Beim Stichwort „Doktorwagen“ denkt der Vorkriegsautofreund vermutlich am ehesten an die frühen Zweisitzer von Herstellern wie Opel, die einst von Landärzten und Veterinären gekauft wurden, um schneller (oder überhaupt) zu ihren Patienten zu gelangen.
Das war ab etwa 1905 der Fall und erstmals wurde der phänomenale praktische Nutzen des Automobils auch Skeptikern vor Augen geführt. Am Wochenende konnte der Doktorwagen dann zum Flanieren mit der Gattin eingesetzt werden.
Hier haben wir einen typischen Vertreter dieser Gattung, gebaut von der Hansa-Automobil-Gesellschaft (HAG) als 10 PS-Zweizlinder bzw. als 12 PS-Vierzylinder ab 1906/07:

Bei der Gelegenheit gibt es etwas Grundsätzliches festzuhalten, und zwar die Form des Kotflügels betreffend. Man versteht hier auf Anhieb, wieso das Teil mit einem aus der Vogelwelt entlehnten Begriff benamt wurde.
Die expressive Gestaltung mit nach unten zunehmender Breite wich ab etwa 1908 allgemein einer schlichteren Ausführung, deren unteres Ende an das Trittbrett anschloss und dessen Breite nicht mehr überschritt.
Sollte das zu abstrakt formuliert sein, werden Sie auf der folgenden Aufnahme sehen, was damit gemeint ist. Diese stammt wie das erste Foto aus der Sammlung von Leser Klaas Dierks, der als „Nordlicht“ der Marke Hansa nicht nur geografisch nahesteht.
Bevor wir dazu kommen, vergegenwärtigen wir uns dies: Zwischen dem eingangs gezeigten „Hansa“ und dem nachfolgend gezeigten liegen gerade einmal sechs bis sieben Jahre.
Überlegen Sie einmal, ob Sie jeden vor sechs Jahren eingeführten Wagen heute auf Anhieb von einem aktuellen Modell derselben Marke unterscheiden könnten.
Daran kann man ermessen, dass das Automobil in seinem Lebenszyklus längst in seiner Reifephase angelangt ist. Es gibt nur noch geringfügige Verbesserungen, selbst das Elektroauto ist eine Variation über ein altes Thema und ist in seinem Erscheinungsbild kaum vom Mainstream zu unterscheiden.
Vor 120 Jahren sah das ganz anders aus – damals vollzog sich die Innovation so schnell, wie das in unseren Tagen im Bereich der digitalen Technologie der Fall ist (jedenfalls dort, wo die Kompetenz dafür vorhanden ist, also nicht im Industriemuseum Deutschland).
So sah also der „Doktorwagen“ aus dem Hause Hansa kurz vor dem 1. Weltkrieg aus:
Haben Sie die gewölbte Frontscheibe dieser geräumigen Limousine bemerkt? Das war vor dem 1. Weltkrieg nur bei sehr gehobenen Fahrzeugen zu finden. Dass wir uns in der Vorkriegszeit befinden, das verrät die Form der Scheinwerfer – sie waren noch gasbetrieben.
Dieses Luxusgerät mitsamt Chauffeur soll ein Doktorwagen sein? Gewiss, es steht sogar auf der Tür zum Passagierabteil: „Dr. S“ ist dort zu lesen.
Das verwies auf einen Dr. Schneider aus Leipzig, so ist es mit diesem Foto überliefert. Er selbst muss ein begeisterter Automobilist gewesen sein, denn er trägt eine Fahrermütze wie sein Chauffeur, eventuell saß er gern auch selbst am Volant.
Leider wissen wir nicht, wie unser Dr. Schneider zu soviel Geld gekommen war, um sich einen Wagen dieser Klasse leisten zu können. Als Hausarzt wird er kaum so viel verdient haben – es sei denn, seine Gattin hatte das nötige Kleingeld mit in die Ehe gebracht.
Klären können wir aber immerhin, mit was für einem Fahrzeug wir es hier zu tun haben. Dass es sich ebenfalls um einen Hansa handelt, habe ich ja leider bereits mit dem Titel verraten. Aber wie komme ich darauf?
Nun, eine gute Quelle ist meine Hansa-Galerie, in der sich dieses Foto eines Wagens mit identischen Details an der Motorhaube findet:
Dass dieser Wagen einen offenen Aufbau trägt, ist unerheblich – nur die Frontpartie war damals marken- und typspezifisch.
Die Ausführung der Motorhaube mit zwei Griffmulden und nach hinten versetzten Luftschlitzen findet sich meines Erachtens erst bei späten Hansa-Exemplaren ab etwa 1913.
Die eher kleinen Modelle mit 18 bis 24 PS sahen zwar ähnlich aus, doch die Länge der Motorhaube ist ein Indikator für eine stärkere Motorisierung. In Frage kommen die 30 PS leistenden Typen D (nur 1912) bzw. E (ab 1912) sowie die Typen G und E mit 36 bzw. 45 PS (1912-1914).
Im Fall unseres Doktorwagens im XL-Format spricht das schiere Gewicht des geschlossenen sechsfenstrigen Aufbaus für eines der Spitzenmodelle.
Welches davon genau in Frage kommt, das konnte ich auch anhand des mir neuerdings vorliegenden Standardwerks zur Marke Hansa bzw. Hansa-Lloyd (Harro Neumann: Norddeutsche Automobilpioniere, Hauschild-Verlag; Bremen, 2005) nicht klären.
Das Werk kann ich indessen uneingeschränkt empfehlen, zumal da es auch ausführlich auf das Arbeitsumfeld jener Zeit, hochrangige Besitzer und Sportaktivitäten eingeht.
Auch dieses Buch kann zwar nicht alle Detailfragen beantworten, liefert aber im XL-Format Informationen und Bildmaterial zu Hansa, die mir bisher unzugänglich waren. Harro Neumannn hat sich damit aus meiner Sicht zumindest den Dr. h.c. erarbeitet….
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