Nach reiflicher Überlegung: Ein Benz 27/70 PS

Zu den einst bedeutenden deutschen Marken, von denen ich eher selten Fotos vorstelle, gehören ausgerechnet die beiden vielleicht bekanntesten – Daimler und Benz.

Am Mangel an Material liegt das nicht, wohl aber daran, dass es oft schwerfällt, die Typen anzusprechen, speziell bei den frühen Modellen vor dem Zusammenschluss anno 1926.

Insbesondere die Benz-Wagen, welche kurz vor und kurz nach dem 1. Weltkrieg entstanden, sind praktisch nur an den Proportionen auseinanderzuhalten. Die Gestaltung folgte ansonsten einem sehr ähnlichen Schema.

In einigen Fällen hat man die Chance, durch Größenvergleiche den Radstand abzuschätzen, vor allem bei Aufnahmen von der Seite. Bisweilen erlaubt die Relation zwischen Wagengröße und Insassen eine ungefähre Einordnung.

So konnte ich diese große Benz-Limousine einst hier als Typ 16/50 oder sogar Typ 27/70 PS der frühen 1920er Jahre eingrenzen:

Benz 27/70 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dieser 6-Zylinder-Koloss mit über 7 Litern Hubraum war ein Relikt der Zeit vor dem 1. Weltkrieg – technisch veraltet, aber immer noch leistungsfähig genug, um souveräne Fortbewegung auf Fernreisen zu ermöglichen.

Mit diesem Gerät, dessen Motorblock noch paarweise gegossene Zylinder besaß und das seine Kraft hauptsächlich dem gigantischen Hubraum verdankte, konnte man – von steilen Anstiegen abgesehen – praktisch durchweg im großen Gang fahren.

Um zu verstehen, wie sich das Drehmoment solcher Riesenaggregate bemerkbar machte, kann man mit einem auf dem Papier PS-starken modernen Wagen der Klasse unter 2 Litern Hubraum den Versuch unternehmen, im 4. Gang anzufahren…

Mein 150 PS leistendes Alltagsauto mit 1,3 Litern Hubraum tut sich da schon im 2. Gang schwer – er entfaltet seine Kraft erst bei Drehzahlen ab 3.000 U/min, lässt sich dann aber im sechsten Gang elastisch zwischen etwa 130 und 180 km/h bewegen.

Der Benz 27/70 PS brachte es gerade auf 95 km/h Spitze, war also von der Übersetzung im großen Gang ganz anders ausgelegt. Vor über 100 Jahren war das zwar nicht mehr der Stand der Technik, aber für die meisten Kunden völlig ausreichend.

So konnte man auch nach dem 1. Weltkrieg noch eine Weile mit einem Benz dieser Spezifikation glücklich werden. Dass ich mich nach reiflicher Überlegung entschlossen habe, heute wieder eines dieser Prachtexemplare vorzustellen, hat zwei Gründe.

Nr. 1 ist der glückliche Umstand, dass mir Leser Matthias Schmidt aus Dresden dieses schöne Foto eines Tourenwagens dieses Typs in digitaler Form zur Verfügung gestellt hat:

Benz 27/70 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Lassen Sie sich nicht von dem gutgelaunten und großgewachsenen Herrn mit den feschen Ledergamaschen über den Schuhen täuschen.

Nehmen Sie stattdessen Maß an der langen Motorhaube und setzen diese in Relation zu den eher klein wirkenden Insassen. Das war ein mächtiger Wagen, der ohne weiteres Platz für einen großvolumigen Reihensechszylinder vorn und drei Sitzreihen hinten bot.

Ungewöhnlich für die Zeit nach dem 1. Weltkrieg ist der dem Auge schmeichelnde Aufwärtsschwung der nach innen abgekanteten Seitenlinie – m.E. ein Indiz für eine frühe Entstehung des ab 1918 im Benz-Programm vertretenen 27/70 PS-Models.

Dass irgendwann eine kleine Stoßstange nachgerüstet und ein Kätzchen als Kühlermaskottchen installiert wurde, spricht für eine lange Benutzungsdauer dieses Fahrzeugs. Ausgehend von der Kleidung der abgebildeten Personen würde ich die Aufnahme kaum früher als Mitte der 1920er Jahre verorten.

Überliefert ist auf der Rückseite des Abzugs leider nur, dass das Foto in der „Nähe von Karpacz Krummhübel“ entstand, wenn ich es richtig lese. Vielleicht weiß ein Leser etwas damit anzufangen und kann uns via Kommentar entsprechend erleuchten.

Wo aber bleibt Nr. 2 der beiden Gründe, welche eine Ansprache dieses Benz als Typ 27/70 PS erlauben? Nun, ich habe nicht umsonst im Titel angedeutet, dass dem eine „reifliche Überlegung“ zugrundeliegt.

Wer meine Neigung zu Kalauern dieser Güteklasse kennt, ahnt vermutlich, dass ich damit auf das Reifenformat des Wagens anspiele, welches die entsprechende Gewissheit liefert.

Tatsächlich ist vorn die Größenangabe 935 x 135 zu lesen. Während über die Breite selbst Motorradfahrer unserer Tage nur lächeln, ist der Durchmesser (93,5 cm) spektakulär. Er war laut Literatur dem 27/70 PS-Modells von Benz vorbehalten.

Das ist ein nettes Ergebnis in Sachen Benz, welches sich aus reiflicher Überlegung speist.

Es mag etwas dauern, bis sich wieder dem Foto eines Wagens dieser Marke solche Feinheiten entlocken lassen – doch bis dahin vertreiben wir uns die Zeit mit der Fülle des übrigen Materials, das kaum detektivischen Spürsinn verlangt, aber dennoch durch seine schiere Wirkung begeistert…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

8 Gedanken zu „Nach reiflicher Überlegung: Ein Benz 27/70 PS

  1. Freut mich, dass auch das gewürdigt wird. In Zeiten wie diesen gilt ohnehin das alte Diktum: „Schwer ist es, keine Satire zu schreiben…“. Ein schickes Pfingstwochenende!

  2. Salut Michael,

    es gibt zwar die Rubrik Foto des Monats, aber leider nicht die Rubrik Kalauer des Monats, denn da hättest du dir mit der Überschrift “ Nach reiflicher Überlegung“ zweifellos den ersten Platz selber erarbeitet. Weiter so !

    Mit den besten Grüßen aus Bärlin

    Claus

  3. Ja, das Bild zeigt den dicken Benz vor der Kulisse des Riesengebirges in Krummhübel auf halber Strecke zwischen Hirschberg und Waldenburg.
    Leser Alex Wilhelm erwähnt die damals ob ihrer Exotizität berühmte „Kirche Wang“ , eine echte norwegische Stave Kerk, erbaut im späten 12. Jht. im Ort Vang und 1841 vom König Friedrich Wilhelm IV. erworben.
    Mir schon aus Kinderzeit bekannt, da meine Großmutter mit Vorliebe erzählte, sie hätte vorgehabt, in der Kirche Wang zu heiraten – was dann Weihnachten 1920 schon wegen den Temperaturen und der Schneelage ausfiel und sie dem jungen Dr. aus Helgoland in der molligen Wohnstube in Breslau vom Pastor angetraut wurde.

    Der dicke Benz ist unzweifelhaft ein früher 70 PS- Wagen der noch mit der Acethylen- Notbeleuchtung mit den spitzkühlerartig geschliffenen Streu(ja: Streu-!)scheiben ausgestattet war wie sie wohl noch bis 1919 verwendet wurde.
    Die Dimension der Bereifung auf 12-speichigen Rädern mit Aussenverschraubung an den Hinterrädern in Verbindung mit der endlosen Haubenlänge
    ist eindeutig!
    Die Schuhe des Chauffeurs mit dem gräußlich zerschnittenen Gesicht sind jedoch eindeutig feine Schnürstiefel, wie sie unter den gewixten Ledergamaschen getragen wurden. Übrigens vermutlich ebenfalls eine damals sehr beliebte Zeitauslöser- Aufnahme.
    Die vorher gezeigte Chauffeurlimousine wäre nach der Logik Haubenlänge / Rad- speichenzahl eine Nr. tiefer anzusiedeln….

  4. Krummhübel /Karpacz (Schlesien) ist bekannt für die dort auf dem Friedhof stehende norwegische Stab-Holz-Kirche. War schon dort, sehr sehenswert!

  5. Gerne,
    damals befand man sich noch auf deutschem Boden und zwar im Landkreis Hirschberg, RegBez. Liegnitz der Provinz Schlesien.
    Gruß,
    KD

  6. Hi,
    das polnische Karpacz, deutsch: Krummhübel liegt an der polnisch tschechischen Grenze nahe der Schneekoppe.
    Gruß,
    KD

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