzüglich – die Sphäre der unauffällig funktionierenden Technik und die Magie der opulenten Farbe und Form, wie sie sich uns in Gestalt blühender Pflanzen zweckfrei zum reinen Plaisir präsentiert.

Mindestens ein Leser dieses Blogs vereint in seiner Vita dieses Nebeneinander in kaum zu übertreffender Form: einst erfolgreicher Blumenhändler und bis heute leidenschaftlicher Liebhaber des alten Blechs. Ihm sollte dieser Transporter also besondere Freude bereiten.

Aber was war das überhaupt für ein Automobil, das uns hier so wundersam belebt begegnet? Die Antwort liefert wie so oft bei Vorkriegsmodellen die Frontpartie:

Lassen Sie sich nicht von dem Blick der jungen Dame ablenken, welche hier vorgibt, den Motor des Wagens mit der Anlasserkurbel zu starten. Solches war bei hochwertigen Wagen ab 1920 kaum mehr notwendig, wenn nicht gerade die Batterie streikte.

Der professionelle Blick fokussiert sich auf die Gestaltung der Kühlerpartie mit dem vorkragenden Einfüllstutzen und der Motorhaube mit den auffallend schmalen und hohen Luftschlitzen sowie der umlaufenden Nietenreihe. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor?

Nein? Dann beginnen wir zu Schulungszwecken zunächst mit dieser Reklame von 1927:

Simson-Reklame von 1927; Original aus Sammlung Michael Schlenger

So bewarb der thüringische Nischenhersteller Simson sein von 1925 bis 1928 gebautes Modell So 8/40 PS – eine „zivile“ Variante des Sportwagentyps Supra Typ S 8/50 PS.

Das 2-Liter-Aggregat verfügte über eine moderne Ventilsteuerung mittels obenliegender Nockenwelle, welche wiederum direkt über eine Königswelle (nicht über eine Kette oder Stirnräder) angetrieben wurde. Das sollte bis in die Nachkriegszeit die Ausnahme bleiben.

Der Tourer in der Anzeige sieht unserem Blumenlieferwagen doch schon ziemlich ähnlich, nicht wahr? Die eigentümliche Gestaltung des Kühlwassereinfüllstutzens – ich liebe diese aneinandergekoppelten deutschen Wörter – ist absolut typisch.

Auch die Gestaltung der Luftschlitze in der Haube, die Vierradbremsen und die Form der Türen mit darunterliegenden Trittschutzblechen sind identisch.

Der Fall ist klar: Auch dieser Simson war ein Typ So 8/40PS mit Tourenwagenaufbau, der aus unerfindlichen Gründen „Karlsruhe“ hieß. Mit diesem Modell habe ich mich – nicht zuletzt dank Matthias Schmidt – schon wiederholt befasst (siehe hier).

Drei Jahre ist das schon wieder her – meine Güte, wie rast die Zeit.

Wie so ein Simson des Typs So 8/40 PS aus der besonders vorteilhaften Perspektive „schräg von vorne“ aussah, das kann ich dank des Beitrags eines weiteren Lesers mit großem Fundus und gutem Gespür zeigen:

Simson So 8/40 PS mit Tourenwagfenaufbau „Karlsruhe“; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Die digitale Kopie dieser hervorragenden Originalaufnahme hat mir Klaas Dierks zur Verfügung gestellt – er ist zusammen mit Matthias Schmidt, Jörg Pielmann, Marcus Bengsch, Gottfried Müller und Volker Wissemann eine maßgebliche Stütze dieses Blogs.

So viel Zeit muss sein, auch wenn es eigentlich um den Simson So 8/40 PS geht.

Mir bereitet diese unkomplizierte und fruchtbare Form der Zusammenarbeit großes Vergnügen. Ihnen auch? Na dann schauen Sie doch einmal, was sich in ihrer Sammlung oder Ihrem Familienalbum vielleicht an schönen Dingen verbirgt. Her damit, bitte!

Sie wissen: Mir geht es nicht immer um die großen Sensationen – auch wenn die hier ebenfalls einen Platz haben – mir genügt auch eine scheinbar banale Erkenntnis an wie diese: „Schau an: Ein Simson So 8/40 PS als Blumentransporter. Na so was!“

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Fund des Monats: Ein „Pic-Pic“ Tourenwagen

Meine regelmäßigen Italientouren sind zwar mit einiger Kilometerfresserei verbunden, doch kaum habe ich Basel hinter mir gelassen, stellt sich eine gehobene Stimmung ein.

Das rigide Tempolimit auf den eidgenössischen Autobahnen bekommt angesichts der grandiosen Landschaft einen ganz eigenen Sinn. Immer wieder bemerkenswert, wie hingebungsvoll die Schweizer ihre Kulturlandschaft pflegen – die in deutschen Landen um sich greifende Vernachlässigung, gar Verschandelung sucht man vergebens.

Noch sympathischer ist mir freilich von jeher die wirklich demokratische Kultur in Helvetien, die weltweit ihresgleichen sucht.

Direkt über die Dinge abzustimmen, die einen betreffen und für die man im Zweifelsfall aufzukommen hat, ist zwar kein Schutz vor Fehlentscheidungen – doch ist man dann eben selbst dafür verantwortlich und kann sie auch aus eigener Initiative wieder korrigieren.

Auch für die konsequente Neutralität kann ich mich erwärmen – in Verbindung mit einer todernst gemeinten Wehrbereitschaft war und ist sie Garant dafür, dass dem Volk der Blutzoll erspart blieb, den die Nachbarn infolge der verantwortungslosen Politik ihrer Herrschenden in zahllosen Konflikten schon seit dem 19. Jahrhundert zu zahlen hatten.

Nur eines ist mir lange unverständlich geblieben: Wieso haben die tüchtigen, erfindungsreichen und präzisionsverliebten Schweizer keine nennenswerte Automobilindustrie aufgebaut?

Des Rätsels Lösung stellte sich vor einiger Zeit in Form eines Buchs ein, welches ich jedem Vorkriegsautofreund nur ans Herz legen kann.

So legte Ernest Schmid schon 1978 das beeindruckende Standardwerk „Schweizer Autos“ vor, welches auf über 250 Seiten rund 70 eidgenössische Autofabrikate ausbreitet!

Tja, so kann man sich irren…

Zwar sind auch einige Nachkriegsmarken dabei, doch der Schwerpunkt liegt klar auf Vorkriegsherstellern und was sich einem da präsentiert, kann durchaus mit französischen, deutschen oder auch italienischen Konkurrenten mithalten.

Das lässt sich kaum schöner illustrieren als mit dieser Aufnahme aus Stein am Rhein:

Automobile der 1920er Jahre in Stein am Rhein; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die atemberaubende Architektur mit vier- bis sechsstöckigen Bürgerhäusern, welche teilweise an die 500 Jahre alt sind, ist typisch für den kleinen Ort im Kanton Schaffhausen, der schon in der Römerzeit gegründet wurde.

Vor dieser Kulisse verblassen nicht nur die meist kurzlebigen und geistlosen Schöpfungen der mangels Attributen als „modern“ bezeichneten Architektur unserer Tage.

Auch die wohl folgenreichste Erfindung der Neuzeit, das Automobil, hat hier einen schweren Stand, obwohl es mit sieben Fahrzeugen um Aufmerksamkeit buhlt.

Dennoch wollen wir natürlich auch den Wagen Gerechtigkeit widerfahren lassen, zumal da sie sich formal besser in das über Jahrhunderte gewachsene Ambiente einfügen, als dies bei automobilen Kreationen unserer Tage möglich wäre:

Hier haben wir es durchweg mit Tourenwagen der frühen 1920er Jahre zu tun. Auf diesem Ausschnitt sehen wir von links einen Opel, eine Presto, noch einen Opel und (wahrscheinlich) einen Dürkopp – soweit zu erkennen mit deutschen Kennzeichen.

Anders stellt sich das Bild auf dem nächsten Ausschnitt dar – dort findet sich auch unser Fund des Monats.

Neben einem ebenfalls in Deutschland zugelassenem Benz steht ein Fiat 501 oder 505 (aus dieser Perspektive schwer zu entscheiden) mit schweizerischem Kennzeichen.

Viel interessanter ist freilich das Fahrzeug mit dem eigentümlichen Emblem im Vordergrund:

Dieser ebenfalls in der Schweiz zugelassene Wagen mit den sportlichen Drahtspeichenrädern ist deutlich oberhalb des Fiat und auch des Benz angesiedelt.

Man möchte spontan auf ein französisches Fabrikat tippen, doch bei näherem Hinsehen verrät das Kühleremblem, dass wir es mit einem Pic-Pic zu tun haben, der in Genf produziert wurde.

Der Markenname spielt auf die beiden Schöpfer dieses Autoherstellers an: Paul Piccard und Lucien Pictet. Sie waren seit 1895 gemeinsam mit der Fertigung von Wasserturbinen befasst. 1906 stiegen sie in den Fahrzeugbau ein, anfänglich noch unter dem Namen SAG.

Ab 1910 wurden die bei Piccard, Pictet & Cie hergestellten leistungsstarken Wagen als Pic-Pic vertrieben. Ihnen wurden schwächere Modelle mit 18 bzw. 22 PS zur Seite gestellt.

Noch vor dem 1. Weltkrieg verlegte man sich auf ventillose Motoren, bei denen der Gaswechsel über bewegliche Hülsenschieber gesteuert wurde. Die entsprechende von Argyll erworbene Lizenz nutzte man bis Anfang der 1920er Jahre.

Auch der Pic-Pic auf dem in Stein am Rhein entstandenen Foto wird ein solches frühes Nachkriegsmodell mit 2,9 Litern Hubraum gewesen sein:

Dieser Pic-Pic markierte den Höhepunkt und zugleich das nahende Ende der Marke – 1922 erschien noch ein 3-Liter-Prototyp, der jedoch nicht mehr in Serie ging.

Immerhin ein Exemplar des ventillosen Pic-Pic von 1919 wie auf dem heute gezeigten Foto hat die Zeiten überdauert und ist angeblich im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern zu bewundern.

Vielleicht statte ich ihm bei der nächsten Reise gen Süden einen Besuch ab, Luzern liegt ja auf dem Weg, wenn man den Gotthard ansteuert…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Für heilige Männer in Eile: Fiat 509 Tourer

Mit dem letzten Blog-Eintrag hatte ich mich ins auch im Hochsommer zuverlässig grüne Umbrien verabschiedet – zwar nicht im NAG „Puck“ nach Todi im Tibertal, aber ins nur rund 50 km nordöstlich gelegene Collepino oberhalb von Spello in der Nähe von Assisi.

Dort, einige hundert Meter oberhalb der großartigen Kulturlandschaft der „Valle Umbra“ findet man in einem über 1000 Jahre alten Ort, der einst als Festung ausgebaut war, bis heute ein über die Jahrhunderte kaum verändertes malerisches Bild:

Collepino (Umbrien); Bildrechte: Alessio Balbo, 2023

Exakt in der Mitte dieser Aufnahme, die ich Alessio Balbo von den „Amici di Collepino“ bei Facebook verdanke, erkennt man das mittelalterliche Stadttor, das im Folgenden noch eine wichtige Rolle spielen wird.

Collepino ist über eine sechs Kilometer lange, stetig ansteigende Straße mit dem im Tal liegenden weit älteren Spello verbunden. Wer von dort kommt, muss entweder gut zu Fuß sein, stramme Radlerwaden haben oder – über ein Automobil verfügen!

Die lokale Radlerfraktion attackiert den anspruchsvollen Anstieg meist mit der Rennmaschine, genießt dann die grandiose Aussicht auf die Valle Umbra über Foligno und Trevi bis hin nach Spoleto, gönnt sich einen Kaffee oder eine Piadina in Flavios Bar auf der winzigen Piazza und macht sich wieder auf den Weg ins Tal.

Vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert blieb den Leuten dagegen nur die Wahl zwischen „per pedes“, mit dem Esel oder dem Ochsenkarren.

Die vom Volk verehrten Eremiten in den umliegenden kleinen Klosteranlagen wie dem unweit befindlichen Eremo di San Silvestro dürften mit Kutte und Sandalen bekleidet zu Fuß unterwegs gewesen sein, wenn sie überhaupt einmal ihre Refugien verließen.

Indessen die hohe Geistlichkeit, deren Hang zur Opulenz über die Jahrhunderte immer wieder wahrhaft frommen Männern und Frauen aufstieß, wird wohl schon immer das beste jeweils verfügbare Transportmittel gewählt haben.

Denn je heiliger man sich vorkam – jedenfalls hierarchietechnisch gesehen – desto eiliger hatte man es als Vertreter des gehobenen Klerus. Gewiss werden findige Bibel-Exegeten frühzeitig herausgefunden haben, dass der Gebrauch des neu erfundenen Automobils keineswegs unchristlich sei, jedenfalls nicht bei Vorliegen (h)eiliger Anliegen.

Und so mussten sich diese für die damalige Zeit ausgesprochen wohlgenährten und mit sich selbst zufriedenen Kirchenmänner keineswegs sündig vorkommen, wenn sie den Besuch im 600 Meter hoch gelegenen Collepino mit dem Tourenwagen absolvierten:

Fiat 509 A vor dem Stadttor von Collepino; Originalfoto via Alessio Balbo, 2023

Dass die Aufnahme vor dem erwähnten Stadttor von Collepino entstanden sein muss, das verrät der seit Jahrhunderten dahinter quer angebrachte mächtige Holzbalken. Er befindet sich auch heute noch an Ort und Stelle, dazu später.

Die Aufnahme stammt aus einer kleinen Sammlung zeitgenössischer Aufnahmen, die in Collepino und Umgebung Anfang der 1930er Jahre entstanden und die mir wiederum Alessio Balbo von den Amici di Collepino in digitaler Kopie übersandt hat.

Der auf diesem Foto zu sehende Wagen war damals schon einige Jahre alt – er ist an der Gestaltung der Haubenpartie als Fiat der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu erkennen.

Sehr wahrscheinlich haben wir es mit einem viertürigen Tourenwagen auf Basis des 1925 eingeführten Vierzylindertyps 509 zu tun. Trotz des Hubraums von nur 1 Liter entwickelte der Wagen dank obenliegender Nockenwelle standfeste 22 PS (Sportversionen schafften sogar an die 30 Pferdestärken).

Das seinerzeit enorm erfolgreiche Modell begegnete einem im Europa der Vorkriegszeit auf Schritt und Tritt – so auch im deutschsprachigen Raum. Hier haben wir die ursprünglich nur zweitürige Tourenwagenausführung:

Fiat 509 Tourer; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Im Zuge der Weiterentwicklung des Erfolgstyps brachte man den Tourer später auch mit vier Türen heraus.

Diese Ausführung besaß höhere und kürzere Türen, die einen nur geringen Abstand voneinander aufwiesen (bei größerem Abstand hat man es mit dem stärkeren Modell 503 zu tun).

Ein solches viertüriges Exemplar durfte ich vor einigen Jahren anhand dieser Aufnahme besprechen, die 1927 im österreichischen Graz entstanden war:

Fiat 509 Tourer; Originalfoto mit freundlicher Genehmigung von Thomas Frewein

Sicher können Sie trotz der gänzlich anderen Situation die Übereinstimmung mit dem einst vor dem Stadttor von Collepino abgelichteten Fiat einiger (h)eiliger Kirchenmänner nachvollziehen.

Wenn Sie nun noch das Tor mit dem erwähnten Balken begutachten wollen, dann nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit und machen Sie einen kurzen Rundgang durch Collepino außerhalb der Saison, wenn Sie dort mehr Katzen als Besucher antreffen.

Zu Beginn und am Ende sehen Sie das erwähnte Stadttor vor dem vor rund 90 Jahren einige zweifellos gewichtige Vertreter der Kirche nebst Fiat posierten. Man mag bezweifeln, ob sie sonderlich heilig waren, doch eilig hatten sie es zweifellos…

Videoquelle: YouTube.com; hochgeladen von: Eleonora Proietti Costa

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Dass es das noch gibt: Audi „Zwickau“ in Rothenburg

Bei meinen nächtlichen Zeitreisen in die Welt der Vorkriegsautomobile mache ich die erstaunlichsten Beobachtungen – und lerne selbst immer wieder Neues dazu. Dabei geht es bisweilen nur am Rand um die Fahrzeuge selbst.

Diesmal haben wir die Situation, dass alles zusammenkommt: Mensch und Maschine, grandioser Karosseriebau und enorme Leistung, Technik der Neuzeit und uralte Architektur.

Dass sich alles so schön zueinander gesellt, dass verdanke ich zum einen der Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, zum anderen einer gewissen Intuition, die Dinge auf interessante Weise zu kombinieren – so hoffe ich zumindest.

Beginnen wir doch der Einfachheit halber mit dem Thema „Mensch und Maschine“, denn damit gewinnt man die Herzen der Leser am zuverlässigsten, nicht wahr?

Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Michael Schlenger

Diese wunderbare Foto aus meiner Sammlung spricht Bände, was die vollkommene Andersartigkeit von Vorkriegsautos angeht.

Da gibt es freistehende Kotflügel, die sich vorzüglich als Rutschbahn eigneten, wären da nicht die praktischen Scheinwerfer, an denen man sich bei Bedarf festhalten kann. Und der mutigste der Buben sitzt rittlings und stolz wie Oskar auf dem Kühlergehäuse.

Geeignete Kletterhilfen sind ebenfalls vorhanden – im ersten Schritt geht es auf die verchromte Doppelstoßstange, dann stützt man sich auf der ebenfalls noch ziemlich massiven Querstange zwischen den Scheinwerfern ab.

Dabei hält man sich für alle Fälle an der „Eins“ fest, die bei diesem Wagen als Kühlerfigur fungiert, hier freilich verborgen ist. Man ahnt ihre Funktion auf einem zweiten Foto, das Leser Marcus Bengsch an Land gezogen hat, aus derselben Quelle schöpfend wie ich:

Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Marcus Bengsch

Diesem schönen Zufall verdanken wie eine Familienzusammenführung nach 91 Jahren, denn dieses Foto, das offenbar denselben Wagen zeigt, entstand im März 1932.

Dass es sich um einen 8-Zylinder-Audi handelt, das ist klar, auch wenn hier das Zwickauer Stadtwappen prominenter angebracht ist als der Markenschriftzug.

Wer sich in die Vorgeschichte dieses Wagens einlesen will, kann dies in einem älteren Blog-Eintrag tun (hier). An dieser Stelle sei nur wiederholt, dass von 1929-32 ganze 457 Wagen des Modells mit dem in den USA eingekauften 5,1 Liter-Motor entstanden.

Das gewaltige Reihenaggregat verlangte viel Platz – sehr viel Platz. Das erklärt den Radstand von 3,50 Meter, welcher den Audi „Zwickau“ von dem äußerlich sonst sehr ähnlichen 6-Zylinder-Modell „Dresden“ unterschied.

Die Proportionen des folgenden Audi sprechen stark für das große Modell „Zwickau“, wie ich bereits in einem älteren Blog-Eintrag dargelegt habe (hier):

Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Michael Schlenger

Bei dieser repräsentativen Pullman-Limousine tritt der menschliche Aspekt hinter den schieren Dimensionen in den Hintergrund. Aber auch der nüchterne Blick auf die Maschine muss dem Studium der meisterhaft gezeichneten Karosserie weichen.

Hier sehen wir die typischen Elemente, die dazu beitragen, dass das enorme Volumen des Aufbaus optisch ansprechend gestaltet wird. Man muss sich vergegenwärtigen, dass diese Limousine fast 1,90 Meter hoch und knapp fünf Meter lang war.

Wesentlichen Anteil daran, dass der Audi dennoch nicht erschlagend wirkt, haben die Zweifarblackierung und der Kunstgriff, die Türen weit niedriger erscheinen zu lassen, als sie es tatsächlich sind, indem die untere Hälfte farblich vom Oberteil abgesetzt ist.

So wird die Länge des Aufbaus betont, da die Kante der Motorhaube scheinbar bis ans Heck durchläuft. Die helle Einfassung der Seitenfenster wiederum nimmt dem Oberteil der Türen die Massivität.

Eine einzige solche Pullman-Limousine hat übrigens nach meinem Kenntnisstand die Zeiten überdauert (Quelle: Audi-Automobile 1909-1940, P. Kirchberg/R. Hornung, 2009).

Leider kann man dies nicht von der Variante als viertürigem Cabriolet behaupten, das auf dem folgenden Foto von Leser Klaas Dierks zu sehen ist:

Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Klaas Dierks

Wären da nicht die „Eins“ auf dem Kühler und die fünf bis sechs Felder mit Luftschlitzen in der Motorhaube, wäre es nicht so einfach, dieses Fahrzeug mit dem zuvor gezeigten in Verbindung zu bringen.

Die deutlich andere Wirkung ist mehreren Faktoren zuzuschreiben: Vielleicht am markantesten ist die schrägstehende Frontscheibe, die hier überdies ausgestellt ist.

Dann wären da die abgerundete Türunterseite und natürlich der gänzlich andere Dachaufbau mit relativ einfach gestalteten Fensterrahmen. Dies und die Ausführung der dunklen Zierleiste entlang des Passagierabteils erscheinen mir gemessen an den besten Beispielen solcher Aufbauten wie etwa von Gläser (Dresden) wenig elegant.

Die im Standardwerk zu Gläser-Karosserien (Michael Brandes: Gläser Karosserie Dresden, 2021) abgebildeten Aufbauten dieses Typs von Anfang der 1930er Jahre kommen zwar ebenfalls mit schrägestehender Windschutzscheibe und unten abgerundeter Tür daher.

Bei ihnen ist jedoch in den meisten Fällen der Vorderkotflügel länger nach hinten gezogen, sodass das Ersatzrad darin eingebettet ist. Außerdem sind die seitlichen Zierleisten im Bereich der Türen speziell bei sehr langen Aufbauten raffinierter gestaltet.

Ich mag falsch mit meiner Einschätzung liegen, doch konnte ich keine vollständige Übereinstimmung mit einem Gläser-Aufbau finden, obwohl die Karosseriemanufaktur ausdrücklich auch Aufbauten für den Audi Typ „Zwickau“ lieferte.

Vielleicht weiß ein Kenner mehr, dann bitte die Kommentarfunktion nutzen.

Ich will die heutige Betrachtung noch auf etwas anderes lenken. Denn hinter dem Audi auf dem Foto von Klaas Dierks ist eine Struktur zu erkennen, die mir bekannt vorkam.

Genau dasselbe mittelalterliche Stadttor ist auf einer weiteren Aufnahme zu sehen, die einen Tourenwagen der 1920er Jahre zeigt, welchen ich nicht eindeutig identifizieren kann.

unbekannter Tourenwagen der frühen 1920er Jahre; Originalfoto: Michael Schlenger

Ich weiß nicht mehr wie, aber nach einigen Bildrecherchen im Netz kam ich darauf, dass es sich um die Spitalbastion in Rothenburg ob der Tauber handelt.

Natürlich bietet der ganze Ort, der kurz vor Kriegsende von einem der militärisch sinnlosen (für die Besatzungen aber immer noch brandgefährlichen) Bombenangriffe der Alliierten heimgesucht wurde, unendlich viele pittoreske Fotomotive.

Doch aus irgendeinem Grund war die Spitalbastei bei Automobilisten besonders beliebt.

Es hat einen speziellen Grund, weshalb ich an dieser Stelle das vollständige Originalfoto zeige, das Leser Klaas Dierks beigesteuert hat:

Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Klaas Dierks

Wenden Sie bitte für einen Moment den Blick von dem mächtigen Audi und dem monumentalen mittelalterlichen Mauerwerk dahinter ab.

Schauen Sie stattdessen nach links durch das schlichte Tor und nehmen die Bank vor dem Haus mit dem geöffneten Fensterladen ins Visier. Situation eingepägt?

Dann wissen Sie jetzt auf Anhieb, wo einst das folgende Foto entstanden ist, das einen Wanderer des Typs W10-IV (Bauzeit: 1930-32) zeigt – also ein weiteres sächsisches Automobil, hier allerdings mit Zulassung im Badischen:

Wanderer W10-IV Cabriolet, Bauzeit: 1930-32; Originalfoto: Sammlung Marcus Bengsch

Dieses Foto habe ich hier ausführlich besprochen. Damals wusste ich noch nicht, wo es entstanden war. Jetzt weiß ich es und so kann ich meine Rekonstruktion der automobilen Welt von gestern an einer Stelle wieder ein klein wenig genauer gestalten.

Natürlich ist es völlig sinnlos, sich an solchen Puzzlespielen zu erbauen, aber irgendwie muss man ja seine Zeit herumbringen außer mit Arbeiten.

Vielleicht hat die Sache aber auch ein Gutes, nämlich jetzt weiß ich, dass man es in Rothenburg ob der Tauber nach dem Krieg verstanden hat, entgegen dem primitiv-funktionalistischen Trend hierzulande, den zerstörten Teil der Altstadt wenigstens dem Grundsatz nach wieder erstehen zu lassen.

Für den Kulturpessimisten in mir ist das eine der wenigen Gelegenheiten, innezuhalten und mit unzähligen Besuchern dieses Kleinods zu sagen: Schön, dass es das noch gibt!

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Von München an die Riviera: 1929er Buick

Hand auf’s Herz: Was verbinden Sie mit der US-Marke Buick? Denken Sie dabei eher an solide Massenware aus dem General Motors-Konzern oder an die feine Gesellschaft in München und an der Riviera?

Nun, alles eine Frage der Perspektive. In den Staaten stand Buick für unspektakuläre Mittelklasse, doch am europäischen Markt genoss die Marke erhebliches Prestige.

Den Beweis dafür werde ich heute antreten – auf einer abwechslungsreichen Reise, die uns von München irgendwo an die Riviera – so vermute ich – führt. Am Ende werden Sie jedenfalls überzeugt davon sein, dass ein Buick ein geradezu luxuriöses Gefährt war!

Nebenbei vermittle ich ein wenig vom Handwerk des Identifizierens von Vorkriegswagen der 1920er Jahre. Und das wie immer in meinem Blog gratis, aber (hoffentlich) nicht umsonst.

Zum Einstieg habe ich ein Foto gewählt, das zwar achtbare Qualitäten aufweist, es einem aber nicht leicht macht, was das abgebildete Fahrzeug mit Münchener Zulassung angeht:

Buick Limousine, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ein stimmungsvolles Foto zweifellos und wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mir jetzt etwas zu dem Fahrer ausdenken, der es sich auf dem Kühler bequem gemacht hat.

Der Mann macht einen sympathischen Eindruck, und ich nehme es ihm keineswegs übel, dass er mit seiner Pose einiges von dem verbirgt, was einem die Ansprache des Wagens leicht machen würde.

Denn es ist noch genug zu sehen, um zu wissen, dass wir ein US-Fabrikat vor uns haben. Dieser Stil mit Zierleiste am hinteren Ende der Motorhaube, an welcher die seitlichen Parkleuchten angebracht sind, ist unverkennbar amerikanisch.

Zwar wurde das auch von europäischen Herstellern kopiert, am fleißigsten von der ruhmreichen deutschen Autoindustrie (sogar von Horch), aber mit etwas Erfahrung lassen sich Original und Kopie immer auseinanderhalten.

Typisch für ein amerikanisches Modell ist beispielsweise die Verzierung am vorderen Ende der Kotflügel. Solches „unnötige“ Dekor galt hierzulande als verpönt, der Funktionalismus hatte in deutschen Köpfen bereits einige Dachschäden angerichtet.

Eine weitere gestalterische Freiheit hatte man sich am Blech unterhalb des Kühlers in Form einer mittig angebrachten „Bügelfalte“ erlaubt. Spätestens hier fällt beim versierten Vorkriegsautofreund der Groschen: Das muss ein 1929er Buick sein!

Denn nur dort fand sich genau dieses Detail, hier am Beispiel eines in Magdeburg zugelassenen Exemplars:

Buick Limousine, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ich mag dieses Foto besonders, denn hier wird die enge Beziehung zwischen Mensch und Maschine deutlich, welche sich bei modernen Fahrzeugen nur noch schwer ergibt.

Der Freiheitsgarant Automobil war und ist eine Errungenschaft, welche größte Wertschätzung verdient – das kann ich gar nicht oft genug betonen.

Wenn ich nach 12 Stunden Fahrt abends in „meinem“ italienischen Bergdorf ankomme und die Luft einer anderen, seit Jahrhunderten kaum veränderten Welt atme, verdanke ich das ausschließlich meinem komfortablen und zuverlässigen Auto.

So ging das einst auch unseren Vorfahren, vorausgesetzt sie konnten sich den damals noch kolossal kostspieligen Spaß leisten. Damit wären wir zurück bei der Münchener Gesellschaft, mit der wir begonnen hatten.

Diese war uns schon einmal im Zusammenhang mit dem 1929er Buick begegnet:

Buick Limousine, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Von München aus ist es nach dem Tankstopp kein allzu weiter Weg mehr bis Garmisch-Partenkirchen, wo uns der 1929er Buick ein weiteres Mal begegnet.

Diesmal haben wir es allerdings mit einer Cabriolet-Ausführung zu tun, welche wahrscheinlich bei einem deutschen Karosseriebauer entstanden war.

So etwas war hierzulande durchaus üblich. Denn selbst ein Buick war gemessen an den Einkommensverhältnissen in Deutschland bereits so teuer, dass die in Frage kommenden Käufer auch das Kleingeld für eine individuell in Handarbeit gefertigte Karosserie hatten.

Das Ergebnis sah dann aus der Ferne scheinbar beliebig aus wie hier:

Buick Cabriolet, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Leider wird der Eindruck durch das nachlässig zusammengelegte Verdeck buchstäblich heruntergezogen – die angebliche deutsche Ordnung wurde schon immer überschätzt. Dennoch lohnt sich ein genauerer Blick auf den Wagen.

Denn beim näheren Hinsehen offenbart sich ein Detail, welches uns verrät, dass wir es auch hier mit einem 1929er Buick zu tun haben. Sonst wäre dieses Auto schwer zu identifizieren.

Also treten wir näher heran – es ist ja nicht viel los auf den Straßen in Garmisch und der Fahrer schaut in die andere Richtung.

Vielleicht musste ja einer der Insassen einen unfreiwilligen Zwischenaufenthalt beim Zahnarzt Dr. P.C. Heinz einlegen, welcher seine Praxis im Gebäude der Apotheke hatte:

Wie soll man hier erkennen, dass dieser Wagen ein Buick – und dann noch einer von 1929 – gewesen sein soll?

Nun, dazu müssen wir noch einmal nach München zurück – ich weiß, es ist lästig, schließlich wollen wir an die Riviera, doch es geht nicht anders.

Immerhin müssen wir nicht in die Innenstadt, sondern kehren an den Ort im Voralpenland zurück, an dem einst das erste Foto mit dem im München zugelassenen 1929er Buick entstanden war.

Den schauen wir uns noch einmal genauer an:

Bitte prägen Sie sich das Muster auf der Nabenkappe des Vorderrads ein – ein wenig wie ein Fadenkreuz scheint es auszusehen.

Dieses Detail wird uns heute noch zweimal begegnen auf dem Weg an die Riviera.

Das erste Mal in Garmisch, wo wir erneut das 1929er Buick-Cabrio in Augenschein nehmen. Wir haben zum Glück ausreichend Zeit dazu.

Zwar sitzt der Fahrer wie auf heißen Kohlen, denn es steht ja noch die Überquerung der Alpen an. Doch die Zahnarztsitzung will kein Ende nehmen und so haben wir abermals Gelegenheit, uns heranzuschleichen:

Wieder nehmen wir die Nabenkappe am Vorderrad ins Visier – tatsächlich ist dort eine Art Fadenkreuz zu sehen, wobei unklar erscheint, was sich in der Mitte befindet.

Doch für unsere Zwecke genügt diese Beobachtung vollauf. Denn dieses Detail findet sich genau so nach meinem Eindruck nur am 1929er Buick.

Ausgestattet mit dieser Arbeitshypothese machen wir uns nun auf den weiteren Weg gen Süden. Die Herrschaften sind vom Zahnarzt zurück und es kann weitergehen.

Wohin sie damals wirklich unterwegs waren mit ihrem Buick-Cabriolet, das wissen wir nicht. Ihre Spuren verlieren sich mit diesem Dokument im Nebel der Geschichte.

Doch wir lassen uns nicht verdrießen und machen uns auf eigene Faust über die Alpen. Wo genau wir dabei landen, ob wirklich an der Riviera oder vielleicht eher an einem der oberitalienischen Seen, das vermag ich nicht zu sagen.

Jedenfalls landen wir nach vielen Stunden Fahrt über kaum befestigte Paßstraßen im sonnigen Süden. Wir kommen im „Hotel de Paris“ unter – weiß jemand, wo es sich befindet?

Wir wechseln unterdessen die Kleidung, denn die Reisemäntel haben unterwegs ordentlich Staub geschluckt. Erfrischt und nunmehr im feinen Dress mischen wir uns unter die Gesellschaft. Was begegnet uns da unverhofft?

Nun, das muss wieder ein 1929er Buick sein, diesmal als Reiselimousine, welche den einstmals vorhandenen Komfort eines Eisenbahnabteils mit der bis heute unübertroffenen Autonomie einer Benzinkutsche verbindet:

Buick Limousine, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Muss ich hier eigens auf die Gestaltung der Nabenkappe hinweisen? Nein, diese grandiose Aufnahme muss als Ganzes genossen sein.

Na, was denken Sie jetzt über die Marke Buick? Wäre so eine repräsentative Sechsfenster-Limousine nicht etwas, was man gern auf einem der sogenannten Oldtimertreffen hierzulande einmal sehen würde?

Leider herrscht diesbezüglich meist Fehlanzeige, obwohl speziell das Modelljahr 1929 in Sachen Buick einst reich vertreten war im alten Europa.

Und dann noch dieser Stil der einstigen Besitzer – leider ist auch der Vergangenheit:

Der Hotelbedienstete links konnte damals nur von der sagenhaften Mobilität träumen, welche die feinen Herrschaften genossen – jedenfalls in Europa war das so.

In den Staaten dagegen konnte sich damals jeder ein Automobil leisten und hinter diesen sozialen Standard kann niemand, der bei Sinnen ist, zurückfallen wollen.

Dies ist eine Botschaft, welche sich aus meiner Sicht immer wieder aus dem Studium solcher Dokumente ergibt. Auf eigene Faust andere Länder und Lebensweisen zu „erfahren“, das bildet und bereichert nicht nur, es immunisiert auch gegen den Irrglauben, daheim bereits in der besten aller Welten zu leben.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Vom Rathaus zum Radhaus: Ein Opel 29/70 PS

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie eigentlich die Titel meiner nächtlichen Ausflüge in die schwarz-weiße Wunderwelt der Vorkriegsautos zustandekommen?

Das kann ich Ihnen am heutigen Fotobeispiel vorführen, denn hier geht es fein der Reihe nach vom Rathaus zum Radhaus!

Am Anfang steht die Frage, welche Marke als nächste an der Reihe ist. Dabei versuche ich auf folgende Dinge zu achten:

1. Ein Hersteller sollte nur so oft vorkommen, dass er unter den im Blog angezeigten jüngsten 15 Einträgen lediglich einmal auftaucht. Manchmal weiche ich unbeabsichtigt von der Regel ab – weil ich schlicht vergessen habe nachzuschauen.

2. Deutsche und österreichische Fabrikate sollten den Schwerpunkt bilden, da dies der Interessenlage der meisten Leser entsprechen dürfte und das meiste mir vorliegende bzw. zugetragene Material nun einmal aus dem deutschsprachigen Raum stammt.

3. Hierzulande einst stark vertetene ausländische Fabrikate sollten angemessen repräsentiert sein. Daraus ergibt sich eine von der Zusammensetzung bei Oldtimertreffen in Deutschland stark abweichende Mischung – kaum britische, dafür viele amerikanische Autos.

4. Marken, zu denen es bekanntes Material ohne Ende gibt, bringe ich bevorzugt anhand ungewöhnlicher Typen oder Ausführungen. Ein Mercedes 170V oder ein Adler Trumpf ist daher ein seltener Gast, was die Liebhaber dieser Typen verkraften müssen.

Ich hoffe, dasss meine heutige Entscheidung in Sachen Opel alle diese Maximen berücksichtigt. Wenn nicht, ist es auch egal, ich bin hier nämlich der Chef und mache bei Bedarf von meinem Recht auf Willkür rücksichtslos Gebrauch.

Heute ist also Opel wieder an der Reihe. Das populäre 4 PS-Modell bekommt hier nur ganz selten die Bühne, so nett speziell die ganz frühen Bootsheckversionen auch sind, die noch sehr nah am Charme des französischen Vorbilds Citroen 5CV sind:

Opel 4/14 PS von 1925; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Der Kontrast zu diesem zauberhaften Dokument könnte kaum größer sein, der sich bei Betrachtung des heutigen Hauptdarstellers aus Rüsselsheim ergibt.

Nicht nur handelt es sich um ein Riesenauto mit siebeneinhalbmal so großem Motor und Platz für sechs bis sieben Personen – auch die Umstände, unter denen es einst abgelichtet wurde, könnten in keinem krasseren Gegensatz stehen.

Unser heutiger Ausflug führt nämlich weit zurück in den 1. Weltkrieg in ein Umfeld, in dem Frauen außerhalb von Lazaretten, Bordellen und Munitionsfabriken keine Rolle spielten. Dabei scheint hier doch alles ganz friedlich, beinahe beschaulich auszusehen:

Opel 29/70 PSn von 1914; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ein mächtiger Tourenwagen mit markanten schrägstehenden Haubenschlitzen und am Heck kelchartig ausgeführtem Aufbau (sog. Tulpenkarosserie) hat gerade vor einer spätgotischen Arkade haltgemacht.

Im Wagen sitzen deutsche Soldaten – der preussische Adler auf der hinteren Tür bestätigt das. Sie werden von einigen entspannt bis neugierig wirkenden Kameraden erwartet.

Für ein wirklich „hohes Tier“ hätte es einen großen Empfang gegeben, so bleibt der beeindruckende Wagen der Hauptdarsteller. Bevor wir uns an seine Identifikation machen, will erst einmal geklärt sein, wo diese Aufnahme überhaupt entstanden ist.

Zwar bin ich kein besonderer Kenner, aber die Architektur ließ mich gleich an Bauten in Belgien, den Niederlanden und Frankreich denken.

Offensichtlich handelt es sich um einen Profanbau, an dem die dort besonders reiche Spätgotik mit ersten leisen Renaissanceanklängen ihren Niederschlag gefunden hat.

In den reichen Kaufmannsstädten unserer westlichen Nachbarn wurden im ausgehenden Mittelalter vor allem die Bauten rund um den Marktplatz solchermaßen repräsentativ ausgestattet.

Für ein Kaufmanns- oder Gildenhaus erschien mir der Bau eine Nummer zu groß und so versuchte ich mein Glück mit einem Rathaus.

Nachdem ich bei meiner Bildersuche in den damals von deutschen Truppen besetzten belgischen Großstädten keinen Erfolg hatte, suchte ich einfach nach „Place du 8 Octobre“ – wieso, das werden Sie gleich sehen – und wurde sofort fündig.

Dieser Suchbegriff führte mich ins nordfranzösische St. Quentin. Dort war schnell das Rathaus als Ort meines Fotos ermittelt. Es hat die starken Zerstörungen der Stadt überstanden, die durch französische (!) Artillerie gegen Ende des Kriegs entstanden.

Kommen wir nun vom Rathaus zu dem Auto, das wir gleich näher ins Visier nehmen. Ganz links auf dem Bildausschnitt findet sich auf einem Schild der Hinweis auf den „8 Ocktoberplatz“, der mir den Schlüssel für die Suche nach dem Ort lieferte:

Die (leider wenigen) Freunde ganz früher Opels werden sicher zustimmen, wenn ich dieses Fahrzeug als großes Modell ab 1914 anspreche.

Die durchlaufende Reihe leicht geneigter Kühlluftschlitze in der Motorhaube findet sich so vor allem bei den stark motorisierten Rüsselsheimer Modellen.

Der gleichmäßige Anstieg von Haube und daran anschließendem Windlauf zur Frontscheibe hin ist vor 1913 bei Opel nicht zu finden. Wie komme ich dann aber auf „ab 1914“?

Immerhin könnte das doch auch ein Opel der mittleren Typen mit rund 30 bis 40 PS in der 1913 eingeführten Karosseriegestaltung gewesen sein.

Das war auch meine erste Vermutung. Beim Vergleich mit den leider sehr wenigen Abbildungen solcher Opel-Wagen, bei denen der Typ bekannt ist, fiel mir jedoch etwas auf, was ich so letztlich nur an einem Modell fand.

Dazu nehmen wir das hintere Radhaus in Augenschein – wenn man diesen Begriff hier bereits verwenden mag, da das Rad vom Kotflügel weitgehend eingeschlossen ist:

Bei der Betrachtung des hinten weit nach unten gezogenen Schutzblechs – das man so bei Opel nach meiner Wahrnehmung erst ab 1914 findet – fiel mir etwas ganz anderes auf.

Bei mittleren und schweren Opel-Typen sind hinten durchweg 3/4-Elliptikfedern zu sehen. Das bedeutet, dass es zusätzlich zu dem unteren Blattfederpaket, an dem die Achse angebracht ist, oberhalb ein weiteres damit verbundenes halbes Blattfederpaket mit entgegengesetzter Kurvatur gab.

Auf dem obigen Foto sieht man aber nur das untere Federpaket, dessen hinteres Ende am starren Rahmenausleger fixiert ist. Eine solche Halbelliptikfederung an der Hinterachse findet sich laut Literatur (Bartels/Manthey: Opel Fahrzeugchronik Band 1, 2012, S. 55) erst am Opel 29/70 PS mit 7,5 Liter Vierzylinder von 1914!

So landet man am Ende zwingend beim Radhaus, wenn man beim Rathaus startet – aber eben nur, wenn man bereit ist, sich von dem leiten zu lassen, was an verborgenen Informationen auf diesen alten Fotos zu sehen ist.

Dass die Eindrücke gerade bei Kriegsfotos über das Erscheinungsbild des abgebildeten Autos hinausgehen, liegt in der Natur der Sache, weshalb man solche Dokumente auf die unterschiedlichste Weise zum Anlass für weiterführende Betrachtungen nehmen kann.

Für heute belasse ich es dabei, aber wer partout mehr vom Schauplatz sehen will, wird etwa hier sogar in bewegten Bildern fündig…

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Gelungene Restaurierung: Neues vom Peugeot 201

Konservieren oder Restaurieren – das ist bei erhaltenen Vorkriegsautos eine Frage, die immer wieder die Gemüter erhitzt. Ich meine, dass beide Ansätze ihre Berechtigung haben – je nach Ausgangszustand.

Ein unvollständiges oder vielleicht durch Unfall oder Feuer stark mitgenommenes Fahrzeug sollte im Regelfall wieder in den Ursprungszustand gebracht werden, so gut das möglich ist.

Dabei kann man durchaus versuchen, sich in einigen Bereichen der einstigen Optik anzunähern, in denen heutige Verfahren meist zu anderen Ergebnissen führen, die das Bild verfälschen. Mit Glück und Geduld lassen sich speziell für den Innenraum Stoffe und Leder auftreiben, deren Muster bzw. Oberflächenstruktur dem historischen Original nahekommen.

Auch ein neuer Kabelbaum lässt sich mit korrekter Optik (also stoffummantelt) wiederherstellen, und moderne Reifen sind mit historischem Profil verfügbar.

Im Motorraum muss nicht alles partout in Fabrikzustand gebracht werden, dort kann man durchaus einige Partien zur Dokumentation im dort oft noch erhaltenen Originalzustand belassen, etwa die Lackierung der Schottwand.

Dann gibt es aber Autos, die auf einzigartige Weise die Spuren ihres langen Lebens tragen, anhand derer sich ihre Geschichte erfahren und erzählen lässt. Mein Peugeot 202 „Pickup“ ist so ein Fall:

Peugeot 202 UH; Bildrechte: Michael Schlenger

Sein Leben begonnen hat das Fahrzeug als Armeefahrzeug, die mattgrüne Lackierung ist an einigen Stellen noch komplett erhalten (insbesondere im Innen- und Motorraum).

Später kaufte ein Bauer in der Champagne den Wagen, ließ ihm bei einem lokalen Schreiner einen Holzaufbau verpassen, von dem sich die Seitenwände erhalten haben. Den Boden musste ich erneuern lassen, da das Auto mit 400 kg Transportlast eingetragen ist.

Die vom neuen Besitzer aufgetragene Lackierung entsprach vom Grundton der Armeefarbe, glänzte aber etwas mehr. An vielen Stellen ist sie ausgeblichen, abgeblättert bzw. mit einem dritten Grünton „ausgebessert“ worden. Einige Jahre Aufenthalt unter einem nicht ganz dichten Dach haben zudem auf der Haube für Rostansatz gesorgt.

In diesem Zustand, mit vermutlich originalen 30 tkm Laufleistung erwarb ich das Fahrzeug vor rund 10 Jahren von einem sympathischen Vorbesitzer, welcher den Peugeot auf der Veterama gekauft hatte. Nach „Besichtigung“ in einer spärlich beleuchteten Tiefgarage kaufte ich das Auto, ohne auch nur den Motor laufen gehört zu haben.

Viel zu tun gab es auch nicht: Die Kompression war gut, der Tank sauber, alles funktionsfähig, wie sich herausstellte. Nur die hydraulischen Bremsen mussten überholt und neue Reifen aufgezogen werden – von Michelin in Originaloptik.

Irgendein passender Auspufftopf fand sich und kleine Löcher an der Schwellerpartie waren zu schweißen (nicht tragendes Blech, aber der TÜV bestand darauf…) – das war’s.

Mir ist noch keiner begegnet, der gesagt hätte, dass diese Zeitmaschine „ordentlich restauriert“ gehört. Es ist bei aller Patina ein veritables Schmuckstück, dessen Erhalt zwar Arbeit, aber auch glücklich macht – mich und andere:

Peugeot 202 UH beim Aero Club Bad Nauheim, 2017; Bildrechte: Michael Schlenger

Das war eine lange Vorrede, aber sie war notwendig – hätte ich sie sonst geschrieben? Wie immer geht es in meinem Blog bekanntlich vollkommen rational zu…

Und was läge näher, sich nach dieser Einführung nun dem Vorgänger meines Peugeot zu widmen – dem Typ 201 der frühen 1930er Jahre?

Auch wenn dieser formal völlig anders daherkam als der 1938 eingeführte 202, geht es nämlich wieder um die Frage: Konservieren oder Restaurieren?

Diesmal plädiere ich für eine solide Restaurierung, denn die Schönheit mancher Dinge ist mitunter durch den Zahn der Zeit, Missachtung und Verfall bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Manchmal genügt schon das ernüchternde Umfeld der sogenannten Moderne (faktisch ein 100 Jahre alter Hut), um einem die Freude an den attraktivsten Erscheinungen zu nehmen:

Peugeot 201; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Nein, das ist keine Fotomontage: Irgendein unbegabter oder bösartiger Mensch meinte in den 1930er Jahren, diesen Peugeot 201 mitsamt elegant gekleideter Dame partout an dieser Stelle und in diesem Moment ablichten zu müssen.

Die Einbeziehung eines Baumstamms im Vordergrund ist ja bereits eine reife Leistung. Aber die damals keineswegs mehr neue Bauhaus-Stapelarchitektur und der misanthropisch dreinblickende Herrn (könnte glatt der Architekt gewesen sein…) stellen einen Kontrast dar, der nicht ernsthaft beabsichtigt gewesen sein kann – oder doch?

Wie auch immer, heute kann ich genau so einen Peugeot in einer erbaulicheren Situation präsentieren, wenngleich sich das auf den ersten Blick nicht erschließen mag:

Peugeot 201; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wenn ich hier entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten den vergilbten Originalabzug zeige, dann nur damit deutlich wird, dass in solchen Fällen eine Restaurierung der reinen Konservierung des Zustands vorzuziehen ist.

Das gilt nicht nur für die Aufnahmesituation als solche, sondern auch für die arg schäbig wirkende historische Fassade im Hintergrund. Auf vielen Fotos der Zwischenkriegszeit sieht man die verbreitete Vernachlässigung von Bauten, die an sich gut für Jahrhunderte waren.

Die modernistische Ideologie hatte schon damals viel Schaden in den Köpfen angerichtet. Die Zeit der großen Wertschätzung und Restaurierung historischer Bausubstanz (wenn auch oft sehr freizügig) hatte mit der Zäsur des 1. Weltkriegs vorerst geendet.

So ist zu erklären, dass ich zwar dem Foto als solchem und dem Peugeot nebst seinen Insassen durch eine behutsame Restaurierung zumindest einen Teil der ursprünglichen Würde zurückgeben konnte, nicht aber dem Bau im Hintergrund:

Peugeot 201; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Immerhin macht der kleine Peugeot mit seinem 1,3 Liter-Vierzlinder (28 PS) im Erscheinungsbild von 1934/35 hier schon wieder ganz gute Figur. Nicht ausschließen möchte ich, dass es auch ein Typ 301 war, der praktisch genauso aussah.

Gut gefallen mir die beiden Paare vor dem Wagen – sie scheinen bestens aufgelegt zu sein. Vielleicht ist ihre Heiterkeit auch dem vorherigen Genuss eines tüchtigen Elsässer Riesling zu verdanken, den es gleich um die Ecke gab.

Woher ich das weiß? Nun, auf der Rückseite des Abzugs steht der Schlüssel: „Andlau“.

Wer sich ein wenig im Elsaß auskennt – etwa weil er jährlich zum famosen Teilemarkt in Lipsheim südlich von Straßburg pilgert – wird die liebliche Weinbaugegend am Ostrand der Vogesen kennen, wo der im frühen Mittelalter gegründete Ort liegt.

Wie allgemein im Elsaß ist die historische Architektur von Andlau längst auf’s Schönste herausgeputzt. Im Speckgürtel von Frankfurt/Main ist so etwas die absolute Ausnahme, wie ich als Bewohner der an sich ebenso lieblichen Wetterau nur zu gut weiß.

Es bedurfte keiner langwierigen Recherchen, um die Stelle ausfindig zu machen, an der sich vor bald 90 Jahren unsere gut gelaunte Gesellschaft mit ihrem Peugeot ablichten ließ.

Auf dem Marktplatz war das, den das klassisch-schöne Rathaus beherrscht (so was können die Schukasterlbauer unserer Tage leider nicht mehr bzw. sie wollen es nicht). In der Mitte der hübsche Sandsteinbrunnen, der an die Gründungslegende des Städtchens erinnert:

Andlau im Elsaß; Bildquelle: Wikimedia

Den grausigen gelben Wagen ganz rechts kann ich Ihnen leider nicht ersparen – wer kauft so etwas eigentlich? – denn dahinter ist die Fassade des Wohnhauses zu sehen, vor dem einst der Peugeot zum Fotohalt abgestellt worden war.

Hier hat sich die Restaurierung gelohnt, meine ich.

Nebenbei sind diese historischen Bauten so „nachhaltig“ wie es überhaupt nur geht. Sie stiften dauerhaften Nutzen und anhaltende Freude über Generationen und Jahrhunderte hinweg. Ihr Erhalt – sei es durch Konservierung oder Restaurierung – schafft Identität, nicht die überall gleichen Funktionskisten der Moderne…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 von 280: Stoewer Typ M12 „Marschall“

„Mer muss och jünne künne“ sagt der Kölner Volksmund. Als Angehöriger der Übersetzer-Profession und Hochdeutsch-Experte kann ich Ihnen versichern, dass sich dahinter nichts Fragwürdiges verbirgt wie hinter manch anderer Kölscher Weisheit.

Vielmehr wird hier im Dialekt der alten Colonia am Rhein etwas gesagt, was hierzulande eher selten ist und was ich entschieden vertrete: „Man sollte seinen Mitmenschen neidlos gönnen, was ihnen Gutes widerfährt oder was sie besitzen“.

Mich freut es, wenn jemand eines der berüchtigten „leistungslosen“ Einkommen bezieht – etwa weil er im Lotto gewonnen, unverhofft ein Vermögen geerbt oder mit seinen Aktienanlagen unverschämtes Glück gehabt hat.

Mir ist noch keiner begegnet, der solche „windfall profits“ – wie der Engländer sagt – empört ausschlagen und dem gefräßigen Staat abtreten würde. Umgekehrt ist es für mich ein Gebot der Fairness und eine Stilfrage, großzügig mit dem Glück zu verfahren, das einem selbst widerfährt, und andere daran teilhaben zu lassen.

Wenn Sie in meinem Blog mitlesen, dessen Erstellung mich einen vierstelligen Betrag pro Jahr kostet (inkl. Fotokäufen, aber ohne Arbeitszeit), dann weil es mir Vergnügen bereitet, diesen Spleen mit anderen teilen zu können und weil es der in unseren Tagen naheliegenden Verbiesterung entgegenwirkt, sich mit schönen Dingen zu beschäftigen.

So kommen Sie heute wieder einmal in den Genuss, etwas ziemlich Exklusives vorgeführt zu bekommen – und ich profitiere dabei einmal wieder von der Großzügigkeit anderer, die ihre Schätze ebenfalls mit uns Verrückten teilen.

Na, was sagen Sie hierzu?

Stoewer M12 „Marschall“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ähm, ja. Ein typischer Backsteinbau des 19. Jh., prinzipiell unkaputtbar (solange die Royal Air Force danebenlag) und selbst bei Funktionsgebäuden von einer gestalterischen Qualität, die sich mit über Jahrhunderten gewachsenen historischen Stadtbildern verträgt.

Irgendein öffentlicher Bau dürfte das gewesen sein, eine Schule, ein Amt, eventuell auch ein Hospital. Budget- oder Bauzeitüberschreitungen waren dabei seinerzeit die Ausnahme.

Von mir aus könnte man sich heute noch an einem der Baustile orientieren, die es in den letzten 2.500 Jahren in Europa gab; nach 100 Jahren Bauhaus ist das immergleiche Betonkartonschema doch auch von gestern – warum keine Neuauflage des Jugendstils?

Egal, wir haben heute etwas anderes im Blick, nämlich das auf den ersten Blick unscheinbar wirkende Cabriolet auf obigem Foto. Der Wagen wirkt aufgrund der großzügigen Proportionen des Baus im Hintergrund unverdient kompakt.

Wir nähern uns dem Auto mit den waagerechten Luftschlitzen in der Motorhaube und haben bereits den Verdacht, dass es sich um eines der Achtzylindermodelle von Stoewer aus Stettin handeln könnten, denn die Kühlerfigur scheint ein Greif zu sein:

Verflixt, das kann doch nicht sein, dass solch ein großer Wagen hier so harmlos wirkt. Vielleicht war der Bau im Hintergrund doch eher eine Fabrik mit extrahohen Fenstern, um ganzjährig viel Licht hineinzulassen. Leider fehlt hier der menschliche Maßstab.

Dennoch haben wir allen Grund elektrisiert zu sein. Das ist einer der legendären Stoewer-Achtzylinder, wie er Ende der 1920er Jahre gebaut wurde.

Die unter chronischer Kapitalknappheit leidender Manufaktur hatte sich ab 1928 binnen kürzester Zeit in eine Kunst eingearbeitet, in der Marktführer Horch ab Mitte der 1920er Jahre Millionen versenkt hatte. Mercedes verschlief den Trend unterdessen erst einmal.

Hier haben wir beispielsweise ein Exemplar des 80 PS starken Stoewer Achtzylindertyp G15, von dem 1928/29 rund 650 Stück entstanden.

Stoewer G15; Originalfoto aus Sammlung eines Lesers

Man erkennt die Ähnlichkeit der Kühlerpartie und auch die horizontalen Haubenschlitze, ebenso den Greif als Kühlerfigur.

Aber die Scheinwerferstange ist hier waagerecht ausgeführt, bei dem eingangs gezeigten Wagen ist sie nach oben gebogen. Außerdem reichten die Luftschlitze in der Motorhaube dort weiter nach oben.

Was ist davon zu halten? Nun, einfach dass wir heute unverschämtes Glück haben, denn offenbar ist uns einer der nur 280mal gebauten Stoewer-Achtzylinder des Typs M12 „Marschall“ ins Netz gegangen, den es nur 1930 gab.

Dieser 60 PS-Wagen wurde neben einem 100 PS leistenden und längeren Schwestermodell angeboten, von dem bloß rund 25 Stück entstanden. Da wir es mit einem zweitürigen Cabriolet zu tun haben, plädiere ich im vorliegenden Fall für die schwächere Version.

Ja, ist ja schön und gut, aber irgendwie wirkt das Auto immer noch nicht ganz so großartig, wie es die Bezeichnung „Marschall“ erwarten lässt. Keine Sorge, Ihnen wird gleich geholfen.

Denn nicht nur ich, auch einige geschätzte Sammerkollegen, deren Funde ich hier immer wieder präsentieren darf, hängen dem Grundsatz nach: „Man muss auch gönnen können“.

Diesmal ist es so gemeint, dass man nicht ängstlich auf seinen Schätzen hocken sollte, auch wenn man sie redlich und gegen wohlverdienten Zaster erworben hat. Das Leben ist kurz, und früher oder später landet aller Besitz bei lachenden Dritten oder auf dem Müll.

Also raus aus den Archiven mit den Zeugen von einst, so lange diese noch Bewunderung, Staunen oder Leidenschaft wecken. Das ist meine Philosophie, um den überstrapazierten Begriff zu bemühen, und ich bin offenbar nicht allein damit:

Stoewer M12 „Marschall“ Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

So sah er also aus – ohne Gründerzeit-Riesenbau im Hintergrund und in sommerlich freundlicher Farbgebung – der Stoewer M12 „Marschall“ als grandioses zweitüriges Cabriolet, hier mit Zulassung Berlin statt Bochum wie oben.

2 von 280 Stoewer dieses Typs kennen Sie jetzt schon, keine schlechte Quote würde ich sagen. Das lässt sich aber noch verbessern. Denn so wie Leser Klaas Dierks uns hier Einblick in sein Archiv gibt, können das auch andere tun.

„Man muss auch gönnen können“, ein gutes Motto und Rezept gegen Missgunst, nicht nur wenn es um Fotos von Vorkriegsautos geht…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Mittendrin, statt nur dabei: Ein Bellanger Frères

Heute war ich wie jede Woche in Bad Nauheim auf der Post – ein Bau von erlesener 70er Jahre-Grausamkeit – und warf einen Blick in mein geschäftliches Postfach.

Wie üblich fand ich dort auch den Großteil der an meine Privatadresse gerichteten Sendungen vor – man ist bei dieser Behörde trotz mehrfacher Intervention nicht imstande, nur entsprechend Adressiertes ins Postfach einzulegen – und alles andere direkt zuzustellen.

Aber gut, man gewöhnt sich auch hier an den Verfall des Niveaus und so fahre ich einmal pro Woche „in die Stadt“ – im Sommer mit der E-Vespa, ansonsten mit dem bösen Verbrenner.

Zu meiner Freude fand heute ich im Postfach bereits die Januar-Ausgabe von „The Automobile“ vor, meinem in Großbritannien produzierten Lieblings-Altauto-Magazin.

In die Runde gefragt: Liest das außer mir eigentlich jemand hierzulande? Immerhin geht es in der aktuellen Ausgabe um Schätze wie einen französischen Stromlinienwagen von Dubonnet, Sonderkarosserien von Sodomka aus Tschechien und einen britischen Invicta.

Gibt es eine vergleichbare Publikation auf dem Kontinent? Rhetorische Frage, Antwort: nein. Unter anderem deshalb habe ich 2015 diesen Blog begonnen, weil es ein Witz ist, was im Mutterland des Autos zu Vorkriegswagen gedruckt (und online) publiziert wird.

Hier bekommen die alten Kisten und die tausenden von Marken, die an der Erfolgsgeschichte des Automobils mitgewirkt haben, zumindest annähernd die Bühne, die sie verdienen.

Das ist aber nur virtuell in so einem Blog mit alten Bildern und ein bisserl Text, mag jetzt einer sagen. Warten Sie’s ab, heute sind sie mitten drin im Geschehen, statt nur im Netz dabei!

Um ans Ziel zu gelangen, lassen wir uns zunächst von diesen feinen Damen zu einer Fahrt zurück in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg entführen: „Aimeriez-vous nous accompagner? – Mögen Sie uns begleiten?“ fragen sie:

Delaunay-Belleville um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer würde da „Non merci, mesdames, nous préférons le train“ – „Nein danke, die Damen, wir nehmen lieber die Bahn“ antworten?

Also vertrauen wir uns den beiden an und lassen uns in ihrem Delaunay-Belleville kutschieren, so einen Wagen nennen sie ihr eigen.

Das soll uns aber nur ganz am Rande interessieren, und schon beim nächsten Händler dieser Marke lassen wir uns unter dem Vorwand, selbst so ein leistungsfähiges 6-Zylinder-Gefährt mit seidenweichem Gang erwerben zu wollen, absetzen.

Dort empfängt uns der Leiter der örtlichen Niederlassung, Robert Bellanger. Mit ihm haben wir nämlich heute eine Verabredung. Monsieur Bellanger hat in seinem Unternehmerdasein schon einige Firmen vertreten, darunter Westinghouse aus den USA.

1912, vor 110 Jahren, beschließt er, etwas Neues auf die Beine zu stellen. Mit seinen Brüdern gründet er die Société Automobiles Bellanger Frères mit Sitz in Neuilly sur Seine bei Paris.

Dort lässt er hochwertige Automobile mit Daimler-Motoren nach Knight-Patent fertigen. Diese ventillosen, hülsengesteuerten Aggregate galten als Nonplusultra des geräuschlosen Laufs, waren allerdings auch anspruchsvoll, was Wartung und Ölverbrauch betrifft.

Ein noch vor dem 1. Weltkrieg entstandenes Exemplar konnte ich vor einigen Jahren meiner Sammlung einverleiben – in Form dieses im Original stark mitgenommenen Abzugs:

Bellanger Frères Tourenwagen um 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Gasscheinwerfer und die Gestaltung der Vorderkotflügel deuten auf ein Vorkriegsmodell hin – wobei die Motorisierung offenbleiben muss. Die frühen Bellanger-Wagen waren mit Hubräumen von 2 bis über 6 LItern Hubraum erhältlich und scheinen sich – von den Dimensionen abgesehen – äußerlich kaum unterschieden zu haben.

Aus irgendwelchen Gründen – entweder weil sie sonst nicht absetzbar waren oder weil sie als besonders zuverlässig galten – kamen vor allem die kleinvolumigen Wagen der Marke in Paris als Taxis zum Einsatz.

Wir stürzen uns furchtlos in Getümmel der Großstadt – auf den Boulevard des Poissonières mitten in Paris – und schauen, ob wir eines Exemplars davon ansichtig werden. Tatsächlich, ganz vorne links fährt doch tatsächlich ein Bellanger Landaluet durchs Bild:

Bellanger Frères Taxi in Paris um 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das komplette Foto mit eingehender Besprechung der atemberaubenden Szenerie finden Sie übrigens in meinem Blog hier.

Nun mag man das alles unbefriedigend ansehen, denn wer – außer mir – sagt denn, dass diese Mobile mit ihrem auffallend abgerundetem Kühler wirklich Wagen der Marke Bellanger waren – schließlich ist der Schriftzug auf dem rautenförmigen Emblem nicht lesbar.

Auch zeitgenössische Reklamen sind diesbezüglich nicht immer aussagefähig. Die folgende beispielsweise zeigt einen Bellanger des ab 1919 gebauten Typs 15/17 HP nur aus der Seitenansicht wieder, noch dazu reichlich stilisiert:

Bellanger Frères Reklame ab 1919; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Bellanger ging nach dem 1. Weltkrieg dazu über, statt der Hülsenschiebermotoren nach „Knight“-Patent zugekaufte Aggregate konventioneller Bauart (Seitenventiler) von Briscoe zu verbauen.

Dieses US-Unternehmen verfügte damals in direkter Nachbarschaft zu Bellanger über eine Fabrikation in Paris, so mag die Kooperation zustandegekommen sein.

Wie es scheint, stellten die 17 HP-Motoren mit vier Zylindern und 3,2 Litern Hubraum damals den Standardantrieb der Bellanger-Wagen dar. Nicht ganz klar ist, ob Briscoe auch die parallel erhältlichen Motoren mit Spezifikation 24/30 PS (4,2 Liter) und 35/50 PS (6,3 Liter) zulieferte, manche Quellen sprechen hier von Eigenentwicklungen.

Jedenfalls dominieren die zeitgenössischen Reklamen für das 17 PS-Modell A1, hier eine aus dem Jahr 1920:

Bellanger Frères Reklame aus der Zeitschrift L’Illustration, 1920; Sammlung Michael Schlenger

Alles, was in dieser Annonce an Meriten des Wagens aufgezählt wurde, war kurz nach dem 1. Weltkrieg vollkommen konventionell, zumindest ab der Mittelklasse.

Der auffallende Akzent auf der gehobenen Ausstattung im Innenraum mag widerspiegeln, dass man wusste, dass das Auto im Wettbewerb sonst keinerlei Vorteile aufwies.

Wohl gelang es der Marke noch eine Zeitlang vom alten Nimbus als luxuriöser Hersteller zu zehren, doch im Lauf der 1920er Jahre war der Stern klar am Sinken, zumal man keine Anstrengungen unternahm, mit den zeitgenössischen Entwicklungen mitzuhalten.

Um 1925 scheint Bellanger keine Rolle mehr gespielt zu haben, wenngleich man 1928 einen kurzen und erfolglosen Versuch unternahm, Wagen der ebenfalls in die Jahre gekommenen Marke DeDion als Bellanger zu vermarkten.

Spätestens Anfang der 1930er Jahre hört man nichts mehr von Bellanger, das Werk in Neuilly-sur-Seine war inzwischen von Peugeot gekauft und dann von Rosengart übernommen worden.

Und wir? Wollten wir nicht mittendrin in dieser Geschichte sein, statt nur dabei? Richtig, und genau dieses Erlebnis kann ich Ihnen zum Schluss bieten.

Denn hier geht es mitten in die 1920er Jahre, direkt ins Publikum bei einer sonst nicht näher bekannten Veranstaltung – und was kommt uns da entgegen?

Bellanger Frères um 1925; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

„Das ist ein Bellanger!“ wird jetzt auch der ausrufen, der vor einer halben Stunde noch nie von dieser französischen Marke gehört hat.

Genau so ist es, hier lernt man quasi in Echtzeit dazu – ich übrigens auch – während man diese alten Fotos Revue passieren lässt, gemeinsam mit Gleichgesinnten recherchiert und sich mehr oder weniger fundierte Gedanken dazu macht.

Und so gelangt man am Ende auch zu einem klaren Bild, was das Markenemblem von Bellanger Frères angeht. Mitten drin sein im Geschehen, statt nur als Zaungast dabei, das ist die Voraussetzung für solche Einblicke!

Bei der Gelegenheit erlaube ich mir ein persönliches Gedenken an den britischen Automobilhistoriker Michael Worthington-Williams, der mir 2016 anhand meines weiter oben gezeigten Fotos eines Bellanger-Tourenwagens um 1913 die Augen für diese Marke öffnete.

Er ist 2022 von uns gegangen und hinterlässt nicht nur bei mir eine schmerzhafte Lücke – RIP.

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Für’ne Bratwurst nach Nürnberg: Ein FN um 1912

Böse Zungen behaupten, dass man in Deutschland mit einer kostenlosen Bratwurst viele Leute zu allem Möglichen bringen kann. Dem Hörensagen nach soll man damit Menschen sogar dazu motiviert haben, sich unerprobte Impfstoffe fragwürdiger Wirkung verabreichen zu lassen.

Dass erscheint mir allerdings so unglaublich, dass ich es mir nicht vorstellen will. Schon für eher wahrscheinlich halte ich es dagegen, dass einst ein Auto aus Belgien für eine Bratwurst nach Nürnberg kam. Ich kann sogar ein Foto als Beleg dafür vorweisen.

Dabei dürfte allerdings weniger der im Ausland legendäre Ruf deutscher „Spezialitäten“ der Auslöser gewesen sein. Auch war es gewiss kein Belgier, der für eine Nürnberger Bratwurst den weiten Weg auf sich genommen hat.

Das wäre sogar schon zu einer Zeit abwegig gewesen, als Belgien noch nicht im Zuge zweier deutscher Feldzüge gegen Frankreich gründlich verheert worden war. Wir reisen nämlich heute in die Zeit direkt vor dem 1. Weltkrieg zurück.

Damals scheint das Verhältnis noch unbelastet gewesen zu sein, jedenfalls was den Austausch automobiler Expertise angeht. Die belgische Autoindustrie war ähnlich weit entwickelt und vielschichtig wie die in Frankreich.

Deutsche Konstrukteure arbeiteten damals für belgische Firmen und diese wiederum befruchteten Hersteller hierzulande mit Ideen und Lizenzen. Zu den Autobauern aus Belgien, die in Deutschland eine gewisse Marktposition erlangten, gehörte neben Metallurgique und Minerva die Firma FN aus Herstal – eigentlich ein Waffenhersteller.

Selbst nach dem 1. Weltkrieg fanden FN-Wagen noch Käufer in deutschen Landen (etwa dieser und dieser). Das früheste Beispiel in meiner Fotosammlung ist indessen dieses:

FN-Tourenwagen (vermutlich Typ 1600) von ca. 1912/13

Dass es sich bei diesem Tourer um einen FN handelt, das verrät die Kühlergestaltung mit fünf horizontalen Streben, rundem Markenemblem und großem kronenförmigen Kühlerverschluss (hier nur schemenhaft zu erkennen).

Den Dimensionen nach dürfte es sich um eines der ab 1908 gebauten leichten Modelle gehandelt haben, die für damalige Verhältnisse sehr kompakte Vierzylindermotoren besaßen.

Von 1,4 Liter wuchs der Hubraum bis 1913 auf 1,6 Liter. Die Konstruktion änderte sich in diesem Zeitraum kaum, es blieb bei einem Aufbau aus zwei Blöcken zu je zwei Zylindern.

Allerdings spendierte man der letzten vor dem 1. Weltkrieg entstandenen Ausbaustufe ein Vierganggetriebe und der zuvor hinter der Motorraum befindliche Tank wanderte ins Heck.

Mit so einem Modell 1600 von 1912/13 haben wir es hier aus meiner Sicht zu tun, wobei ich den direkten Vorgängertyp 1560 von 1911 nicht ganz ausschließen würde.

Solche leichten FN-Wagen wurden gern als sportlich aussehende Zweisitzer gekauft, aber Tourer waren ebenfalls erhältlich. Eine Höchstgeschwindigkeit von über 70 km/h wird ihnen ebenso zugeschrieben wie ein relativ elastischer Motor und gut wirkende Bremsen (Quelle).

FN-Automobile wurden international exportiert, noch heute finden sich Exemplare in Großbritannien oder Neuseeland beispielsweise. Es gab sie aber auch in Deutschland, wenngleich hier keiner überlebt zu haben scheint.

So müssen wir uns mit dieser Ansichtskarte aus Nürnberg begnügen, die es mitsamt abgelichtetem FN-Tourer bis in die Gegenwart geschafft hat:

Ansichtskarte aus Nürnberg von ca. 1913; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Tatsächlich hatte der FN hier an einer traditionsreichen Bratwurstgaststätte haltgemacht – welche den kuriosen Namen „Bratwurstglöcklein“ trug.

Die Örtlichkeit lässt sich bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen. Angelehnt war das Häuschen mit der Braterei an die gotische Moritzkapelle. So sah das vielerorts aus, bevor man im 19. Jahrhundert die Kirchenbauten von solchen Anhängseln befreite.

Das Bratwurstglöcklein indessen verschonte man, es galt als erhaltenswertes Traditionslokal. Keine solchen Rücksichten nahmen freilich die Alliierten, die in zahlreichen Bombenangriffen bis 1945 die einzigartig erhaltene Altstadt Nürnbergs vernichteten.

Die durch Sprengbomben zerstörte Moritzkapelle gehörte nicht zu den Bauten, die man nach Kriegsende wiedererrichtete (oft in vereinfachter Form, aber besser als alles, was man andernorts in den 1950/60er Jahren verbrach – Ausnahme: München).

Nun könnte man meinen, dass das Zerstörungswerk in Nürnberg bloß dem entsprach, was beispielsweise in Belgien von deutschen Truppen angerichtet worden war (siehe mein Blog-Eintrag hier). Gewiss, aber das rechtfertigt doch den Massenmord an wehrlosen Zivilisten und die Zerstörung kulturellen Erbes an anderer Stelle nicht, oder?

Verbrechen bleibt Verbrechen – auf allen Seiten. Das nüchtern festzustellen, ist ein Gebot der Redlichkeit – gerade mit dem nötigen historischen Abstand – wenn man in Europa gemeinsam und unbelastet prosperieren möchte, wie das vor dem 1. Weltkrieg immerhin ein paar Jahrzehnte der Fall war.

Daran mahnt dieses so friedlich und beschaulich anmutende Foto eines FN an einem Ort, wie einmal so typisch deutsch war, wie man sich das nur vorstellen kann.

Der Besitzer des Wagens stammte übrigens dem Nummernschild nach zu urteilen selbst aus Nürnberg. Das dürfte erklären, weshalb er ausgerechnet hier seinen FN abgestellt hatte. Vermutlich saß er zum Aufnahmezeitpunkt draußen am Tisch – für’ne Bratwurst…

Nachtrag: Andrew Brand aus Melbourne (Australien) – selbst ein FN-Sammler – schrieb mir, dass es sich um einen FN des Typs 2100 handelt. Die Wagen der Serien 1400, 1500, 1560 und 1600 hatten alle 10-Speichen-Hinterräder. Der in Nürnberg abgelichtete FN hat jedoch 12-Speichen-Hinterräder und man sieht durch die Speichen reichende Bolzen zur Befestigung der Bremstrommel. Nur der Typ 2100 wies dieses Detail auf.

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

„Nichts entgeht meinem Auge“: Ein Diatto Tipo 20

Der Titel meines heutigen Blog-Eintrags ist bewusst in Anführungszeichen gesetzt. Es soll nicht der Eindruck entstehen, ich meinte damit mich selbst – jedenfalls nicht in dieser Absolutheit.

Natürlich entgeht meinem Auge eine ganze Menge, was die Interpretation der alten Autofotos angeht, die ich hier mit dem Enthusiasmus und begrenztem Wissen des Dilettanten präsentiere.

Was ich übersehe oder auch falsch sehe, das korrigieren Leser, die es besser wissen oder eben nicht übersehen haben. Dennoch habe ich den Anspruch, nicht nur das Offensichtliche zu beschreiben, sondern auch das vermeintlich Nebensächliche ins Licht zu rücken.

Es kann eine Person am Bildrand oder ein modisches Detail, ein Gebäude im Hintergrund oder eine Landschaft sein, was mir ins Auge fällt und mich zu dem einen oder anderen Gedanken und Urteil veranlasst.

Zwar stehen die Automobile von einst im Mittelpunkt, aber mich interessiert prinzipiell auch alles übrige, was zusammen damit abgelichtet wurde.

Heute haben wir den Fall, dass es die Rückseite einer alten Aufnahme ist, die mich beinahe mehr beschäftigt hat als das Auto, welches auf der Vorderseite zu sehen ist.

Dort wird uns der Titel des heutigen Blog-Eintrags begegnen – und sich als abgewandeltes Zitat erweisen, auch deshalb die Anführungszeichen. Doch beginnen wir von vorn:

Diatto Tipo 20; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese eindrucksvolle Aufnahme voller Leben zeigt unübersehbar einen Diatto-Sportwagen, vermutlich nach erfolgreichem Einsatz, vielleicht aber auch davor.

Wäre da nicht die „Diatto“-Kühlerplakette, könnte man den Wagen glatt für ein Modell von Fiat aus der Mitte der 1920er Jahre handeln. Tatsächlich finden sich die klassischen Konturen des Kühlers, die sich im Profil der Motorhaube und des Windlaufs bis zur Frontscheibe fortsetzen, bei einigen italienischen Automarken jener Zeit.

Welche davon als erste davon Gebrauch machte, kann ich ad hoc nicht sagen – das wäre eine eigene Betrachtung wert.

Die Turiner Firma Diatto war 1905/06 in den Automobilbau eingestiegen und baute zunächst Wagen nach Lizenz des französischen Herstellers Clement-Bayard. Später ging man zu eigenen Konstruktionen über. Nach dem 1. Welkrieg versuchte man es aber nochmals mit einer Lizenzfertigung – und zwar von Bugatti. Die Gestaltung der Diatto-Plakette erinnert daran.

Der Versuch, mit Fiat im Kleinwagensegment zu konkurrieren, musste dagegen scheitern – den riesigen Skalenvorteilen, die man ab 1919 nach US-Vorbild beim Fiat 501 ausnutzte, hatte auf dem europäischen Kontinent niemand etwas entgegenzusetzen.

Bei Diatto war man schlau genug, sich auf die 2-Liter-Klasse zu konzentrieren und dort mit feinem Motorenbau zu überzeugen. Der ab etwa 1922 gebaute Tipo 20 verfügte über einen Motor mit obenliegender Nockenwelle und leistete 40-45 PS.

Das war zu einer Zeit, in der die hierzulande dominierenden Seitenventiler in dieser Hubraumklasse gerade einmal die Hälfte der Leistung aufwiesen. Inwieweit Diatto mit seinem drehfreudigen Tipo 20 sportliche Lorbeeren einheimste, soll heute nicht das Thema sein.

Jedenfalls scheint es sich bei dem Wagen auf meinem Foto um einen solchen Diatto gehandelt zu haben, der an einer Sportveranstaltung teilnahm. Wenn ich es richtig verstanden habe, waren damals übrigens die Gebrüder Maserati für die Werkssportwagen von Diatto zuständig – ihre eigene spätere Autofertigung resultierte aus dieser Tätigkeit.

Leider konnte ich bislang nicht herausfinden, wo genau das Foto entstand, obwohl von der Umgebung genügend abgelichtet wurde. Ich hatte erst Turin im Verdacht – nebenbei eine absolut sehenswerte Residenzstadt – aber das bestätigte sich nicht:

Diatto Tipo 20; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Vermutlich handelt es sich um eine mittelgroße Stadt in Oberitalien – aber welche?

Ich muss zugeben, auch als großer Italienfreund stets an den hochbedeutenden Städten jener Region nur vorbeigefahren zu sein (Ausnahme: Cremona), weil es mich nach Süden zog.

Sicher ist aber eines, und nun verlassen wir die Sphäre des Automobils, dieses Foto wurde einst von professioneller Hand angefertigt – und zwar von einem Bildreporter namens Ottolenghi aus Turin (Profil).

„Nichts entgeht meinem Objektiv“ – das war sein Motto und bekanntlich ist das Kameraobjektiv das Auge des Fotografen.

So ist es auf Italienisch auf der Rückseite des Abzugs zu lesen, wo sich außerdem die damals völlig neue englische Berufsbezeichnung „Photo Reporter“ findet:

Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Herr Ottolenghi mit seinem selbstbewussten, aber lebensklugen Motto war mir spontan sympathisch – so wollte ich mehr über ihn erfahren.

Das gelang mir auch – wobei sich wieder einmal bestätigte, dass die Beschäftigung mit Vorkriegswagen immer auch ein Rendezvous mit der wechselhaften Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist.

Bei der Recherche nach Ottolenghi in Turin stieß ich auf allein vier jüdischstämmige Bürger dieses Namens, die gegen Ende des 2. Weltkriegs dem Vernichtungsfuror der Nationalsozialisten und ihrer zahlreichen Helfer zum Opfer fielen (hier).

Weit davon entfernt, etwas wie Kollektivschuld oder gar eine Erbschuld der Nachgeborenen herbeizuphantasieren, ist dieser Teil unserer Geschichte immer wieder verstörend.

Auch in Italien kommt man nicht daran vorbei – wie oft bin ich an den friedlichsten Orten mit deutschen Massakern unter Zivilisten im 2. Weltkrieg konfrontiert worden – meist Reaktion auf Attentate sogenannter Widerstandskämpfer, aber das macht die Sache nicht besser.

Heute geht die Sache allerdings glimpflich aus, denn unser Fotograf, der übrigens Silvio Ottolenghi hieß und 1886 in Pisa geboren worden war, kam mit dem Leben davon.

Zwar wurde auch er im Februar 1945 von deutschen Häschern verhaftet, aber im Unterschied zu seinem Sohn Felice (eine bittere Ironie…), der bereits 1944 in Auschwitz umgebracht worden war, blieb er verschont und lebte noch bis 1953 in Turin (Quelle).

Mit diesem Wissen sieht man ein solches Foto ganz anders.

Wir betrachten es noch heute durch das Objektiv – und damit das Auge – des Fotografen von damals und können uns so für den Moment in ihn hinein versetzen, als er einst um die Mitte der 1920er Jahre diesen Augenblick für Zeitgenossen und Nachgeborene festhielt.

„Nichts entgeht meinem Auge“ – das ist in Abwandlung des Wahlspruchs von Silvio Ottolenghi ein Motto, das man nicht nur mit Blick auf Vorkriegswagen auf alten Fotos beherzigen sollte – auch wenn es eher Ziel als Feststellung bleiben dürfte…

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.