„Sind Sie Ästhet?“ Neues vom Horch „8“ Typ 350

In seiner wie immer wertvollen Kommentierung meiner spontanen und oberflächlichen Betrachtungen verwendete kürzlich ein Kenner unter meinen Lesern den Begriff des „Ästheten“. Davon fühle ich mich direkt angesprochen.

Zwar nehme ich für mich in Anspruch, einfache Arbeiten an historischen Automobilen ausführen zu können – also Überholung und Einstellung von Vergasern, Zündanlagen und Kühlung, Wartung und Reparaturen an Ventilsteuerung, Bremse und Antrieb sowie Beheben von Elektrikproblemen.

Aber von anspruchsvollen Details in Sachen Konstruktion und Karosseriebau oder auch Abstimmung von Fahrwerk oder Auspuffanlagen habe ich keine Ahnung. Umso mehr schätze ich die einschlägigen Beiträge von sachkundiger Seite.

Es gibt indessen einen weiteren Bereich, in dem ich mir anmaße, klare Urteile fällen zu können – das ist die Ästhetik, also die Empfindungen, welche eine spezifische Gestaltung – sei sie natürlichen oder menschlichen Ursprungs – in uns auslöst.

Menschen, für welche dieser Aspekt von großer Bedeutung ist, bezeichnet man als „Ästheten“, wobei in dem Attribut Anerkennung wie Geringschätzung mitschwingen kann.

Eine Geschichte aus meiner Kinderzeit mag das illustrieren. Wie viele Buben in materiell soliden Verhältnissen war ich Besitzer einer Modelleisenbahn – neben der Vermittlung von Basiskenntnissen in der Fahrradwartung der einzige Erziehungsbeitrag meines Vaters.

Meine Mutter fühlte sich dafür zuständig, mir eine Ahnung der schönen Dinge im Leben zu vermitteln. Die Modelleisenbahn im Maßstab 1:87 interessierte sie zwar nicht in technischer Hinsicht, aber für sie war klar:

Der Bub braucht schöne Häuser auf seiner Eisenbahn! Also bekam ich bei jeder Gelegenheit Modellbausätze von Bauten der Renaissance, des Barock, des Klassizismus und des Jugendstils geschenkt, die ich mit Hingabe zusammenbaute.

So bastelte ich mir Stück für Stück die deutsche Altstadtwelt von gestern zusammen, die im Bombenhagel des 2. Weltkriegs untergegangen war und die meine Mutter als 13-jähriges Mädchen Anfang 1945 im schlesischen Liegnitz zurücklassen musste.

Nie vergesse ich, wie wir einmal bei „Spielzeug Schäfer“ auf der Kaiserstraße im hessischen Friedberg die Modellbauabteilung betraten, in der mal wieder ein Haus für die Eisenbahn ausgesucht werden sollte. Ich war damals allenfalls 10 Jahre alt.

Der Verkäufer – so ein schlecht rasierter 68er-Typ – merkte rasch, dass meine Mutter klare konservative Vorstellungen hatte.

In einer Mischung aus Neugier und Geringschätzung fragte er lauernd: „Sind Sie Ästhet?“ – Meine Mutter ging auf die Unverschämtheit dieses Vogels mit keinem Wort ein. Wie immer in diesen Dingen waren wir beide uns rasch einig, was wir haben wollten.

Diese Geschichte mag vermitteln, warum mir die Ästhetik so wichtig ist. Sie zählt zu den ganz wenigen Dingen, die uns zumindest für eine Weile von den Banalitäten, Schrecknissen und Abgründen des Daseins abzulenken vermag.

Dass das nicht bloß aufgrund einer spezifischen Prägung in der Kindheit bei mir so ist, das beweisen mir regelmäßig die auf die rein ästhetische Wirkung angelegten Fotos von Automobilen, deren Äußeres wiederum ganz auf die ästhetische Wirkung angelegt war:

Horch „8“ Typ 350 Sedan-Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Warum sollte man sich als vermögende Berlinerin anno 1929 bei einem Aufenthalt im Schwarzwald in einer solchen Inszenierung mit Horch-Achtzylijnder ablichten lassen?

Weil die Ästhetik wichtig ist, zumindest solange das Dasein währt. Und damals gab es in vermögenden Kreisen in deutschen Landen nur ganz wenige Automobile, deren Ästhetik dermaßen beeindruckend war.

Wenn man sich bei den oberen zehntausend keinen der Ende der 1920er Jahre dominierenden US-Luxuswagen zulegen wollte, führte an der sächsischen Prestigemarke Horch kein Weg vorbei. Denn sie vereinten die 8-Zylinder-Motoren der amerikanischen Konkurrenz mit einer deutschen Interpretation des Stils von Cadillac & Co.

Bei allen Qualitäten hatte man bei Daimer-Benz diesen Trend verschlafen. So konnten die Sachsen mit den Horch-Achtzylindern den Großteil der Nachfrage in diesem Segment befriedigen und das mit Aufbauten, die auch die Ästheten zufriedenstellten:

Horch „8“ Typ 350 Pullman-Limousine; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Die satten 80 PS Leistung aus dem phänomenalen Reihenachtzylinder mit Ventilsteuerung über zwei obenliegende Nockenwellen nahm der Ästhet damals dankbar zur Kenntnis.

Entscheidend war für ihn ohnehin das damals (1928) modische Erscheinungsbild, das sich ganz eng am Cadillac orientierte, um es vorsichtig zu formulieren.

Sind Sie Ästhet„? – Wer damals als Verkäufer einem solventen Interessenten diese Frage stellte, der wusste (wenn er kein Kleingeist war): es muss mehr als nur ein großes und leistungsfähiges Auto sein. Es muss ein Horch „8“ sein – ein bis heute phänomenales Statement auf vier Rädern.

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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