Dem Zeitgeist hinterher: Simson R 12/60 PS ab 1928

Bereits die Beschäftigung mit Vorkriegsautos – noch dazu im antiquierten Schwarz-Weiß-Modus – ist ein Hinweis darauf, dass man dem Zeitgeist gern um ein paar Jahrzehnte hinterher ist.

Mancher Modernitäts-Beseelte mag das belächeln, aber womit einer seine private Zeit zubringt, das entzieht sich jeder Bewertung (sofern es nicht evident rechtswidrig ist).

Man muss im beruflichen Alltag mit der Zeit gehen, und das tue ich sehr gern, aber davon abgesehen nutze ich die Errungenschaften unserer technischen Epoche hauptsächlich für mehr oder minder virtuelle Zeitreisen aller Art – in die Vergangenheit, versteht sich.

Doch wie gesagt, in technologischer Hinsicht kann man sich das schwerlich leisten, diesbezügliche Realitätsverweigerung zieht schleichenden bis rasanten Wohlstandsverlust nach sich. Das ist im Deutschland der 2020er Jahre so aktuell wie 100 Jahre zuvor.

Schauen wir, was das einst konkret am automobilen Beispiel bedeutete: Die renommierte Manufaktur Simson aus dem thüringischen Suhl brachte kurz nach Mitte der 1920er Jahre eine beeindruckend dimensionierte Limousine heraus, die wir hier kennengelernt haben:

Simson Typ R 12/60 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

So kolossal der Wagen optisch ausfiel, so auch sein Preis. Weit über 11.000 Reichsmark sind für die Pullman-Limousine für das Jahr 1928 überliefert.

Angetrieben wurde der über 1,8 Tonnen wiegende Wagen von einem eher kleinen 3,1 Liter-Sechszylinder mit 60 PS Spitzenleistung.

Das entsprach ziemlich genau (einschließlich des ohv-Zylinderkopfs) den Verhältnissen beim damaligen „Standard Six“ des US-Mittelklasseherstellers Buick. Dieser war zwar nicht so großzügig dimensioniert, aber mit gut 9000 Mark weit günstiger zu haben hierzulande.

Während der Buick sehr gut den aus den Staaten herüberwehenden automobilen Zeitgeist repräsentierte, der sich in deutschen Landen in riesigen Verkaufserfolgen amerikanischer Fabrikate der 6- und 8-Zylinderliga niederschlug, fuhr der Simson hinterher.

Er war ein Automobil für Leute, die es sich leisten konnten und wollten, hinter dem Zeitgeist zurückzubleiben. Dabei nahm man selbst solche Kuriositäten wie die längst überholte Rechtslenkung in Kauf.

Von dieser hatte sich eine fortschrittliche Firma wie Audi bereits Anfang der 1920er Jahre getrennt; um 1925 stellten praktisch alle heimischen Hertsteller auf Linkslenkung um.

Bei Simson gingen die Uhren freilich in der Hinsicht geruhsamer – erst 1928 bequemte man sich zu dem Schritt. Was man sich dabei dachte – wenn überhaupt – ist nicht überliefert.

Das Festhalten an Überholtem um jeden Preis ist nicht unbedingt ein Ausweis von Klugheit, wenn man keine guten Gründe dafür hat. Diese Mentalität kann sich zum Spleen entwickeln, der im Privaten sympathisch ist (wir kennen das…).

Aber am Markt kann man sich das nicht leisten, wenn man keine Alleinstellungsmerkmale hat. So besserte man schließlich in Suhl nach und brachte den Simson Typ R 12/60 PS anno 1928 mit Linkslenkung heraus wie hier zu besichtigen:

Simson Typ R 12/60 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Kenner werden am Kühler des Wagens den Schriftzug „Simson Supra“ erahnen, außerdem liefert der aus der Kühlerschräge herausragende Einfüllstutzen den entscheidenden Hinweis auf den Hersteller.

In technischer Hinsicht scheint man außer der Umstellung auf Linkslenkung wenig bis nichts unternommen zu haben. Auch die von Adler aus Frankfurt/Main damals vorangetriebene Hydraulikbremse scheint man als Zeitgeisterscheinung abgetan zu haben.

Lediglich bei der Gestaltung der Luftschlitze in der Motorhaube hatte man sich den US-Vorbildern angenähert, während frühere Exemplare in der Hinsicht noch eigenständiger daherkamen.

So fuhr man einerseits dem technologischen Zeitgeist hinterher und gab andererseits gestalterische Elemente auf, die noch eine Unterscheidung zuließen. Dabei sollte der solvente Simson-Kunde doch gerade für das Besondere an dem Wagen zahlen.

Außer den großzügig bemessenen Dimensionen blieb Ende der 1920er Jahre freilich wenig bis nichts davon übrig. Entsprechend gering waren die Absatzahlen der gewiss exzellent verarbeiteten und komfortabel eingerichteten Wagen.

Auch der Versuch, Anfang der 1930er Jahre mit dem Achtzylindermodell RJ doch noch den rasanten Zeitgeist einzuholen, kam zu spät – doch das ist eine andere Geschichte, für die mir bislang das Fotomaterial fehlt.

Dessen ungeachtet erfreuen wir uns natürlich an dem raren Dokument, welches einen späten Simson-Wagen des Typs R 12/60 PS zeigt, zumal die Umgebung durchaus großzügig, wenn auch nicht luxuriös wirkt:  

Simson Typ R 12/60 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Wie eingangs erwähnt: Man muss es sich privat leisten können, irgendwo in einer romantisierten Vergangenheit hängenzubleiben – als Unternehmen, Volkswirtschaft und Gemeinwesen ist eine Mentalität fatal, die den Fortschritt geringschätzt oder gar verachtet.

Der Zeitgeist hat nicht immer recht – er mag sogar nach einem Intermezzo wieder verschwinden – doch ist es oft genug gefährlich, von seiner eigenen Vollkommenheit überzeugt zu sein und alle die, welche die Dinge anders sehen, für verrückt zu erklären…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

5 Gedanken zu „Dem Zeitgeist hinterher: Simson R 12/60 PS ab 1928

  1. Es muß sich bei beiden gezeigten Wagen um die Pulman- Ausführung ab 1928 (mit Linkslenkung) handeln .Die Gürtellinie wurde gemäß der neueren Linie auf eine beschränkt und die verstellbare Sonnenblende trug nach Oswald nur die Pulmanlimousine.

  2. Ich kann bei der ersten Aufnahme nur eine ebenfalls bereits links angeordnete Lenksäule erkennen!
    Oder sollte es sich um einen spiegelverkehrten Abzug handeln?

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