Bote einer neuen Zeit: Opel Tourer von 1910

Ich bin ein wenig in Eile heute abend – eigentlich wollte ich dem Blog wieder mehr Zeit widmen. An Material und Ideen mangelt es wahrlich nicht.

Doch dann sah ich in der Dämmerung den Igel, der seit letztem Jahr im Garten lebt, wie er sich auf Nahrungssuche auf die Straße hinaus gewagt hatte. Schnell ein Kehrblech hervorgeholt, den stachligen Kerl draufgehoben und zurück dorthin gebracht, wo er schon im letzten Herbst mit Futter für den Winter versorgt wurde.

Es brauchte eine Weile, bis er Mut fasste und sich auf das Angebot einließ. Anschließend scheint er wieder in den Garten zurückgekehrt zu sein, wo reichlich altes Laub unter dem prächtigen Maronenbaum Unterschlupf bietet.

Nun hoffe ich, dass ich wieder allabendlich am Klappern der Schalen vor der Tür zum Garten erkenne, dass es sich der Igel schmecken lässt. Auch wenn es heute noch einmal spätsommerlich mild war, steht doch unweigerlich die kalte Jahreszeit bevor.

So kam mir der Igel heute wie der Bote einer neuen Zeit vor, die nicht gerade zu meinen Favoriten gehört – von mir aus kann es das ganze Jahr über warm und sonnig sein.

Doch kann der Anbruch einer neuen Zeit auch seine Reize haben, jedenfalls wenn sich diese so behutsam andeutet wie auf dem alten Autofoto, das ich heute präsentiere:

Opel Chauffeurlimousine ab 1910; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ziemlich beeindruckend und beinahe ein wenig unheimlich erscheint das antike Automobil hier, während es von acht Personen umlagert ist, die teils noch wie aus dem 19. Jh wirken.

Tatsächlich hatten die Porträtierten auf der linken Seite den überwiegenden Teil ihres Lebens noch im 19. Jahrhundert zugebracht, als diese Aufnahme entstand.

Vor allem für sie, die noch das Kutschenzeitalter erlebt hatten, war dieses Fahrzeug Bote einer neuen Zeit. Doch auch den jüngeren drei Personen rechts davon muss das Auto ziemlich modern vorgekommen sein.

Der Grund dafür ist auf der Aufnahme sehr gut zu erkennen:

Die Gestaltung des Kühlers und die Form des Markenemblems sind typisch für Opel-Automobile vor dem 1. Weltkrieg, welche damals das gesamte Spektrum vom leichten Doktorwagen bis zur starken Limousine wie hier abdeckten.

Das Fahrzeug war dem Kennzeichen nach zu urteilen in Waiblingen bei Stuttgart zugelassen und war dort sicher eines der ersten Automobile überhaupt. Noch 1912 reichte der Nummernkreis in Waiblingen gerade einmal von 301 bis 400 (Quelle: Andreas Herzfeld, Handbuch Deutsche Kfz-Kennzeichen, Band 1, S. 117).

Bote einer neuen Zeit war dieser Opel auch deshalb, weil er mit dem 1910 bei deutschen Serienwagen eingeführten „Windlauf“ ausgestattet war – ein dem Sport entliehenes strömungsgünstiges Blech, das von der Motorhaube zur Windschutzscheibe überleitete.

Hier wirkt besagter Windlauf noch wie nachträglich aufgesetzt und so mag es sich tatsächlich verhalten haben, sofern der Besitzer des Wagens diesen ebenfalls als Bote einer neuen Zeit erscheinen lassen wollte.

In die Zukunft weist auch das Erscheinungsbild der beiden Damen rechts von dem Opel, die für die Zeit vor 1914 bemerkenswert leger wirken. Im Halbschatten neben ihnen ist der Chauffeur zu erkennen – damals noch Vertreter einer hoch angesehenen Zunft, der jedoch nach dem 1. Weltkrieg keine große Zukunft mehr beschieden war.

So mahnt uns diese Aufnahme daran, dass nichts bleibt, wie es ist – außer den Dingen, an denen wir entschlossen festhalten, weil wir ohne sie nicht sein wollen.

Tatsächlich müssen wir nicht jeden Boten der Moderne unterschiedslos willkommen heißen, auch wenn der Zeitgeist anderes behauptet. Wir sollten uns schon darüber im Klaren sein, wo wir klare Grenzen ziehen müssen, um uns und unsere mühsam und unter Opfern erarbeiteten Werte nicht selbst zu verlieren.

Im dem heute vorgestellten Foto wirft die ungeheure Zäsur des 1. Weltkrieg bereits ihre Schatten voraus – die darauf versammelten Personen hätten sicher gern auf die große Transformation verzichtet, welche den Völkern Europas danach verordnet wurde…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

4 Gedanken zu „Bote einer neuen Zeit: Opel Tourer von 1910

  1. Herr Weigold, Sie haben völlig recht. Wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat, sagen uns diese Autofotos unendlich viel mehr. Meine Leser können dazu beitragen, wie Sie und andere das immer wieder tun. Die „alten“ Blog-Einträge sind technisch immer aktuell und kommentierbar – wer etwas dazu beizutragen hat, ist hochwillkommen. Ich kann selbst nicht alles leisten, verstehe mich eher als Verführer, Unterhalter, Stichwortgeber. Was ich nicht weiß oder übersehe, das mögen andere beleuchten, ich schalte alle konstruktiven Kommentare frei.

  2. Der Beitrag von Gerd Klioba zeigt an dem Beispiel des historischen Opel „Kapitän“ in Waiblingen und dem ihn umgebenden Personenkreis zeigt sehr deutlich, daß die Möglichkeit der Zuordnung der Fahrzeuge zu einem konkreten
    Eigentümer bzw. dessen Umfeld
    eine enorme Bereicherung dieses Blogs bedeutet !
    Dadurch wird die „Zeit – Land und Leute“ erst lebendig auf den Fotos und stellt die gezeigten Automobile in eine aussagekräftige Beziehung zu ihren Nutzern.
    Angeregt sei damit ein Augenmerk auf Bilder, die solche
    Möglichkeiten eröffnen (sicher wäre auch manche Wiederholung unter diesem Aspekt akzeptabel
    und lohnend).
    Die Recherche „Küderli , Waiblingen“ z.B. eröffnet trotz dürftiger Quellenlage einen interessanten Einblick in die lokale Industrie- und Sozialgeschichte Waiblingens.
    Meine probehalber vorgenommene Recherche der
    „Im Zeichen der Vier Ringe“, Bd. 1 , S.144 zeigt z.B. einen
    HORCH- Wagen mit dem amtl. Kennz. “ V – 357″ , den riesigen 6- Zyl. Wagen 31/60 PS des A. Horch- Freundes und Förderern
    Fabrik- Dir. Franz Fikentscher, Zwickau mit seiner überlangen Motorhaube und überführt gleichzeitig Oswalds „HORCH-
    Automobile“ auf S. 15 der zweifellos falschen Zuordnung
    eines der Haubenlänge nach eindeutigen 4- Zyl.- Wagens als 31/ 60 PS- 6- Zyl. !
    S. 147 der „Vier Ringe“ zeigt Horch- Freund und Anwalt
    Dr. Stöß am Steuer seines Horch- Rennsportwagens ( V – 669 ).
    Interessant, nicht ?

  3. Der Opel war auf Ferdinand Küderli sen. zugelassen, den Besitzer der Seidenstoffweberei Küderli in Waiblingen.

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