Es leben die verstaubten Ansichten! Windhoff-Tourer

Was technischen Fortschritt angeht, kann es mir nicht progressiv genug zugehen: das Auto für jedermann, tragbare Multifunktions-Computer, robotergestützte Chirurgie, KI-basierte Bilanzanalysen, Nuklearreaktoren, die Atommüll verwerten können usw. – großartig.

Wem etwas von dem modernen Kram zuweit geht, der kann ja darauf verzichten. In meinem Haushalt kommen noch Analogschallplatten zum Einsatz, bisweilen sogar das Grammophon, es gibt Kerzenlicht und Edison-Lampen, praktisch alle Möbel sind antike Stücke. Der englische Schreibtisch, an dem ich diesen Blog schreibe, ist über 150 Jahre alt.

Für den Lebensunterhalt gearbeitet wird indessen mit Notebook, Funkmaus, drahtlos verbundenem Drucker, Spracherkennung und Übersetzungs-Software – weil’s besser ist.

Nur in einer einzigen Hinsicht hänge ich wirklich tief verwurzelten und fest fundamentierten verstaubten Ansichten an:

Um sich selbst finden und das Beste aus seinem Dasein machen zu können, müssen Elternhaus und Schule ihre Hausaufgaben gemacht haben. Das heißt Folgendes:

Die Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens müssen beherrscht werden, ein Grundrespekt vor seinen Mitmenschen muss verankert werden, also eine Basisausstattung an Höflichkeit und Rücksichtnahme die Notwendigkeit von Regeln muss begriffen werden, aber auch deren Grenzen, die Bedeutung von Ernährung und Bewegung für das eigene Wohlbefinden muss verstanden werden – und: ein Zugang zu Musik, Kunst und den Grundfragen des menschlichen Daseins muss geschaffen werden.

Diese Ansichten gelten heutzutage mittlerweile als ziemlich verstaubt, ich weiß. Daran lässt sich vom Einzelnen nichts mehr groß ändern, wenngleich sich mit einem freundlichen „Guten Morgen“ bei den meisten Mitmenschen immer noch eher ein Lächeln herbeizaubern lässt als bei einem ganztagstauglichen und seelenlosen „Hallo“….

Wie war doch gleich das Thema?

Verstaubte Ansichten, richtig, endlich komme ich dazu:

Windhoff Tourer von ca. 1913/14; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Gut 110 Jahre ist es her, als diese schon damals reichlich verstaubte Ansicht entstand, die einen Tourenwagen in voller Fahrt zeigt.

Auf das Foto nimmt der Fahrer Karl Bezug, der seiner Flamme, Cousine oder Schwester Klara – genau weiß ich es nicht – diese Aufnahme als Ansichtskarte zusandte.

Wie sie hieß, wo sie wohnte und was genau die Zeilen waren, das dürfen Sie – liebe Leser – gern selbst studieren. Ich kann zwar einen Großteil davon lesen, aber ein paar Sachen sind mir dann doch nicht klar und ich weiß, dass einige unter Ihnen geübter in der Hinsicht sind.

Also scheuen Sie sich nicht, im Kommentarbereich darüber zu sinnieren:

Mein Job ist es unterdessen, die Identität des Tourers auf der verstaubten Ansicht zu klären.

Das Fabrikat ist rasch ermittelt, denn nur ein deutscher Hersteller verband diese Form des Kühlers vor dem 1. Weltkrieg mit einem großzügig gehaltenen „W“ auf dem Kühlernetz.

Dieser Firma sind wir vor langer Zeit auf einem anderen Foto begegnet, das Anfang des 1. Weltkriegs an einem deutschen Bahnhof entstand und eine Reihe von Zivilautos zeigt, die wohl von Freiwilligen dem Roten Kreuz zur Verfügung gestellt wurden.

Ich hatte die bemerkenswerte Aufnahme anno 2019 hier vorgestellt:

diverse deutsche Automobile ab 1914; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wenn Sie dieses Dokument näher betrachten, werden Sie gleich zwei Wagen erkennen, welche dieselbe Kühlergestaltung aufweisen wie das Auto auf meiner verstaubten Ansicht.

An der Ansprache als Windhoff des gleichnamigen Herstellers aus Rheine in Westfalen besteht kein Zweifel.

Die Gestaltung der Frontpartie mit Windlauf zwischen Motorhaube und Frontscheibe verrät, dass wir es mit einem Wagen zwischen 1910 und 1914 zu tun haben, wobei ich zu einer Datierung nach 1912 neige.

Dummerweise hört an dieser Stelle unser Glück auch schon auf. Denn so klar sich die Windhoff-Vorderpartie hier auf der ansonsten ziemlich verstaubten Ansicht abzeichnet, so offen muss bleiben, mit welcher Motorisierung wir es zu tun haben.

Der Hersteller scheint es noch mehr als andere seiner Zeit verstanden zu haben, Chassis und Aufbau weitgehend zu vereinheitlichen und mit diversen Motoren anzubieten.

Verfügbar waren von 1912 bis 1914 im Wesentlichen drei Varianten: Das Basismodell war der Typ B 6/18 PS, darüber angesiedelt waren die Typen D 7/21 PS und F 8/24 PS, die sich durch Variationen von Kolbenhub oder Zylinderdurchmesser unterschieden.

Zu den für die damalige Zeit stärkeren Wagen zählte der Typ A 10/30 PS, für den eine faktische Spitzenleistung von 35 PS und Höchstgeschwindigkeit 90 km/h angegeben ist.

Noch besser gefällt mir als Freund souverän motorisierter Automobile aber, dass es daneben auch Windhoff-Wagen mit Sechszylindermotor gab – die Typen C 15/40 PS bzw. E 17/45 PS. Damit bot der Hersteller eine der wenigen am deutschen Markt verfügbaren Alternativen zum 6-Zylindermodell von Presto dar, das allerdings mit 65 PS nochmals deutlich stärker war.

Bemerkenswert ist, dass Windhoff laut Literatur nach Beginn des 1. Weltkriegs die Produktion von Personenwagen aufgab, während sich andere deutsche Hersteller wie Adler, Benz, Daimler, NAG Opel, Presto, Protos, Stoewer und Wanderer aufgrund des hohen Armeebedarfs eine goldene Nase im Krieg verdienten.

Über die Gründe für den Rückzug von Windhoff ist in der mir zugänglichen Literatur nichts zu erfahren.

Ich kann mir nur vorstellen, dass man bei Windhoff bereits vor dem Krieg verstaubte Ansichten pflegte, was die Gewinnerzielung für ein im Wettbewerb stehendes Unternehmen betrifft, dass man einer aufgrund der zu großen Motorenvielfalt nicht profitablen Fertigung den Stecker zog…

Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Es leben die verstaubten Ansichten! Windhoff-Tourer

  1. Klasse, danke! Genau diese Details zu den Umständen waren mir entgangen bzw. nicht zugänglich, jetzt weiß ich es besser. Ich nehme noch ein paar Anpassungen vor. Gruß, Michael

  2. Hallo Michael,
    wieder ein schöner Beitrag zu einer der kleinen aber feinen deutschen Marken, die vom Staub der Geschichte eingenebelt worden sind.
    Bei der Datierung bin ich eher vor 1914, da weder das Nummernschild (Westfalen) noch die Uniform (zivil) auf 1914-18 hindeuten. Außerdem wurde die Karte an Frl. Klara Zint per Adr. Herrn Wurzer am Kirchplatz 2 in Bottrop weder als Soldaten- noch als Feldpostbrief versendet, woraufhin nicht nur die entsprechend fehlenden Vermerke hindeuten, sondern auch die Frankatur. Soldatenbriefe wurden frei befördert. Zudem gibt der Text Hinweise: Karl Lammert, angestellt bei der Soester Auto-Verkehr, präsentiert sich und das Auto mit einer „Photographie…von meinem Wagen in voller Fahrt“. Er bittet sie sich bei ihm mal wieder zu melden….ein Wunsch der nicht so bald in Erfüllung gehen sollte. Die Karte wurde retourniert, die Adressatin war bereits wieder unbekannt unterwegs. Entweder war sie zuvor bei Herrn Wurzer zu Besuch oder eine ehemalige Angestellte.
    KD

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