Großer Mann, was nun? Hansa 1100 Limousine

Sicher ist Ihnen schon einmal der Buchtitel „Kleiner Mann, was nun?“ begegnet. Den trug ein „sozialkritisches“ Werk von Hans Fallada, welches den Abstieg eines Angestellten in der Wirtschaftskrise der späten 1920er Jahre beschreibt.

Mir gingen solche Schinken, in denen menschliche Miseren literarisch durchgekaut werden, die sich täglich in der Zeitung zum Überdruss darboten, immer gegen den Strich. Wer will sich in seinen knappen Mußestunden noch mit so etwas befassen?

Natürlich lässt sich schicksalhaftes Geschehen auch erbaulich darstellen – dazu bedarf es freilich großer Meisterschaft und eines Helden, mit dem zu leiden sich lohnt.

Die Irrfahrten des Odysseus nach dem Krieg gegen Troja bis hin zu dem Moment, an dem er als letzter Überlebender seines Schiffs an die Gestade seiner Heimatinsel Ithaka gelangt – das hat Format, gerade weil es in einer völlig fremden Welt spielt, in der man sich am Ende auf wundersame Weise beinahe zuhause wähnt.

Odysseus räumt am Ende unter den Freiern und Schnorrern auf, die seiner Frau während 20-jähriger Abwesenheit zusetzten – man billigt ohne zu zögern das Gemetzel, nachdem man so lange mit Odysseus die Launen der Götter erlitten hat.

Ein Happy End der besonderen Art. Die Beschäftigung mit der Literatur der alten Griechen lohnt sich jedoch auch in anderer Hinsicht. Denn in den Grundfragen des Daseins ist damals bereits alles vorgedacht worden.

In oft rätselhaften Sentenzen wie „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ oder auch dem meist missverstandenen „Krieg ist der Vater aller Dinge“ findet sich zeitlose Weisheit.

Ein weiteres Beispiel, das wir heute einer praktischen Prüfung unterziehen, ist die Aussage „Der Mensch ist das Maß aller Dinge„, die dem Philosophen Protagoras zugeschrieben wird.

Oft wird dieser Ausspruch als Ausfluss menschlicher Arroganz verstanden – in dem Sinne, dass der Mensch im Mittelpunkt des Universums stehe und daher auf Erden nach Gutdünken mit seinen Mitgeschöpfen verfahren kann, wie er will.

Tatsächlich ist gemeint, dass der Mensch nur über (unvollkommene) menschliche Maßstäbe verfüge, die ihm als einzige zur Verfügung stehen. Sich außerhalb zu stellen und eine objektive Sicht der Dinge zu erlangen, ist ihm nicht möglich.

Die Einsicht in die beschränkte Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist vielmehr Ausdruck von Bescheidenheit und Mahnung, Verbreitern angeblich endgültiger Wahrheiten zu misstrauen.

Was hat nun das Gesagte mit dem Hansa 1100 zu tun, der ab 1934 als Vierzylindertyp 1100 und als 6-Zylindermodell 1700 in überschaubaren Stückzahlen gebaut wurde? Nun, das sollen die folgenden Fotos aus meiner Sammlung illustrieren:

Hansa 1100; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ein harmonisch wirkender Wagen mit perfekten Proportionen und aus dieser Perspektive ein wenig britisch anmutend, nicht wahr?

In der Tat deutet hier nichts darauf hin, dass diesem soliden Mittelklassewagen irgendein Makel anhaften könnte.

Noch attraktiver wirkt der zweitürige Wagen mit seiner coupéhaften Anmutung in der folgenden Situation:

Hansa 1100; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Sehr adrett, finde ich? Die junge Dame in Abendgarderobe trägt nicht unerheblich zu dem harmonischen Eindruck bei. Wer könnte mehr als dieses Auto brauchen?

Nur am Rande sei erwähnt, dass die vier Luftklappen in der Haube Kennzeichen des 1100er Hansa waren, während der sechzylindrige Typ 1700 deren fünf besaß und etwas länger war.

Für den kleinen Mann war dieses Automobil im Deutschland der 1930er Jahre unerreichbar – ein Durchschnittsverdiener konnte sich allenfalls ein Fahrrad oder Moped leisten.

Der Blickwinkel des kleinen Mannes, nach dessen Maßstäben der Hansa ein großartiger Traumwagen war, bringt uns also nicht weiter.

Schauen wir stattdessen, wie sich das Auto aus Sicht der gehobenen Mittelschicht darstellt – ganz offenbar war das dann doch ein eher knapp dimensioniertes Gefährt:

Hansa 1100; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Skeptisch scheint sich der Herr, welcher die leicht geöffnete Tür hält, mit dem Hansa auseinanderzusetzen: „Ob wir da wohl alle reinpassen? Leider gibt’s ja keinen außenliegenden Schwiegermuttersitz mehr…

Das hat er vielleicht gedacht, während sich die Damen freundlich der Kamera zuwandten. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ – deshalb verlieren wir spontan das Interesse an dem Wagen, sobald wir einiger Artgenossen ansichtig werden – auch da sind wir nicht objektiv.

Mich beispielsweise lenkt die junge Frau im körpernah gehaltenen weißen Kostüm mühelos von der Betrachtung des Autos ab – wir begegnen ihr später noch einmal.

Derselbe Hansa 1100 zeigt sich auf der nächsten Aufnahme wiederum in anderem Format:

Hansa 1100; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Hier geraten erstmal die Maßstäbe ins Rutschen und mit Blick auf den plötzlich sehr kompakt wirkenden Hansa stellt sich die Frage: „Großer Mann, was nun?

Mit der Information ausgestattet, dass der flotte Hansa nur 1,47 Meter hoch war – ein Mercedes 170 beispielsweise war 10 cm höher – relativieren sich die anfänglich so angemessen erscheinenden Verhältnnisse doch deutlich.

Das war kein Wagen für großgewachsene Männer, vor allem dann nicht, wenn sie im Auto den Hut auflassen wollten, was damals üblich war.

„Der Mensch ist doch letztlich das Maß aller Dinge, verehrter Herr“ – so hätte vermutlich ein zeitgenössischer Autoverkäufer argumentiert und dringend vom Hansa abgeraten.

Dabei war der Herr auf dem vorangegangenen Foto gar nicht besonders groß, behaupte ich. Er wirkt eventuell bloß so, weil er weiter vorne steht.

Dass auch dies eine Frage des Maßstabs ist, kann ich anhand einer letzten Aufnahme „unseres“ Hansa 1100 deutlich machen, welche nochmals die Perspektive verschiebt.

Darauf sehen wir nun einen wirklich großen Mann – in dessen Welt es jede Menge alltägliche Hindernisse gegeben haben muss, die andere gar nicht wahrnahmen:

Hansa 1100; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Man erkennt: Die Dinge stellen sich immer wieder neu dar, je nach dem, welche und wessen Perspektive man einnimmt.

Dass der Mensch aber auch in anderer Hinsicht als nur bei den Maßstäben für „Klein und Groß“ nicht objektiv ist, das zeigt sich darin, dass Sie vielleicht an dem Riesen ganz rechts oder an dem fasziniert zu ihm aufschauenden Herrn ganz links hängenbleiben.

Ich dagegen bekenne mich dazu, dass mich das strahlende Lächeln der hier nun dunkel gekleideten jungen Frau vollkommen einnimmt, die uns bereits begegnet ist.

Sie trägt hier einen ausgesprochen typgerechten Hut – keck schräg, wie das ein ungeschriebenes, sich objektiver Maßstäbe entziehendes Gesetz will.

In meiner Welt stellt eine solche Erscheinung locker den schicksten Wagen in den Schatten, bei Ihnen mag das vielleicht anders sein – und beides hat seine Berechtigung.

Es gibt nicht nur eine Sicht auf die Welt, es gibt viele und so sehr das unsere universelle Erkenntnisfähigkeit beschränkt, so sehr bereichert sie den persönlichen Kosmos, in dem ein jeder von uns während der Spanne seines Daseins zuhause ist.

Wenn also nun ein großer Mann daherkommt und behauptet, er habe unstrittige und endgültige Wahrheiten im Angebot, er allein wisse, wo es lang geht und Gefolgschaft einfordert – dann entgegnet man besser: „Nein, der Mensch ist letzlich das Maß aller Dinge“ und vertraut sich wieder seiner eigenen Sicht auf die Welt an und bleibt bei seinen Leisten.

Das Schicksal großer Helden ist nämlich hinlänglich bekannt…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

4 Gedanken zu „Großer Mann, was nun? Hansa 1100 Limousine

  1. Ok, vermutlich sind Sie deutlich größer als ich (1,80m, 80kg). evtl. hängt es ja auch von der individuellen Karosserie ab. Ich habe jedenfalls selbst bei einfachen Ami-Wagen kein Einstiegs/Platzproblem – wie gesagt: die Beinhaltung ist bei Vorkriegswagen ja generell eine andere als heute. Die US-Marken boten zudem meist mehrere Radstände an, sodass auch große Menschen (speziell Amis nordeuropäischer Abkunft waren und sind deutlich größer als der Schnitt) ein passendes Fahrzeug fanden. Der Hansa 1100, um den es ging, war nach US-Maßstäben ohnehin ein Kleinstwagen und lag auch am deutschen Markt am unteren Ende der Größenskala in der Mittelklasse. Wer groß war, war mit einem Hanomag Rekord oder einem Opel 1.3 Liter besser bedient. Noch mehr Platz bot Ford mit dem „Rheinland“ (1,75 m hoch vs. 1,47 m), was m.E. auch zum guten Absatz der ansonsten einfach gehaltenen Ford-Wagen beitrug.

  2. Einspruch: Ein NASH aus dieser Zeit ist so „eng“, daß ich zwar damit Fahren kann. Ein- und Aussteigen gelingt nur durch Rückenlehne hoch/runter rutschen, geht aber nur bei offenem Verdeck.
    Bei den „chauffeur-Limousinen“ war – bei allem üppigen Raum für die Passagiere – der Fahrer-Bereich extrem eng und knapp geschnitten.
    Einige davon könne ich am Fahrerplatz niemals auch nur besteigen..

  3. Ich würde hier schon Unterschiede machen: Viele Autos der Oberklasse waren vor dem 1. Weltkrieg sogar sehr geräumig, nur Kleinwagen (meist mit offenen Bauten) waren vom Platz her knapp bemessen. In den USA boten Autos ab Mitte der 1920er Jahre fast immer reichlich Platz (die Amis waren schon damals oft größer als die Deutschen, teils genetisch, teils ernährungsbedingt) und sind daher auch heute noch gut zu fahren. In Deutschland blieben viele Autos bis in die 1950er innen recht klein und schwach motorisiert, weil alles andere zu teuer geworden wäre – der Markt war ein völlig anderer als im Ausland. In den 1930ern gab es dann schon im europäischen Mittelklassebereich Raumwunder wie den Fiat 1500. Große Leute (die es bei uns ja auch immer gab) fanden jedenfalls genügend Alternativen, solange sie sich mehr als DKW & Co leisten konnten. Das Fahren mit angewinkelten Beinen ist dem Mini-Fahrer übrigens bestens vertraut – man sollte halt keine (ohnehin ungesunde) Plautze haben…

  4. Tja, daß heutige Figuren ab 1,80m und entsprechendem Gewicht in den alten Autos massive Probleme haben, das konnte ich selbst oft genug erleben, entweder man konnte gar nicht erst einsteigen oder die zum Fahren notwendigen Bewegungen nicht ausführen oder man hat mit den Beinen das Lenkrad blockiert. Vom Gestänge Cabrio-Verdeck, das mir mitten durchs Gehirn gegangen wäre, ganz zu schweigen.
    Die Abmessungen unserer Ahnen waren deutlich kleiner, das erkennt man auch in alten Häusern, wo man sich oft nicht aufrichten kann.
    Man sollte nie ein Automobil „blind“ kaufen, sondern vorher Testen, ob man schmerzfrei darin fahren kann. Auch ein Triumph TR7 gehört trotz später Geburt in die zu meidende Sorte.

    ABER: Die Hüte, die Freisuren der Damen damals – das waren echt Hingucker!

Kommentar verfassenAntwort abbrechen