Eine zuverlässige Methode, an den Unzuträglichkeiten und Zumutungen der Gegenwart nicht verrückt zu werden, ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit.
Die Auseinandersetzung mit den Lebensverhältnissen von einst bewahrt einen vor der Überbewertung des Hier und Jetzt – sie ist stets auch Mahnung an die Endlichkeit und finale Bedeutungslosigkeit aller Dinge.
Man stellt dabei fest, dass wohl kaum ein überzeitlicher, wirklich lebenskluger Gedanke nicht schon vor Jahrunderten oder gar Jahrtausenden gedacht wurde.
So hat mich stets die Illusionslosigkeit der antiken Griechen beeindruckt, für die auf den Tod – von einigen Heroen abgesehen, die zu den Göttern entrückt werden – ein endloses tristes Dämmerdasein als Schatten folgte.
Die Düsterheit der Aussicht auf das Schattenreich – des Hades – erschien mir von jeher als wirkungsvolle Mahnung, das Leben auszukosten und darin möglichst alles zu wagen.
Das Wedeln irgendwelcher Heilsversprecher mit den bunten Reiseprospekten in ein angebliches Paradies kam mir dagegen billig vor – früh fragte ich mich: was macht man da eigentlich die ganze Zeit? – Niemand weiß darauf eine Antwort, aber geglaubt wird’s trotzdem. Es kann ja auch nicht schaden, von daher soll jeder denken, was er will.
Ganz gleich, wovon Sie überzeugt sind oder worauf Sie hoffen, mögen Sie mich heute dennoch auf einem Ausflug ins Reich der Schatten begleiten, auch wenn Ihnen der Gedanke eher fremd ist, dass es der wahre Aufenthaltsort der Toten ist.
Als düsterer Wegweiser auf der Reise dorthin sei diese Anzeige des österreichischen Herstellers Austro-Daimler gedacht, welche im Kriegsjahr 1917 in der Allgemeinen Automobil-Zeitung Nr. 38 erschien:

Dass schon vor Ende des 1. Weltkriegs die Dinge heillos aus den Fugen geraten waren, ist an den fast wie von einem Kind gezeichnet wirkenden Buchstaben des Namenszugs zu ersehen, welche sich weder in der Höhe noch in der Breite an die Konvention halten wollen.
Geradezu unheimlich wirkt unterdessen die schattenhafte Silhouette des abgebildeten Tourenwagens und ich muss sagen, dass ich diese künstlerische Darstellung für außerordentlich gelungen halte.
Im Unterschied zur sogenannten Modernen Kunst erkennt man, worum es geht, muss sich aber auf den vom Urheber gewählten Blick einlassen.
Das tue ich mit Vergnügen und fühle mich berufen, meine Assoziation kundzutun in Form dieser fotografischen Aufnahme eines Austro-Daimler des Typs ADM der 1920er Jahre:
Dieser Wagen wurde einst „auf der Rückfahrt aus Polen“ aufgenommen und war ein erst ab 1923 gebautes Modell der österreichischen Luxusmarke.
Dennoch finde ich es bemerkenswert, wie der Grafiker anno 1917 die Silhouette eines solchen Tourers vorweggenommen hat, auch was die abgerundete Form des Kühlers betrifft. Denn diese gab es vor Beginn der 1920er Jahre noch gar nicht bei Austro-Daimler.
Ob künstlerischer Freiheit oder seherischer Fähigkeit geschuldet, die Anzeige von 1917 hat etwas Unheimliches – nicht zuletzt angesichts der Millionen von Soldaten, die damals in Europa ins Reich der Schatten befördert wurden, weil keine der Regierungen der Kriegsparteien einsehen wollte, dass sie schlicht ihre männliche Jugend für lokale Konflikte und zur Religion erhobene Hegemonieansprüche verheizt, ohne irgendetwas von Dauer zu gewinnen.
Nachdem das Ganze vorbei war und am grünen Tisch der vermeintlichen Sieger Grenzverläufe dergestalt neu bestimmt worden waren, dass künftige Konflikte garantiert waren, gab es einige Jahre relativer Ruhe.
Allerdings zogen spätestens Ende der 1920er Jahre abermals Wolken am politischen Horizont in Europa auf und neuerliche Ereignisse warfen ihre Schatten voraus.
Auf wiederum unheimliche Weise dazu passend entstand im August 1928 diese Aufnahme unterwegs „vom Glocknerhaus nach Heiligenblut“ in den Hohen Tauern in Österreich – so ist es jedenfalls auf der Rückseite des Abzugs vermerkt…
Kenner der Gegend werden sicher genau sagen können, wo dieses Foto entstanden ist und welchen (mutmaßlichen) Grenzübergang oder Kontrollposten es zeigt.
Ich wollte Ihnen auf keinen Fall diese Originalaufnahme vorenthalten, die mit ihren harten Kontrasten, der Düsterheit des Bergmassivs und den langen Schatten der winzig erscheinenden Menschen beeindruckt.
Wie eine Parabel auf das ameisenhafte Treiben des Menschen in einem gigantischen Bau, welchen der Einzelne nicht überschauen kann, kommt mir diese Situation vor.
Aber wir wollen nicht vergessen, dass es hier ja vorwiegend – aber keinesfalls nur – um Vorkriegsautos auf solchen Dokumenten aus längst vergangener Zeit geht.
Also nähern wir uns respektvoll den Schatten der Vergangenheit, zu denen nicht nur etliche Zweibeiner beiden Geschlechts gehörten, sondern auch eine Kolonne an Automobilen:
Eine bemerkenswerte Situation ist das. Man meint hier förmlich Zeuge zu sein, wie sich das Automobil mit Macht Bahn bricht auf Wegen, welche seit Urzeiten vom Menschen zu Fuß und bestenfalls mit vierbeinigen Begleitern begangen wurden.
Noch scheinen die Zweibeiner selbstbewusst und unbeirrt unterwegs zu sein wie seit jeher, doch man ahnt, dass sich die Verhältnisse bald ändern würden und die Welt der Technik die Oberhand gewinnt – mit allen ihren Vor- und Nachteilen.
Im vorliegenden Fall können wir genau sagen, in welcher Form die Welt der Moderne hier kraftvoll und raumgreifend Einzug hält. Denn der Tourenwagen, der uns entgegenkommt, war ein Austro-Daimler des Typs ADM (1923-28), wenn ich es richtig sehe:
Zum Vergleich darf ich auf die zahreichen Fotos dieses kraftvollen 6-Zylindertyps in meiner Austro-Daimler-Galerie verweisen.
Was das Kennzeichen angeht, verlasse ich mich darauf, dass einer meiner Leser schneller als ich herausfindet, wo dieses Exemplar zugelassen war.
Ich möchte am Ende noch ein wenig über die Aussage dieses Dokuments sinnieren. Vordergründig ist es eine bloße Momentaufnahme aus vergangener Zeit wie viele andere.
Doch mich berührt es, wie uns hier die abgebildeten Menschen fast in Bewegung scheinend entgegenkommen, jeder auf seinem eigenen Weg, für einen Augenblick vereint und danach ihrem individuellen Ziel zustrebend.
Wenn sie uns hier so schattenhaft erscheinen und außer ihrer Silhouette kaum etwas von ihnen zu erahnen ist, dann erinnert uns daran, dass sie längst zu den eingangs erwähnten Schatten geworden sind, welche nach Überzeugung der alten Griechen den Endzustand alles menschlichen Daseins repräsentieren.
Wir sind die letzten, welche ihrer auf dem Weg in die ewige Nacht nochmals ansichtig werden.
Wem das zu düster erscheint, dem sei gesagt: In der Anschauung solcher Zeugnisse vergangenen Lebens steckt immer auch die Aufforderung, jeden Tag daran zu arbeiten, mehr aus seinem Leben zu machen, endlich etwas zu wagen, auch Grenzen zu überschreiten – letzlich: über den eigenen Schatten zu springen, bevor einen dieser einholt…
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Dankeschön!
Hatte gerade nochmal „gegoogelt“: Es handelt sich wirklich um des „Glocknerhaus“,
So wie es heute noch steht!
Danke für die Erklärung und die Identifikation des Wagenbesitzers – großartig!
Danke – auch für die Erinnerung an den unglaublich schicken DKW 1000 SP!
Das großartige Foto aus der Großglockner- Region zeigt vermutlich das „Hochtor“ mit dem Grenzübertritt vom Bundesland Salzburg nach Kärnten. Die geradezu unwirklich ausgeleuchtet Szene (ich dachte erst, es wäre eine nächtliche, durch Scheinwerferlicht ausgeleuchtete Szenerie, was aber wohl den Eigenheiten der Schwarzweiß- Photografie zuzuschreiben ist) zeigt offensichtlich eine Ansammlung großer (großartiger?) Tourenwagen mit vermutlich hochkarätiger Besatzung.
Es wäre vorstellbar, daß dies eine der überlieferten Erkundungsfahrten der Entscheidungsträger des Österreichischen Staates zur Vorbereitung der Planungen über den Bau der nachmaligen „GroßglocknerHochalpenstraße“
war. Die gezeigte Örtlichkeit gibt es so nicht mehr, da hier der Grenz- Grat mit einem Tunnel unterquert wurde.
Ich befuhr 1986 die Hochalpenstraße mit einem formidablen DKW- AU 1000 SP (das ist der mit den Thunderbird- Flossen), der sich mit seinen 55PS und knapp 1000 Kg nicht ganz leicht tat beim Anfahren am Berg!
Die AD- Typen mit Vierradbremse verfügten über eine geniale Perfektionierung der damals einzig gängigen Gestänge- Brensbetätigung, deren Problem ja „unausrottbar“ die gegenseitige Beeinflussung von Brems- und Lenkkräften war, war natürlich bei Paß- Abfahrten mit zahlreichen Haarnadelkurven zum Glücksspiel werden konnte!
Man löste das Phänomen, indem man die Umlenkung der Bremsbetätigung in die Schwenkachse des Achsschenkels verlelegte (also in die Achse des Achsschenkel- bolzen).
Sehr geehrter Herr Schlenger,
schönes Foto vom Glocknerhaus das heute an der Großglockner Hochalpenstrasse auf der Strecke zur Franz Josefs Höhe liegt. Zum Aufnahmezeitpunkt gab es nur eine Mautstrasse zum Glocknerhaus die dem Alpenverein gehörte. Wegen der Enge der Strasse und Beliebtheit der Fahrt ins Hochgebirge wurde eine Einbahnregelung zeitgetaktet eingeführt. Deswegen die Aufregung im Bild weil alle auf die Freigabe der Talfahrt warten. Zum Auto war 1925 auf einen Hr.Koban in Döllach im Mölltal in der Nähe des Glockners zugelassen war. Das Haus war ein beliebtes Touristenziel für Taxifahrten und da waren die Austro-Daimler verlässliche Bergsteiger.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Billicsich
Wie immer toll geschrieben und mit den passenden Bildern versehen.